Summa summarum: echter Dorfgasthof, seit sechs Generationen im Familienbesitz, irgendwo zwischen historisch gewachsener Authentizität und Renovierungstau, wohnliche, einfache, hinreichende Zimmer mit unbestreitbaren Mängeln, familiäres, ungezwungenes Ambiente, vorwiegend einheimische Gäste, keine Touristen-Abzocke, sehr gutes Frühstück, sehr freundliches Personal, aber davon derzeit viel zu wenig, ziemlich grottige Allerwelts-Küche mit riesiger, konzeptloser Speisekarte, wenig regionalen Gerichten, viel Convenience und durchweg schlechter Küchenleistung.
Ich bin über Land, auf keinen Kreis- und Landsträßchen, weitab von allen Autobahnen und Bundesstraßen, durch das Nördlinger Ries, vorbei an der Schwäbischen Alb, durch Hohenlohe in den Odenwald gefahren, Spätsommer, herrliches Wetter, überall werden die Felder abgeerntet, der Boden in tausend satten Ocker-Tönen, gleißende Sonne, Trekker mit schwer beladenen Anhängern, kleine Dörfchen und Städte, die in keinem Reisführer stehen, mal romantisch, mal ursprünglich-unverfälscht, mal pragmatisch-funktional, mal hübsch, mal hässlich, zuweilen auch potten-hässlich. Eines ist sehr vielen dieser Orte gemeinsam: das Dorfgasthaus, ehemals zentraler Treffpunkt, Ort der Kommunikation, der Gemeinschaft, der gemeinsamen Feiern – Geburt und Beerdigung und alles, was dazwischen liegt –, der Zusammenkunft, ist verwaist, geschlossen, viele schon seit Jahren, bei manchen sieht man noch, dass ihnen die Seuche – oder waren es nur ihre vermeintlichen Bekämpfer? – erst vor kurzer Zeit endgültig das Genick gebrochen hat. Mit den Dorfgasthäusern verschwindet auch die traditionelle regionale Küche, zuweilen gibt es noch einen schmuddeligen Schabefleischbrater, einen versifften Pizza-Lieferdienst oder einen zeitgeistigen Convenience-Aufwärmer mit irgendeiner hippen Phantasie-Einrichtung. Es ist ein Trauerspiel.
Doch nicht so in Zell, einem kleinen Örtchen im Odenwald, das heute zu Bad König gehört, hier gibt es das Dorfgasthaus noch, die Krone, seit 1789, damit eines der ältesten Gasthäuser im Odenwald, nunmehr seit sechs Generationen im Besitz der Familie Klein. Die Krone ist alt, wirklich alt, obwohl das Gebäude in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts abgerissen und komplett neu gebaut und seitdem ständig umgebaut, erweitert, renoviert wurde. „Alt“ ist hier ein zweischneidiges Schwert: zum einen echte Patina, knarzende Holzdielen, verwinkelte Gänge, knackende Treppen, Echtholz-Verschalungen, einzelne historische Möbelstücke; zum anderen speckige Linoleum-Fußböden, nachträglich eingebaute, kleine Bäder, ein beängstigend ächzender Lift (aber immerhin ein Lift!), aus der Zeit gefallene Glasbausteine, hier und da nur schwerlich übersehbarer Renovierungsstau. Nun ja, man kann nicht alles haben, Authentizität und State of the Art gleichzeitig. Die Krone liegt mitten im Dorf an der Kreuzung von Hauptstraße und Stadtbach, links vom Haus ein ziemlich rustikaler Biergarten unter Bäumen, kaum eine Tischgarnitur passt zur anderen, drei handelsübliche Fertig-Garagen mit primitiven Holzvorbauten als Schank- und Spül-Gelasse, dazu ein wildes, zugewachsenes Gärtchen mit einer Freiluft-Modell-Eisenbahn in 45 mm Normalspurweite (allerdings ohne fahrende Züge), zwei plätschernde Brünnlein, Kinderspielgerät und ein paar eingepferchte Schau-Tiere, im Hochparterre des Hauses selber Schanktresen und Küche, ein kleiner Saal mit Bühne, drei Gasträume mit schlichter siebziger, achtziger Jahre Einrichtung, zurückhaltende Dorf-Deko, keine modernistischen Design-Exzesse, alles atmet gewachsene, unprätentiöse Tradition, im ersten und im Dachgeschoss die Gästezimmer. So weit, so gut.
Der Check-In am Schanktresen bei der Senior-Chefin ist freundlich, persönlich, schnell, problemlos. Hier auf dem Lande will man weder einen Ausweis sehen noch eine Kreditkarte als Sicherheit. Mein Einzelzimmer Komfort ist klein, vielleicht 20 qm, aber hinlänglich, sauber, Holzfußboden, Hotel-Systemmöbel mit ein paar offenen, alten Balken als Gestaltungselemente, 90 cm Bett, akzeptable Bettwäsche, Schreibtisch mit gleich drei zugänglichen Steckdosen, kleiner Flachbildfernseher, kleines, aber funktionales, nachträglich eingebautes Bad ohne Fenster, nach vorne eine große, bodentiefe Fensterfront, die eine Art Mini-Wintergarten bildet, darin ein von der Decke hängendes Sitzei aus Flechtwerk, fast schon einladend-gemütlich. In dem Zimmer ist es im Hochsommer durch die große Fensterfront gen Süden brechend heiß, also reißt man die Fenster auf. Dann aber dringen aus der darunter liegenden Küche mehr als unangenehme Essensgerüche in das Zimmer, dazu bis sehr spät in den Abend das Schlagen von Töpfen, das Klappern von Geschirr und die fröhlichen, doch lautstarken Gespräche und Rufe der Küchen-Crew. Die Zimmer zum Norden haben teils Balkon, liegen aber über dem gut besuchten Biergarten. Und die Zimmer nach Westen grenzen an die Hauptstraße, aber da ist ohnehin nur wenig Verkehr. Ob es Zimmer zur Ostseite gibt, weiß ich nicht. Das Zimmer selber passt schon, mit 54 EURO pro Nacht inklusive Frühstück fair bepreist, wären da nicht die Umgebungsfaktoren von Hitze, Gestank und Krach.
Aber da ist ja dieser lauschige Biergarten neben dem Haus, der gewiss für alles entschädigt. Ein wenig chaotisch, aber unkonventionell, individuell. Ich bin zu früh eingetroffen, es ist noch kein Personal da. Aber es gibt zwei große, unverschlossene Kühlschränke mit verschiedenen Bieren und Limonaden, aus denen kann man sich selber bedienen, das Geld für die Getränke soll man in eine an die Wand genagelte, primitive Geldkassette werfen: auf dem Lande gibt es noch Vertrauen. Ich habe mich gerade mit meinem selbstbedienten Bier an einen schattigen Platz unter einem alten Baum gesetzt, da finde ich einen Zettel, der mich belehrt, dass Bedienung am Platz derzeit und bis auf weiteres aufgrund von akuter Personalknappheit nicht möglich sei; Getränke möge man bitte an der Theke vor der Garage ordern, zahlen und mitnehmen, Essensbestellungen möge man dort ebenfalls aufgeben, die Speisen würden dann an den Tisch gebracht. Als ich mit meinem ersten Bier – ich nenne es immer Zisch-Bier, das das Blut und Gemüt nach einer langen Fahrt wieder auf Normal-Temperatur bringt – fertig bin, sperrt ein junges, freundliches, flinkes Mädel die Schank-Garage auf, schaltet die Gerätschaften ein, bringt mir fröhlich die Speisekarte und macht sich an ihre Vorbereitungen für den Abend. Die Speisekarte, ach ja, die Speisekarte. Zuerst mal gibt es eine übersichtliche Tageskarte mit zwei Suppen, zwei Nudelgerichten, einem Braten, einem Gesottenen, zweimal Kurzgebratenem und allerlei Eis-lastigen Desserts. Das klingt nicht spektakulär, auch nicht sonderlich regional-traditionell-anspruchsvoll, aber in Zeiten des gastronomischen Personalnotstandes machbar und vertrauenserweckend. Und dann gibt es da die Standardkarte, unbeschreiblich. Ich zähle fast 60 Gerichte, diverse Suppen, Vorspeisen, Vespern, Salate, vegetarisches und Burger-Zeugs, Kurzgebratenes, Kindergerichte, Desserts; von Markklößchensuppe, Odenwälder Tappas, Currywurst, hausgemachtem Kochkäse oder hausgemachter Wurstplatte über Salate mit diversen Beilagen, Essgestörten-Futter wie hausgemachte Süßkartoffelgnocchi, eichlich Kurzgebratenes vom Rind, Schwein und Huhn, wie Kochkäse- oder Schinderhannes (der regionale Robin Hood) -Schnitzel bis hin zu Desserts, vorwiegend Eis. Das Wort „hausgemacht“ lese ich oft, das Wort „selbstgemacht“ hingegen nie. „Karotten-Ingwer-Süppchen“ und „Warmes Schokoküchlein mit flüssigem Kern“ habe ich vor der Krone auf den vielleicht 100 Speisekarten, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, gefunden; natürlich war ich nicht überall dort essen, man informiert sich halt vorher, bevor man so eine delikate und wichtige Entscheidung wie über einen Restaurantbesuch oder eine Eheschließung trifft, aber wenn ich vorab „Karotten-Ingwer-Süppchen“ und „Warmes Schokoküchlein mit flüssigem Kern“ auf der Speisekarte lese, so gehe ich dorthin in der Regel nicht essen, und eine Weibsperson, die selbiges offeriert, würde ich ohne triftige sonstige Gründe auch nicht ehelichen. „Karotten-Ingwer-Süppchen“ und „Warmes Schokoküchlein mit flüssigem Kern“ müssen seit geraumer Zeit im Gastro-Großhandel im Sonderangebot sein. Aber, sehr positiv: wir bestellen ja alle unsere Speisen am Schanktresen vor den Garagen; die Dame vor mir fragt nach zwei Rühreiern mit Tomaten, die natürlich nicht auf der Speisekarte stehen, für die 95jährige Schwiegermutter, „Sie möchte das halt haben,“ sagt sie fast entschuldigend. „Kein Problem“, entgegnet die fröhliche Schankkellnerin, „machen wir Ihnen.“ Sowas ist schön und liebenswert.
Allora, das Essen selber: Vorspeise und Suppe kommen zusammen, die Suppe wird nochmals mitgenommen, kommt dann 15 Minuten später erneut, aber weitgehend kalt an den Tisch. Das Bonbon von Momarter Bio-Ziegenkäse auf Pfannengemüse mit Pesto und Spinat ist ein Stücklein Ziegenfrischkäse in Filoteig eingewickelt und frittiert, dazu gebratene Gemüsescheiben (immerhin kein Convenience), etwas Salat, eine optisch nett anzuschauende, ansonsten sinnbefreite Möhrencreme, Preiselbeeren aus dem Glas, vom Pesto keine Spur, nicht zu tadeln, nicht zu loben, schlichtweg belanglos. Das Pfifferlingsschaumsüppchen mit Brauner-Butter-Schaum eine fette, Sahne-schwangere, Mehl-Pamp-angedickte, ansonsten gänzlich geschmacklose Suppenzubereitung mit großen, schlecht geputzten, wabbligen Pfifferlingen darinnen, darüber kein Brauner-Butter-Schaum, sondern einfach fettige Haselnussbutter zur nochmaligen Steigerung des Fettgehalts, aber immerhin – wie originell! – im kleinen Trinkglas serviert. Das Schnitzel Jäger-Art kommt statt mit den bestellten Bratkartoffeln mit Pommes, kein Problem, die Pommes werden zurückgenommen. Keine zwei Minuten später stehen die „Bratkartoffeln“ auf dem Tisch, offensichtlich warmgehalten, da niemand in zwei Minuten frische Bratkartoffeln machen kann, und so schmecken sie auch. Die Schnitzelchen aus dem Rücken furztrocken, klebrige Panade, die Jägersoße besteht aus Curry-schwangerer Sahne mit tatsächlich frischen, aber wabbligen Champignons. Den Salat dazu soll man sich selber vom „Salatbuffet“ im Haus holen, das entpuppt sich als Kühlwägelchen mit grob geschnippelten, geschmacklosen Tomaten, Gurken, Eisbergsalat aus dem Treibhaus, reichlich eingelegten Sauerkonserven-Salaten aus dem großen Eimer und diversen Konservierungsstoff-schwangeren Fertigsaucen, ebenfalls aus dem großen Eimer. Nachdem ich kein „Warmes Schokoküchlein mit flüssigem Kern“ zum Dessert mag, nehme ich ein Vanilleeis mit heißen Himbeeren: übelstes industrielles Eis, das nicht nach Vanille, noch nicht einmal nach Vanillin, sondern einfach nur süß schmeckt, dazu zermatsche, kurz erhitzte TK-Himbeeren und ein paar unreife Ananas-Schnitze als Garnitur: ein würdiger Abschluss dieses frugalen Mahles.
Dabei ist das Publikum durchaus gut gemischt, vielleicht ein Viertel Touristen, drei Viertel Einheimische, sowas ist eigentlich immer ein gutes Zeichen: Touristen, die ohnehin selten nochmal wiederkommen, kann man leicht mit irgendeinem Dreck abspeisen, Einheimische hingegen müssen zu Stammgästen werden, und das werden sie nicht, wenn ihnen das Futter nicht nachhaltig schmeckt. Am Nachbartisch hat sich die Senior-Chefin nach dem Essen zu einer Familie an den Tisch gesetzt, um gemeinsam eine Familienfeier in der Krone zu planen: man einigt sich auf Rindssuppe oder Salat zur Vorspeise, danach Braten, Schnitzel oder vegetarische Nudeln, Eis zum Dessert, ein Gläschen Sekt zur Begrüßung (die Chefin schlägt Kir oder Aperol Spritz vor, um mal was anderes zu machen, aber das ist der Familie suspekt), danach Säfte, Bier, wohlfeiler Rot- oder Weißwein, nein, nicht aus Churfranken – also „von hier“ –, sondern irgendwas Preiswertes aus Italien oder so, am Nachmittag Kaffee, Kuchen bringt die Familie selber mit, und für die Männer eine Flasche Schnaps, für die Frauen eine Flasche Likör, aber nicht mehr, wenn die alle sind, ist halt Schluss. So gehen Familienfeiern auf dem Dorfe. Da fragt sich der griesgrämige reisende Esser, was ist hier falsch? Bin ich es oder sind es alle anderen?
Das Frühstück, dies sei noch erwähnt, ist sehr ordentlich: Bäckersemmeln vom heimischen Bäcker, sehr gutes Brot, große, formidable und leckere heimische Wurst- und Käseauswahl, selbstgemachte Marmeladen (nur leider zu süß) und Obstsäfte von den eigenen Streuobstwiesen, Eierspeisen à la minute, dazu offene Butter, große Nutella- und Honig-Gläser, tatsächlich minimaler Verpackungsmüll, das ist schön.
Gasthof zur Krone Klein u. Sohn GbR
Königer Straße 1
64732 Bad König – Zell
Vertreten durch: Georg Jochen Klein, Georg Jürgen Klein, Hannelore Klein
Tel.: +49 (60 63) 18 13
Fax: +49 (60 63) 36 55
E-Mail: info@krone-klein.de
Online: www.krone-klein.de
Hauptgerichte von 11,90 € (Äbbelwoi Hinkelsche*, Kroketten, Salat) bis 23,70 € (Rinderfilet auf Gemüse mit Café de Paris Butter und Thymiankartoffeln), Drei-Gänge-Menue von 18,70 € bis 41,10 €
Doppelzimmer (Ü/F) ca. 84 € bis 93 € (pro Zimmer, pro Nacht); außerdem kann man einen original Zirkuswagen neben dem Biergarten für ca. 79 € pro Nacht mieten
* Äbbelwoi Hinkelsche sind wohl die hessische Antwort auf Coq au vin: Hähnchenstücke – die einen sagen Schenkel, die anderen Brüste – in Apfelwein geschmort.