Summa summarum: authentischer Landgasthof mit eigener Landwirtschaft und Brennerei am Rande der Fränkischen Schweiz, unaufgeregt, historisch gewachsen, kein architektonisches Juwel, nicht künstlich aus der Retorte von Designern aufgehübscht, sondern mit Tradition und Herzblut gestaltet, gemütliche, sehr gepflegte, funktionale Zimmer, urige Gaststube, hübscher Gastgarten, relativ kleine Speisekarte, die meisten Rohstoffe selbst produziert oder lokal eingekauft, Nose to Tail aus Tradition, keine Convenience, alles frisch zubereitete, robuste, gut gemachte gutbürgerliche Gerichte ohne Kniefall vor dem Zeitgeist (mit Ausnahme eine Burgers), ohne kulinarische Höhenflüge, alles grundehrlich und solide, flotte, freundliche Bedienungen, familiäre, lockere Atmosphäre, viele Stammgäste, spektakuläres Frühstück, gutes Hausbier, tolle Schnäpse
Während ich vor dem Gasthof parke und das Dach schließe, trägt eine dicke Küchenhilfe aus dem Keller eines seitlichen Wirtschaftsgebäudes zwei Eimer mit Lauchstangen, krummen Salatgurken, Salatköpfen – alles offensichtlich nicht EU-Standard-konforme Waren, alles offensichtlich nicht aus der Metro, sondern von heimischen Gemüsebauern – über den Hof Richtung Küche. Das fängt gut an. Ich bin in dem Dörfchen Drosendorf am Rande der Sächsischen Schweiz, wo die Landschaft noch agrarisch-pragmatisch-unaufgeregt ist und noch nicht touristisch-idyllisch-spektakulär. Auch die Preise sind hier noch unaufgeregt und noch nicht spektakulär. Und auch Drosendorf ist unaufgeregt, nicht spektakulär, sondern bodenständig, weder herausgeputzt noch heruntergekommen, ein durch und durch funktionales, gepflegtes, historisches gewachsenes Dorf halt. Heinz Rühmann in seiner Rolle als Pater Brown hätte angesichts Drosendorfs gewiss mal wieder gesagt: „Hübsch hässlich habt Ihr’s hier.“
Der hiesige Dorfwirt, der Landgasthof Zehner, passt perfekt in dieses Tableau. Links das schmucklose Wohnhaus der Wirtsfamilie, darum herum etliche Wirtschaftsgebäude und -schuppen, weiter hinten der Bauernhof, der zum Wirtshaus gehört, rechts der eigentliche Gasthof, zweistöckig, schlicht, unprätentiös, kein altehrwürdiges Baudenkmal, vielmehr aus dem letzten Jahrhunderts schätze ich, sehr gut in Schuss, einige Anbauten, dazwischen ein Hof mit Betonpflastersteinen und einem Gastgarten, im Haus vis-à-vis der Straße ein Trabi-Verleih mit ziemlich martialisch anmutenden, zu Cabrios umgebauten Trabants vor der Türe. So weit, so unromantisch, wären da nicht die beiden großen alten Linden und die liebevoll bepflanzten, bunt blühenden Blumenbeete. Man spürt, da steckt Herzblut drinnen. Die Gaststube ist niedrig-gedrungen, noch nicht düster, aber alles andere als lichtdurchflutet, Sprossenfenster, dünne Scheibengardinen, Steinfußboden, Holzdecke, Wände dreiviertelhoch mit Holz vertäfelt, robuste Wirtshausmöbel, keine Tischwäsche, ein paar alte Bilder an den Wänden, „urig“ oder „zünftig“ würde der Bayer das nennen, in der Mitte des Raumes ein Tisch mit Flaschen der hauseigenen Spirituosen und Biere, der Schanktresen dient zugleich als Rezeptions-Counter, angrenzend ein ähnlich gestalteter Nebenraum, zugleich der Frühstücksraum, und weiter hinten ein ziemlich hässlicher Wintergarten. Im Gang dorthin hängt hinter Glas eine kunstvoll gestaltete Ehrentafel der Weltkriegs-Teilnehmer des Dorfes, unterteilt nach „Gefallen“, „Im Felde“ und „In Garnison“, erstere zum Glück deutlich in der Unterzahl, aber immer noch schmerzlich viele.
Mein Zimmer im ersten Stock ist angenehm, frisch renoviert, sehr sauber, Holzfußböden, keine versifften Teppichböden, wohnliche, passgenaue Schreinermöbel, gute Matratzen, gute Handtücher, hinlängliche Bettwäsche, Flachbildfernseher, in einem kleinen Nebengelass eine Couch und ein kleiner Schreibtisch, kleines, aber ausreichendes, blitz-blankes Bad mit Dusche, mein Zimmer ist eines der wenigen des Hauses mit Balkon, auch hier alles top-sauber, keine Spinnwebe, vielleicht ein paar frische Geranienblätter von den wuchernden Blumenkästen an der Balustrade, zeihlich. Auf dem Bett statt des oft gutgemeinten, und doch lieblos hingeworfenen Beutelchens Gummibärchen oder Schokis als Willkommens- / Gute-Nacht-Gruß ein winzig kleines Schildchen mit dem vorgedruckten Text „Ich habe dieses Zimmer sorgfältig für Sie gereinigt und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt“, darunter in krackliger Handschrift „Natalie Lehmann“. Man kennt das aus der Fünf-Sterne-Hotellerie: ab einer gewissen Zimmerkategorie erwarten einen auf dem Zimmer ein Obstkorb, zuweilen auch Blumen und Konfekt auf einem Silbertablett, dazu ein „persönlicher“ Serien-Brief des Generaldirektors des Hotels, „Sehr geehrter Herr / sehr geehrte Frau (Namen einfügen), wir freuen uns, Sie wieder in unserem Haus begrüßen zu dürfen … Rhabarber-Rhabarber-Rhabarber … Hochachtungsvoll“, zuweilen tatsächlich noch von Hand unterschrieben, meist nur mit eingedruckter Signatur. Liebe Natalie Lehmann, Ihr Schildchen hat mir weitaus mehr gefallen und das Gefühl von Willkommensein vermittelt.
Am späten Nachmittag gehe ich runter in den Gastgarten, gut die Hälfte der Tische sind bereits reserviert, der Juniorchef putzt persönlich die Tische und Stühle mit einem feuchten Tuch ab. Es ist lauschig hier unter der Linde, bei allem Pragmatismus dieses Gebäudeensembles ist es doch gemütlich, wahrscheinlich weil es einfach echt ist. Die Speisekarte ist relativ überschaubar: eine Rindfleischsuppe, Knoblauchbrot als Vorspeise, drei Salate, Krustenbraten oder Roulade mit Kloß, drei Schnitzel-Variationen, Fränkische Bratwürste, Hausgemachte Sülze, der altbekannte Zander, ein verfluchter Zehner Burger, was für die Essgestörten, drei Brotzeiten, eine sehr Eis-lastige Dessertkarte, aber immerhin ein hausgemachter Rumtopf; jeden Mittwoch gibt es zusätzlich frische Gambas und am Sonntag Braten. Die Spargel-Saison-Karte ist leider gerade ausgelaufen. Und das war’s auch schon, aber große Speisekarten sind ja selten gut. „Nose to Tail“ ist ja heute auch so’n gastronomisches Buzz-Word geworden, im Landgasthof Zehner liest sich das so: „Unsere Schweine werden noch von Hand aufgezogen und wachsen langsam in unserem Strohstall heran. Aus Respekt vor den Tieren sind wir bemüht alles vom Tier zu verarbeiten und nichts wegzuwerfen. So haben wir es von den Eltern und Großeltern gelernt. Dabei entstehen unsere Braten, Schinken, Würste.“ Dem glaube ich, diesem ganzen Nose-to-Tail-Hype nicht. Fast alle Rohstoffe, die hier verkocht werden, werden selbst auf dem eigenen Bauernhof erzeugt oder lokal zugekauft, mit Ausnahme der Gambas vielleicht.
Ich lese in der Abendsonne die Zeitung und trinke dazu bernsteinfarbenes, süffiges Zehner Bier mit deutlicher Malznote und für meinen Geschmack etwas zu wenig Kohlensäure. Auch wieder so’ne Geschichte: bei Renovierungsarbeiten fanden die Zehners alte Unterlagen versteckt unter einem Holzboden, wohl früher einmal in Kriegszeiten von einem Ahn in Sicherheit gebracht und dann vergessen oder der Ahn verstorben; und in diesen Unterlagen war u.a. – guess what – ein Bier-Rezept, das die Zehners mit dem Braumeister ihres eigenen Bierlieferanten, dem Sankt Georgen Bräu aus dem nahen Buttenheim (das Buttenheim, aus dem 1847 ein armer Jude namens Löb Strauss nach Amerika auswanderte, um dort als Lewi Strauss mit Hosen reich zu werden) nachbrauten, das Ergebnis wurde für nicht gut befunden, also wurde getan und gemacht, gesonnen und ausprobiert bis das Ergebnis konvenierte, und das ist heute das Zehner Bier, das nach wie vor exklusiv für die Zehners in Buttenheim gebraut wird. Langsam füllen sich die Tische, einheimische Paare und Familien, außerdem viele Hausgäste, wie ich aus den Unterhaltungen heraushören kann, keine Zufalls-Touristen, auch keine Top-Manager und keine Monteure (wobei ich alle Hochachtung vor dem Berufsstand der Letzteren habe, was ich von den Ersteren nicht unbedingt sagen kann), sondern irgendwas dazwischen, Vertreter, SAP-Berater, Vermessungsingenieure verorte ich aus den Gesprächen. Viele scheinen Stammgäste zu sein (Stammgäste sind immer ein gutes Zeichen, die kämen nicht wieder, wenn’s nicht gut wäre), die Bedienungen und selbst die Küchenhilfen kennen sie mit Namen und plaudern an den Tischen mit ihnen. Die Atmosphäre ist entspannt, hier hat jeder Zeit. Der Senior-Chef mit grauem Bart dreht selbstzufrieden seine Runde, um nach dem Rechten zu sehen und seine Honneurs an den Tischen zu machen, die SAP-Berater reden über die guten alten Commodore-Zeiten, ein junges Mädel, offensichtlich eine Servicekraft, kommt abgehetzt und anscheinend verspätet in den Gastgarten, entschuldigt sich tausendmal beim Juniorchef, dieser lacht nur und beschwichtigt sie, ein altes Ehepaar liest händchenhaltend die Speisekarte.
Als Vorspeise esse ich den Zieberlaskäs von der Vesperkarte, noch nie gehört. Zur Herstellung von Zieberlaskäs, auch Ziebeleskäse genannt, nimmt man frische Vollmilch, lässt den Rahm absetzen, schöpft in ab und stellt ihn kalt, die restliche Magermilch erhitzt man sacht und lässt sie dann über einige Tage gerinnen; aus der geronnenen bzw. gestockten Milch lässt man durch ein Leinentuch die Molke herauslaufen (und verfüttert diese an die Schweinchen), rührt die Masse cremig-glatt, gibt die Sahne wieder zu, würzt mit Salz und nach Geschmack mit frischen Kräutern und fertig ist der Zieberlaskäs. Jetzt mag der geneigte Leser mit der Schulter zucken und sagen „Sahnequark halt“, aber weit gefehlt. Zieberlaskäs ist viel cremiger, etwas weicher, geschmacksintensiver, außerdem enthält er kleine feste Kügelchen, ähnlich wie beim Frischkäse. Analoge Rezepturen finden sich besonders in Baden und im Elsass, dort heißen sie Bibeleskäs, weißer Käs oder Luggeleskäs. Heute wird dazu in der Gastronomie meist fertiger Quark mit Kräutern verrührt, aber das hat von Geschmack und Konsistenz her nur wenig zu tun mit dem Zieberlakäs vom Zehner, hier wird er ohne Kräuter, stattdessen mit fein gehackten Zwiebeln serviert, dazu eine Scheibe hervorragendes Roggen-Landbrot, und ich bin glücklich. Auftakt gelungen. Auch die Rindfleischsuppe ist tadellos, kräftig, dicke Fettaugen, penibel filetierte Fleischwürfelchen, selbst gemachte Pfannkuchenstreifen: passt. Die Fränkische Bratwurst (die die Zehners nach ihrem eigenen Rezept bei einem örtlichen Metzger herstellen lassen) ist perfekt von der Konsistenz und Körnung, für meinen Geschmack allerdings unterwürzt, Majoran und Pfeffer fehlen, das Sauerkraut dazu frisch gekocht, knackig, mir allerdings deutlich zu süßlich, aber mit einer weiteren Scheibe Roggenbrot und viel Senf wieder lecker. Beim Hauptgericht schwanke ich zwischen dem ofenfrischen Krustenbraten mit fränkischem Sauerkraut und Kartoffelklößen und dem Schnitzel Wiener Art mit Bratkartoffeln. Schnitzel ist die Nagelprobe für jedes gutbürgerliche deutsche Gasthaus, also nehme ich das Schnitzel. Das ist dann ziemlich, ziemlich groß, aus der Keule, nicht aus dem Rücken geschnitten, selten so gutes Schnitzelfleisch gegessen, zart, saftig, geschmackvoll, ein Super-Fleisch. Leider ist die Panade teutonisch dick und nicht souffliert, aber in der Pfanne gebacken, nicht in die Fritteuse geworfen. Die Bratkartoffeln sind — nun ja, so, wie halt die Süddeutschen Bratkartoffeln machen und können, bestehend aus selbst gekochten, gepellten und geschnippelten Kartoffeln (ein verdammter Arbeitsaufwand und Kostenfaktor, daher nehmen viele Wirte heute lieber die vorkonfektionierten, vakuumierten Convenience-Kartoffelscheiben aus der Metro), in eine Pfanne mit Fett geworfen und irgendwie gebräunt; wer einmal Bratkartoffeln im Restaurant Butt in Jever gegessen hat, wird zwangsweise alle anderen Bratkartoffeln danach schlechter finden. Der gemischte Salat zum Schnitzel ist dann wieder an Frische, Knackigkeit, Dressing kaum zu übertreffen. Auch das heiße Apfelkräpfla zu Nachtisch überzeugt. Meistens – durchaus auch in der besseren Gastro – werden hier vorkonfektionierte tiefgefrorene Apfelscheiben in Backteig kurz in die Fritteuse geworfen und noch hübsch angerichtet, was dabei herauskommt sind heiße Kringel mit Apfelmatsch innendrinnen. Nicht so beim Zehner, hier nehmen sie tatsächlich eine dicke, frische Apfelscheibe, ziehen sie durch Backteig, backen sie aus und wälzen sie in Zimtzucker: ein himmelweiter Unterschied und super-lecker. Da ist die Kugel Industrie-Vanille-Eis dazu zeihlich.
Nach dem Dessert mache ich mich noch mit den hauseigenen Destillaten bekannt, die meisten aus hiesigem Streuobst. Der Obstler überzeugt, mit seinen 40% ist er vollmundig, schmeichlerisch, sanft im Abgang. Sein „großer Bruder“ mit 52% ist mir dann doch etwas zu heftig und kratzig. Ganz hervorragend sind der im Kirschfass gereifte der Kirschbrand und das Destillat aus spät reifenden Molebuschbirnen. Ach, und dann ist da natürlich noch Emma, aber von der habe ich hier ja schon geschwärmt.
Das Frühstück am nächsten Morgen ist eine Show. Das Frühstücksbuffet ist übersichtlich und doch komplett und üppig. Als allererstes: Backwaren vom hiesigen Bäcker, keine verfluchten Backlinge (Backlinge beim Frühstück machen mich sofort sauer, immer). Hervorragender, frisch aufgeschnittener Schinken, selbst gemachte Wurstwaren, beachtliche lokale Käseauswahl, selbst gemachte Marmeladen, lokaler Imker-Honig, liebevoll angerichtete Näpfchen mit Lachs, Fleischsalat, Birchermüsli, Tomate-Mozzarella usw., frisch aufgeschnittenes Obst, Cerealien, Säfte, Kuchen, dazu gute Kaffees, … alles, was das Herz begehrt. Ich frage mich, wie man solch einen Aufwand für so relativ wenige Hausgäste betreiben kann. Das Frühstücksbuffet sei das Hobby seiner Mutter, erklärt mir der Junior-Chef, zunehmend kämen auch externe Gäste zum Frühstücken. Gegen Neun trudelt dann der örtliche Kirchenvorstand zum Frühstücken ein. So geht Dorf. Und so geht Dorfgasthof.
Landgasthof Zehner
Hiltrud Zehner
Feuersteinstraße 55
D – 91330 Eggolsheim OT Drosendorf
Tel.: +49 (95 45) 95 02 64
Fax: +49 (95 45) 95 02 65
E-Mail: info@landgasthof-zehner.de
Online: www.landgasthof-zehner.de
Hauptgerichte von 9,50 € (Sülze mit Bratkartoffeln) bis 16,80 € (Rindsroulade, Blaukraut, Kartoffelkloß), Drei-Gänge-Menue von 18,10 € bis 30,80 €
DZ Ü/F ab 99 € (pro Zimmer, pro Nacht)