Ich bin mit Caro nach Sachsen gefahren, sie bildet sich eine neue Uhr aus Glashütte ein, weiß aber noch nicht, ob es eine Glashütte Original, eine Nomos, eine Nautische Instrumente, eine Union oder eine Lange werden soll, nur Wempe, Tutima oder Bruno Söhnle kommen für sie nicht in Frage. „Wer ko, der ko, sagt der Bayer.“ Und Caro ko. Also fahren wir nach Glashütte, um Madame was Hübsches für’s Handgelenk zu suchen – solange ich nicht zahlen muss, sondern nur beratend zur Seite stehen brauche. Sie hatte sowieso in Stuttgart zu tun, danach hat sie mich aufgepickt und wir zuerst mal bis nach Dresden gefahren. Wir wohnen wie immer im Bülow Palais, irgendwie ist es angenehm, beim Einchecken mit „Schön, dass sie wieder mal bei uns sind, Herr Doktor, ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise.“ begrüßt zu werden. Natürlich hat die Dame hinter dem Counter keinen blassen Schimmer, wer ich bin, aber die Gäste-Datenbank funktioniert einwandfrei. Den Abend verbringen wir im Hotel. Das ehemalige hauseigene Sternerestaurant Caroussel unter Benjamin Biedlingmaier wurde – wohl unter dem Druck der Lockdown-Maßnahmen – mit dem Bülow Bistro fusioniert; herausgekommen ist dabei etwas, was ich sehr mag, sozusagen ein hybrides Restaurantkonzept, bei dem gutbürgerliche Hausmannskost gleichberechtigt neben exklusivem Nobelfresschen auf der Karte stehen, man muss sich im Vorfeld nicht auf ein Restaurant- und Preislevel festlegen, man kann vor Ort entscheiden, ob einem mehr nach Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat oder nach Velouté vom kalt geräucherten Aal mit Lorbeer, Apfel und Balsamico ist. Küchenchef ist Sven Vogel, vormals Sous Chef unter Benjamin Biedlingmaier.
Am nächsten Tag kommen wir angesichts des wirklich fulminanten, exzeptionellen Frühstücks erst relativ spät los. Wir fahren über Heidenau, vorbei an Schloss Weesenstein das wild-romantische Müglitztal die knappe Stunde hoch nach Glashütte, städtebaulich gewiss kein Kleinod, und doch der Hotspot der deutschen Uhrenindustrie, gleich acht renommierte Uhrenmanufakturen drängen sich hier dicht an dicht. Aber wir sind ja nicht zum sight seeing hier. Caro schleift mich durch eine Uhrenmanufaktur nach der nächsten, zum Glück kommen drei erst gar nicht infrage. Wer meint, Schuhe kaufen gehen mit Frauen sei schlimm, der sollte mit Caro mal Uhren kaufen gehen. Eine zentrale Verkaufsstelle für alle Marken gibt es nicht, nur ein gemeinsames Uhrenmuseum, aber dort werden nur Kitsch-Touri-Uhren von sonst wo verkauft, und ein Uhren-Outlet gibt’s sowieso nicht, geschweige denn Schnäppchen. In Glashütte kann man es sich leisten, strikt Listenpreise zu verlangen, und für so eine Lange #1 zahlt man gerne schon mal 60.000 EURO und mehr. Schön für die Glashütter Uhrmacher. Am Ende pendeln wir drei Mal zwischen Nomos und Lange hin und her, rein in’de Kartoffeln, raus aus’de Kartoffeln, zum Glück liegen beide Manufakturen keine 250 Meter auseinander. Schließlich wird es eine bescheidene Nomos, eine filigrane, schlichte und doch elegante Metro in Rosègold im mittleren vierstelligen Preissegment, sowas für jeden Tag … und natürlich, Madame kann nicht widerstehen, eine Lange #1, und keine aus Blech, meine Einwände, dass das Teil doch viel zu klobig für ihr zartes Handgelenk sei, wischt sie einfach weg, erstens wollte sie so eine schon immer haben, und zweitens müsse ich das ja auch als Geldanlage sehen. Weiber … oder nein, noch schlimmer: Caro! (Nun gut, ich gestehe, ein winzig kleines Bisschen bin ich schon neidisch.)
Es wird schon dunkel, und es fängt das Schneien an. Eigentlich wollten wir an dem Tag noch auf Seitensträßchen durch’s Erzgebirge runter nach Karlsbad in’s Pupp, das sind normaler Weise keine drei Stunden, aber wir beide sind müde und haben keine rechte Lust, durch die verschneite Nacht zu fahren. Ob er uns eine nette Unterkunft in der Nähe empfehlen könne, fragen wir unseren hoch-motivierten und -incentivierten Uhrenverkäufer. Das Bülow Palais in Dresden sei sehr empfehlenswert, entgegnet der Uhrenverkäufer, das Taschenberg Palais hingegen weniger. Aus Ersterem kämen wir gerade her, antworten wir, ob er keine Unterkunft mit Restaurant mit guter sächsischer Küche hier oben im Erzgebirge in Richtung Tschechien wisse. Er überlegt kurz: „Die Zimmer sind zwar nicht mit dem Bülow vergleichbar, einfach, aber sauber und mit eigenem Bad, doch wenn wir richtig gute sächsische Küche suchten, so mit – er verfällt unvermittelt in die sächsische Mundart – „Griene Kließ un Schwammebrie, Rauchemaad und Latschn“, dann hätte er war für uns, sie hätten erst unlängst den Sechszigsten seiner Schwiegermutter dort gefeiert, und auch die aus dem Westen angereisten Familienmitglieder seien hoch zufrieden gewesen. Er schreibt uns eine Adresse auf einen Zettel, und wir fahren los Richtung süd-west. Im Wagen checke ich die Empfehlung, eine Baude in einem abgelegenen Kaff am Kamm des Erzgebirges, so ein typischer zweigeschossiger, klobiger Holzbau, die Speisekarte klingt authentisch und interessant, die Zimmer scheinen primitiv, aber die Basics sind da. Ich telephoniere kurz, ja natürlich hätten sie kurzfristig Platz für zwei Personen, und auch einen Tisch zum Abendessen, aber nicht so spät, die Küche schließe um 21:00 Uhr. Alles klar, gebucht, mein Gegenüber will weder Adresse noch Handynummer noch Kreditkarte. Ich programmiere das Navi, gegen 17:00 Uhr sollten wir dort sein. Es wird dann doch 18:00 Uhr, Navi hat auf den kleinen Sträßchen kurz am Rad gedreht und uns offensichtlich in die Irre geführt. Nur wenige der Parkplätze vor dem Haus sind besetzt, fast durchgängig mit einheimischen Wagen, dazu ein paar Tschechen. Das gelbliche Licht aus den Fenstern hat was Warmes, Heimeliges in dem Schneegestöber um uns herum. Wir stellen den Wagen ab, nehmen unser leichtes Gepäck aus dem Kofferraum und gehen durch die kalte Winternacht in’s Haus. Der Schanktresen ist zugleich die Rezeption, ein stiernackiger Wirt begrüßt uns mehr mürrisch als freundlich, einchecken ohne Meldezettel und Kreditkarte, lediglich Schlüssel und ein paar Orientierungshilfen, wo und wann was zu finden sei.
Während uns der Wirt noch erklärt, ab wann es Frühstück gibt, wird er ziemlich rüde unterbrochen von einem aufgeregten Männchen in sehr feinem Zwirn, begleitet von einer sportlich-eleganten Dame, eindeutig Stadtfräcke auf Landpartie, sowas sehe ich gleich. Das Männchen echauffiert sich über das Zimmer, das ihnen zugewiesen wurde. Sie hätten ausdrücklich Bergseite gebucht, um Ausblick auf die Berge zu haben, aber vor dem Zimmer seien nur ein Hang und Bäume zu sehen. Er wolle jetzt sofort ein anderes Zimmer, von dem man auf die Berge blicken könne, dazu seien sie ja schließlich hierhergekommen. „Alles belegt.“ brummt der Wirt lakonisch. Angesichts der wenigen geparkten Wagen vor dem Haus glaube ich ihm das gerade irgendwie nicht, aber Recht so, denke ich, so muss man nicht mit sich umspringen lassen. Das sei eindeutig ein gravierender Reisemangel, schimpft das Männchen, das gebe eine saftige Minderung des Mietpreises, notfalls mit Anwalt. Was für ein Arsch, denke ich mir, die Zimmer hier kosten doch sowieso fast nichts, wegen dieser paar EURO macht der so’n Aufstand in seinem teuren Zwirn. Es gehe ihm nicht um’s Geld, sondern um’s Prinzip, faucht das Männchen im gleichen Augenblick. „Das ist kein Grund für eine Mietpreisminderung!“ sagt Caro unvermittelt in sehr scharfem Ton. „Warum soll das kein Grund für eine Mietpreisminderung sein?“ bläfft das Männchen zurück. „Entscheidung des Amtsgerichts Duisburg vom 20. Januar 2005, Aktenzeichen müsste ich nachschauen.“ antwortet Caro wie aus der Pistole geschossen. „‚Zimmer zur Meerseite‘ bedeutet nicht zwangsläufig ‚Zimmer mit Meerblick‘ und rechtfertigt keine Mietminderung. Und Sie haben doch sogar Blick auf den Berg, wie gebucht. Was regen Sie sich also auf?“ „Und wer sind Sie überhaupt?“ will das Männchen wissen. Süffisant antwortet Caro, dass sie mal Staatsanwältin und Richterin war, und heute Anwältin, Notarin und Professorin der Rechtswissenschaft, „und außerdem bin ich die Anwältin dieses wackeren Wirts hier. Ich bin gespannt auf das Schreiben Ihres Anwalts.“ Ich weiß nicht, wer überraschter schaut, das Männchen oder der Wirt. Das Männchen jedenfalls murmelt irgendwas Unverständliches, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet auf sein Zimmer, um auf einen Hang und Bäume zu blicken, seine sportlich-elegante Dame folgt ihm brav und schweigend. Nachdem er sich von seinem Schreck erholt hat, fragt der Wirt „Warum sind Sie meine Anwältin? Ich könnte mir jemanden wie Sie doch nimmermehr leisten.“ „Stimmt!“ sagt Caro ziemlich hochmütig (Caro kann manchmal so ein arrogantes Arsch sein!). „Aber Leute wie der gehen mir tierisch auf den Senkel. Sich wegen jeder Kleinigkeit aufregen, den dicken Maxe raushängen lassen und vermeintlich Schwächere tyrannisieren, wahrscheinlich wollte er vor allem seiner Ösche imponieren und nebenbei noch ein wenig Geld sparen. Und dann noch Anwälte und Gerichte mit so’nem Pipifax behelligen, kost‘ ja nix, man ist ja schließlich rechtsschutzversichert, das habe ich so dicke. Und keine Sorge, sollte da tatsächlich was kommen, vertrete ich Sie für’n Abendessen.“ „Danke, das ist sehr nett.“ sagt der Wirt noch immer völlig verdattert.
Wir beenden die unschöne Szene, schleppen unsere Taschen über eine knarzende, alte Treppe in den ersten Stock, die Zimmereinrichtung ist sehr – sagen wir mal – rustikal, ein gewisses Gefälle zum Bülow Palais lässt sich nicht leugnen, aber die Basics sind da, gutes Bett, sauberes Bad, über Stil bei der Zimmereinrichtung kann man streiten, aber wir haben tatsächlich einen wunderschönen Talblick auf die gegenüberliegen Erzgebirgs-Gipfel. Wir machen uns kurz frisch und sitzen Punkt 18:30 Uhr beim Rechenberger Bier und Altenberger Gebirgsbitter erwartungsvoll und hungrig in der Gaststube, die dominiert wird von einem alten, mächtigen Kachelofen, der gut bollert und den niedrigen Raum eigentlich überhitzt. Wie alle Räume im Haus ist auch die Gaststube niedrig, als würde sich das Haus vor dem Schnee und dem Wetter ducken, die Fenster sind ebenfalls klein und bieten wenig Angriffsfläche, hier gibt es kein Lightdesign, ein paar Funzeln unter alten, weißen Glasschirmen verbreiten ein gelbliches, warmes Licht, nur der Schanktresen ist in grelles Neonlicht gehüllt, ein merkwürdiger Kontrast. Auch die Einrichtung bietet diese merkwürdigen Kontraste. Die Fußbodendielen, die Holzvertäfelung der Wände und die Wandbänke stammen sicherlich noch von anno dunnemals, ebenso das große, kitschige Bild des röhrenden Hirsches in dunk’lem Forst. Tische, Stühle, Geschirr und Besteck hingegen sind eindeutig noch billige, geschmacklose DDR-Ware. Dazu reichlich Deko-Tinnef, mit dem Wirtsleute ihr Etablissement aufhübschen wollen: Plastik-Efeuranke, alte Postkarten, Erzgebirgsschnitzereien, ein wohl sehr alter Teddy, bemalte Vasen ohne Blumen drinnen (naja, wenigstens keine Kunstblumen), sowas halt. Nicht viele Tische sind besetzt, in einem Nebenraum eine größere Gruppe, nur Männer, die örtliche Freiwillige Feuerwehr bei ihrem jährlichen gemeinsamen Abendessen, erklärt uns die flotte, freundliche Bedienung. Unten den Gästen sind auffällig viele Tschechen, bitte nicht falsch verstehen, nicht, dass ich irgendetwas gegen Tschechen hätte, Caro und ich sind ja selber auf dem Weg nach Tschechien (die Tschechen legen übrigens größten Wert darauf, dass ihr Land ‚Tschechien‘ genannt wird, und nicht ‚Tschechei‘, da dieser Begriff von den Nazis eingeführt wurde), ich wundere mich nur darüber, weil das Essen ein paar Kilometer jenseits der Grenze deutlich billiger und wenigstens ebenso gut, wenn nicht besser ist. Was auch immer die Gründe sind, es sei ihnen herzlich gegönnt.
Die Speisekarte ist erfrischend kurz gehalten und wirklich regional. Internationalistische und modernistische Spinnereien fehlen völlig, auch hat wenig bis nichts den Ruch der Convenience. Stattdessen Gerichte von hier: natürlich die süß-saure Linsensuppe, Rotkrautsuppe, Sülze, Hackepeter, Platte mit heimischen Würsten und Käsen, Steak au four, Rindsroulade, Buchteln, dazu gibt es Klöße, Salzkartoffeln, Bratkartoffeln, Kartoffelbrei, Getzen, Klitscher (gleich sechsmal Kartoffeln) und Reis als Beilagen, keine Spur von Convenience-Röstiecken, Pommes oder Kroketten aus der Fritteuse. Wir beginnen mit einem Erzgebirgischen Ölheringssalat, der ist allerdings gewöhnungsbedürftig (Salzheringe werden gehäutet, filetiert, gewässert, mit Lorbeer, Pfeffer- und Senfkörnern in Öl einen Tag lang mariniert und dann abgetropft mit Zwiebelringen und Gewürzgurkenstreifen serviert, und Salzheringe sind nun mal eine ganz andere Liga als zarter Matjes). Würzfleisch im Näpfchen muss einfach sein, die kommunistische Variante des Ragout fin, eine Ikone der DDR-Küche, klein Würfelchen gekochten Schweinefleisches (manchmal auch Geflügel) in einer Sauce velouté, gratiniert mit Holländischer Sauce und Reibekäse, serviert mit Toast, Zitronenschnitz und Exzellent Worcester Sauce Dresdner Art, da kommen Erinnerungen auf. Früher waren die Fleisch-Würfelchen oft grausam mit Fett und Sehnen durchzogen, hier ist es tadellos filetiertes Schweinefleisch aus der Keule. Dann Griene Kließ un Schwammebrie – Grüne Klöße mit Steinpilz-Rahmsauce –, ein Gericht, das auf beiden Seiten des Erzgebirgskamms populär ist, Kartoffelklöße halb aus gekochten, gequetschten und halb aus rohen, geriebenen, ausgedrückten Kartoffeln, die Dinger werden beim Kochen tatsächlich grünlich. Bei meiner Großmutter und Mutter gab es das oft, und auch ich koche es gerne, ein typisches (vegetarisches) Arme-Leute-Essen, Kartoffeln und Schmand gab es auf dem Bauernhof sowieso, Steinpilze und Kümmel konnte man (und könnte man auch heute noch immer) kostenlos im Wald sammeln. Caro isst Kaninchenbraten in einer schlichten, dünnen, säuerlichen Sauce mit viel saurer Sahne, dazu rohe Kartoffelklöße und Selleriesalat mit viel schlechter Mayonnaise. Die Bedienung hatte ihr versichert, Hauskaninchen sei ein typisches erzgebirgisches Gericht, problemlos in der Haltung, billig und anspruchslos im Futter, so etwas konnten sich die armen Gebirgsbauern und Bergleute auch mal leisten. Zum Nachtisch essen wir Klitscher, geriebene rohe Kartoffeln und Magerquark im Verhältnis 2:1 mit etwas Speisestärke, wie Kartoffelpuffer ausgebacken und dann mit Apfelmus serviert; hier ist das keine industrielle TK-Standard-Ware, sondern offensichtlich tatsächlich selbst gemachte Puffer, durch den Quark mit deutlich säuerlicher Note, die gut harmoniert mit der Süße des Apfelmuses. Außerdem Heidelbeergetzen, ein Teig aus Milch, Mehl, Honig und Eiern, ohne Treibmittel, mit eingemachten Heidelbeeren (hier sind es wirklich eingemachte, kleine Waldheidelbeeren und nicht diese Jahreszeiten-unabhängigen Zuchtbomben von wer-weiß-woher) wird im Ofen abgebacken und heiß serviert – genial.
Die Bedienung bringt uns beim Abräumen unbestellt zwei Schnäpse „Vom Haus.“ sagt sie nur lapidar. Was das denn sei, fragen wir. „Himbeergeist.“ „Sowas steht doch gar nicht in der Karte.“ „Nee, tut er auch nicht. Für sowas haben wir eine kleine Extra-Karte.“ „Warum das?“ fragen wir. „Ach wissen’se, die Leute hier oben kucken komisch, wenn Schnäpse für 14 EURO und mehr in der Speisekarte ihrer Dorfkneipe stehen. Dann denken sie ganz schnell, wir sind abgehobene Spinner, die nur noch das schicke Wochenend-Publikum aus Dresden und Berlin wollen, und keine kleinen Leute mehr von hier. Ist ja schon lästig genug, dass diese Städter mit ihren dicken Autos und schicken Klamotten uns jedes Wochenende die Bude stürmen und an allem nur rumnörgeln. Aber von denen leben wir nicht, die sind ein Sahnehäubchen auf dem Umsatz, und dazu ein sehr lästiges Sahnehäubchen, das meistens obendrein noch lausiges Trinkgeld gibt. Wir leben von den Leuten hier, wir leben davon, dass sie gerne und oft kommen, wir leben von den Veranstaltungen, die sie hier machen, von den zwei täglichen Feierabendbier der Waldarbeiter, vom Sängerstammtisch, von den Geburtstagen der Großeltern, die hier gefeiert werden, von den Familien, die Mutti am Sonntag mal nicht in der Küche stehen sehen wollen und ihren Sonntagsbraten dann halt bei uns essen, von dem alleinstehenden Ladenbesitzer, der nach Geschäftsschluss keine Lust hat, zu kochen, davon leben wir. Deswegen haben wir auch keinen Lachs oder Burger, kein Filetsteak oder Pizza auf der Speisekarte, wir kochen einfach so, wie hier schon immer gekocht wurde und wie‘s die Leute kennen und erwarten. Aber wenn unsere Stammgäste die Preise für diesen Schnaps in der regulären Speisekarte sähen, oder eine Flasche Wein für 60 EURO, die kämen doch allesamt in’s Grübeln. Deshalb haben wir eine Zusatzkarte mit diesem ganzen teuren Stoff, aber die teilen wir nur an Leute aus, die nicht von hier sind, und die Preise und die Gewinnspannen darin haben’s in sich, aber die können sich es ja leisten, die sollen ruhig den Kaninchenbraten für unsere Leute damit subventionieren.“ Caro und ich sind sprachlos ob des engagierten und klugen Wortschwalls der Bedienung. „Und warum haben wir diese Sonderkarte dann nicht auch bekommen, wir sind ja schließlich auch eindeutig Stadtfräcke?“ frage ich neugierig, etwas beleidigt und etwas geehrt. „Mein Mann hat gesagt, ich solle mal lassen, Sie seien in Ordnung.“ Ah, die Frau Wirtin. Wir ordern diese ominöse Karte für Stadtfräcke dann doch noch, der Himbeergeist stammt von der Weißeritztaler Feinbrennerei aus Freital und ist ziemlich phänomenal. Ich probiere dann gleich noch den Dry Gin mit 45 Umdrehungen aus der Brennerei, der ist allerdings enttäuschend, irgendwie muffige Socken im Abgang, schmeckt fast wie ein Grappa, wir bleiben beim Himbeergeist, Wein für 60 EURO bestellen wir auch nicht, wir sind ganz zufrieden mit dem Rechenberger Bier.
Der Gastraum leert sich merklich, wir wollen auch gerade zahlen und zu Bett gehen, da kommt der Wirt an unseren Tisch. „Hat’s Ihnen denn geschmeckt und gefallen?“ Wir loben artig seine Küche, den Service und das Ambiente über den grünen Klee und sind dabei nicht immer ganz ehrlich, aber wir wollen uns nicht in die Stadtfrack-Fraktion einreihen und das Nörgeln anfangen, das Meiste war ja wirklich gut oder zumindest OK, und dass eingelegte Salzheringe nun nicht so unser Ding sind, dafür kann der Wirt ja schließlich nichts, dafür können nur wir selber was. „Ich bin gleich wieder da,“ sagt der Wirt, „gehen Sie nicht weg.“ Er kommt mit der Himbeergeist-Flasche aus Freital und einem Glas zurück, setzt sich ungefragt an unseren Tisch (aber er ist ja schließlich der Hausherr und Gastgeber), füllt unsere Schnapsgläser nach und gießt sich auch einen ein. Er nimmt sein Glas und prostet uns mit einem „Glück auf!“ – dem alten Bergmann-Spruch – zu, auch wir sagen „Glück auf!“ und leeren die Gläser. Er gießt nach. Das scheint was Ernsteres zu werden. „Haben Sie gesehen,“ fängt er in vertraulichem, fast verschwörerischem Ton an, „der Schrumpf-Rübezahl von vorhin, der ist mit seiner Gräfin Cosel nicht zum Abendessen erschienen, obwohl sie extra einen Tisch reserviert hatten.“ „Das begründet ein vorvertragliches Schuldverhältnis, nach Paragraph 311 Absatz 2 und Paragraph 242 BGB, da könnte Ihnen sogar Schadenersatz zustehen.“ fällt Caro ihm in’s Wort, wieder schaut der Wirt ausgesprochen überrascht. „Was sind Sie denn, eine Frau oder ein Gesetzbuch mit Beinen?“ „Im Zweifelsfalle beides.“ sagt Caro lächelnd. Der Wirt erzählt weiter: „Stattdessen sind die beiden die Straße runter zu der Pizzeria, trotz des Schnees. Hab’s vom Küchenfenster aus gesehen. Das war früher mal ein Dönerladen, aber der konnte sich nicht halten. Jetzt sind Vietnamesen drauf, und die machen Pizza und Nudeln, man kennt sie ja, die typisch vietnamesische Pizza. Komisches Konzept. Was ich so höre, soll es gar nicht gut sein und auch nicht so richtig laufen. Aber diese Gäste seien den Kollegen von Herzen gegönnt, und diesen Gästen die Vietnamesen-Pizza ebenfalls.“ Er grinst ziemlich fies. „Haben Sie öfter solche Problembären als Gäste?“ will Caro wissen. „Was heißt ‚öfter‘? Unsere meisten Gäste stammen ja von hier, zumindest die Restaurantgäste. Da gibt’s auch Solche und Solche. Junge Männer, die zu viel saufen und dann das Streiten, manchmal sogar das Raufen anfangen, aber nicht so wie in Berlin mit Messern und Baseballschlägern, hier gehen sie ganz althergebracht vor die Tür und prügeln sich mit den Fäusten, zwei gehen raus, einer kommt wieder rein, der andere lässt sein Blaues Auge daheim von Mutti versorgen, aber das passiert wirklich selten. Und am nächsten Tag – oder vielleicht erst in der nächsten Wochen – sitzen beide wieder einhellig bei uns beim Bier zusammen. Dann gibt es noch den Rudi und den Oswin, sozusagen unsere Dorfsäufer, der Rudi soll aus dem Westen stammen und tauchte irgendwann hier auf, angeblich wegen der billigen Mieten, und jetzt haben wir ihn am Hals, Sozialhilfeempfänger. Der Oswin stammt von hier, war früher ein höheres Tier bei der Stasi und hat schon seit Jahrzehnten sein Leben nicht mehr im Griff, eigentlich eine arme Socke. Trotzdem haben beide bei mir erstmal Hausverbot, wenn sie ihre Fünf Minuten haben, pöbeln sie Gäste an, oder wollen schnorren, oder labern einfach ohne Ende, sowas ist schlecht für’s Geschäft, und nerven tut’s auch, die Gäste und mich. Aber über den Rest meiner Gäste, also der Restaurantgäste von hier, kann ich nur Gutes sagen, anständige Menschen, die sich benehmen, die mein Essen mögen, die freundlich sind, sowas wie Zechprellerei haben wir hier kaum, ich kenne ja fast alle Gäste persönlich.“ Er gießt Schnaps nach. „Glück auf!“ „Glück auf!“ „Glück auf!“ „Anders ist es bei fremden Gästen aus der Stadt. Früher waren es meist Berliner und Leipziger, mittlerweile kommen auch mehr und mehr Wessis hier hoch und bleiben dann für ein paar Tage über Nacht, fast ausschließlich am Wochenende. Am schlimmsten waren und sind die Berliner, kein Berliner mag die Sachsen, und die Sachsen mögen die Berliner auch nicht. Zu DDR-Zeiten wurden wir systematisch benachteiligt, aber unsere Kohle und unser Uran wollten sie haben, Party auf der Leipziger Messe und Skifahren bei uns auch, aber sonst nur doofe Witze über Sachsen und vor allem über unsere Sprache. Es war schon gut und wichtig, dass König Kurt direkt nach der Wende den Tag der Sachsen gegründet hat, da können wir uns einmal im Jahr selber feiern, immer in einer anderen sächsischen Stadt, sowas stärkt den Zusammenhalt und den Stolz darauf, Sachse zu sein. Sowas verstehen die in ihrem woken Multi-Kulti-Puff in Berlin doch gar nicht. Na ja, wer bei klarem Verstand wäre heute noch stolz darauf, ein Berliner zu sein? Früher, zu DDR-Zeiten, waren diese Polit-Bonzen, Militärs, Stasis und Russen aus der Hauptstadt ja schon schlimm, aber wie die aus Berlin sich heute bei uns aufführen, das ist schier unglaublich. Als Wirt ist mir so ein gestandener Stasi-Offizier mit Militärausbildung, Studium, fließend Russisch, bezahlten Steuern und Loyalität zum Staat zehnmal lieber als so ein klebend-weltrettendes, links-grünes Milchbübchen oder -mädchen mit abgebrochenem Sozialpädagogik-Studium, wechselndem Geschlecht, fließend Wokisch-Bullshit-Bingoisch“ (was für eine Wortschöpfung, denke ich mir unvermittelt, ob die tatsächlich von ihm stammt?), „von Bafög und Sozialhilfe direkt in die Abgeordnetendiät, ohne jemals Steuern gezahlt zu haben und Rassismus gegen weiße alte Männer. Wie Sie und ich einer bin. Sie als Frau genießen noch einen gewissen Freiraum, schließlich könnte sie ja eine me-too sein oder weniger verdienen als der Herr hier.“ Caro schmunzelt. Caro schmunzelt sehr. „Was macht diese Leute denn so schlimm, was tun sie oder tun es eben nicht, dass Sie so in Rage geraten?“ fragt sie. „Ach, es fängt mit Einchecken an. Glauben Sie, diese Leute können ‚Bitte‘ und ‚Danke‘ sagen? Diese Anraunzer, warum Einchecken erst ab 15:00 Uhr möglich sein solle, die anderen Gäste seien doch am Morgen abgereist, das sei genügend Zeit, ein Zimmer wieder herzurichten; außerdem seien sie die ganzen drei Stunden von Berlin bis hierher in einem Stück durchgefahren und bräuchten jetzt dringend erstmal eine Dusche, ein Bett und ihre Ruhe.“ („Mi-mi-mi.“ denke ich mir.) „Und dann dieses ständige Genörgel über die Zimmer und ihre Ausstattung. Ich habe jedes meiner 15 Zimmer auf meiner Webpage mit fünf oder zehn echten, ungestellten Photos, da ist nichts beschönigt, der Photograph wollte noch den ein oder anderen Trick anwenden, damit’s hübscher aussieht, wollte ich alles nicht. Man sieht bei jedem Zimmer die Betten, die Bäder, die Einrichtung, den Ausblick, ganz ehrlich und ungeschminkt. Und dann kommen die Leute an, die noch nicht mal direkt über meine Internetseite gebucht haben, sondern über eines diese scheiß Buchungsportale, da sind genau dieselben Photos drauf, aber ich muss die Vermittlungsgebühr an diese Internet-Haie abdrücken. Sie haben’s ja vorhin miterlebt: wo ist der Bergblick auf dem Bergseite-Zimmer, hätte der Schnösel doch auf der Internet-Seite vorher sehen können. Der Föhn fehlt, das Schuhputzzeug, wo ist der Schuhlöffel, kein Conditioner in der Dusche, wo ist die Nummer vom Zimmerservice, das W-Lan ist hier aber ziemlich langsam, wie, keine kostenlose Flasche Mineralwasser bei der Anreise, ich hätte gerne eine antiallergene Bettdecke, bringen Sie noch die Bademäntel und Schlappen … Ja, bin ich denn das Adlon? Diese Nörgeleien muss ich mir jedes Wochenende wieder und wieder anhören, es ist fast ein Wunder, dass diese Leute nicht auch noch den fehlenden Whirlpool auf ihrem Zimmer bemängeln. Und dann kommen sie zum Essen runter, bestellen erstmal ein kleines Mineralwasser, wenn’s geht auch gerne kostenloses Leitungswasser. Dann beginnen die Anfeindungen, die meist meine Mitarbeiterinnen abbekommen. Ich habe Zigeunerschnitzel, Türkensterz und Herrentoast auf meiner Speisekarte, und wir müssen uns nahezu jedes Wochenende von irgendwelchen realitätsfremden Wichsern anhören, dass das politisch nicht korrekt sei. Ich weiß nicht, ob’s Ihnen aufgefallen ist, seit Neuestem haben wir auch Mohr im Hemd auf der Karte, das ist zwar nicht typisch erzgebirglerisch, ich hab’s trotzdem auf die Karte genommen, nur um diese Wortwixer zu ärgern. Wenn Sie noch ein paar Tipps für politisch unkorrekte Speisenamen haben, immer her damit, ich nehm‘ sie sofort mit in’s Angebot. Und dann, wo denn die vegetarischen und die veganen Gerichte auf der Karte seien. Wenigstens die Hälfte meiner heimischen Gerichte ist von Haus aus und traditionell vegetarisch, soviel Fleisch konnten sich die Leute hier oben nie leisten, und können es bis heute nicht. Vegan ist hier hingen kaum ein Gericht, Mangelernährung braucht niemand, zumindest nicht, wenn er hart arbeitet, vegane Ernährung mag ja vielleicht ausreichend sein, wenn man den ganzen Tag auf Straßen rumklebt und in Parlamenten schläft, aber so ein Bergbauer oder -mann, so eine Bedienung oder Postbote, ganz egal, ehrbare Berufe halt, wo was geleistet wird, die brauchen gutes Essen. Und sie wollen es auch. Was meinen Sie, was bei meinen Gästen los wäre, wenn ich Grillen oder Mehlwürmer auf die Speisekarte nehmen würde? Die würden’s nicht nur nicht essen, die würden nie wiederkommen, wenn sie wüssten, dass ich so ekelhaftes Zeug auch nur in der Küche habe, zusammen mit dem richtigen Essen in der Kühle. Und dann wird man auch noch gefragt, wie’s denn mit der Energieversorgung in meiner Baude aussähe, wieviel Prozent denn aus regenerativen Energien bestünden? Und warum ich denn keine Solarpaneele auf dem Dach hätte. Erstens steht das Haus unter Denkmalsschutz. Zweitens ist das Haus fast 250 Jahre alt, der Dachstuhl würde das Gewicht von den Teilen gar nicht aushalten und müsste erst aufwändig verstärkt werden. Drittens haben wir hier wenigstens zwei bis vier Monate Schnee auf den Dächern, da würden die Dinger auch nichts produzieren. Und selbst wenn sie produzieren, so viel Sonnenschein haben wir hier oben nicht, als dass sich das finanziell irgendwie lohnen würde. Immer wieder muss man sich denselben Scheiß anhören. Die Leute haben doch keine Ahnung. Aber Windräder wollen sie uns jetzt in die Wälder stellen, teilweise in Naturschutzgebiete, da werden dicke Schneisen durch den Wald geschlagen und geschottert, um breite Zufahrtsstraßen zu den Aufstellorten zu schaffen, so breit, dass auch die Schwertransporter mit den Riesen-Flügeln durchkommen, da werden Millionen Kubikmeter Boden verdichtet und auf ewig als fruchtbarer Waldboden vernichtet, damit diese irre hohen Flapp-Flapp-Spargel irgendwie im Boden halten, was für ein sinnloser, gigantischer Landverbrauch für die gelegentlichen, noch nicht mal kontinuierlichen paar Megawatt Strom aus den Mistdingern, die Teile schreddern unser Vögel, Fledermäuse und Insekten reihenweise, das Wild zieht sich verängstigt zurück und wird Teilen seines Lebensraums beraubt, meistens stehen sie sowieso mangels Wind still, und wenn sie laufen, dann verändern sie angeblich das Mikroklima und den Niederschlag, das sagt zumindest der Winnie, Bio-Lehrer, der sitzt für die AfD im Gemeinderat, der Wert von Häusern mit Blick auf Flapp-Flapps fällt ganz automatisch, und wie man die Dinger im Notfall löscht, weiß niemand, unsere freiwilligen Feuerwehren sagen jedenfalls, sie hätten dafür kein Gerät, und wenn’s hier im Wald mal brennt, dann hat man ja gesehen, wo das ganz schnell hinführen kann, und wie man die Mist-Dinger rückbaut und entsorgt, weiß auch niemand. Aber nur zu, erstmal hochziehen, möglichst viel. Wissen Sie, ich bin ja auch für Windräder. Aber nicht hier, sondern bitte im Regierungsviertel und in diesen ganzen grün-links versifften Kiezen in Berlin, mitten drinnen!“
Auch dieser Abend neigt sich dem Ende zu. „Es hat richtig gut getan, nicht mal ständig nur zugetextet zu werden, sondern sich auch mal den Frust von der Seele zu reden. Danke, dass Sie zugehört haben, das machen die wenigsten Leute aus der Stadt, die wollen immer nur zuerst rumstänkern und einen danach mit ihren esoterischen Heilslehren bekehren. Und wenn man mal Contra gibt, weil einem einfach die Hutschnur platzt, dann kommen Sätze wie ‚Aber guter Mann, heute weiß doch jedes Kind …‘, ‚Es ist längst wissenschaftlich eindeutig bewiesen …‘ oder – am allerbesten – ‚Sind Sie etwa ein Querdenkender, gar AfDler?‘ Wenn ein Wirt in Berlin mit der AfD sympathisiert, kann er sich wahrscheinlich erschießen – wenn das nicht andere für ihn erledigen. Hier oben ist sowas gar nicht schlecht für’s Geschäft.“ „Sowas was?“ frage ich. „Na, Sie wissen schon, was ich meine. Zeit, in’s Bett zu gehen, ich muss morgen früh raus, Semmeln holen und Ihnen Frühstück machen. Ich habe noch Brötchen von heute Morgen übrig, die kriegen der Schrumpf-Rübezahl und seine Cosel. Also aufpassen beim Brötchenkorb. Bezahlen können Sie Morgen alles zusammen machen. Gute Nacht. Und nochmals Danke für’s Zuhören.“ „Glück auf!“ sage ich. „Glück auf!“ sagt Caro. „Glück auf!“ sagt der Wirt und verschwindet in das Neonlicht seines Schanktresens, fertig aufräumen, das meiste hat während unseres Gesprächs ohnehin eine mittelalterliche Dame erledigt, deren Herkunft eindeutig dem ost-asiatischen Kulturkreis zuzuordnen ist (War das jetzt politisch korrekt genug?) und die Tagesabrechnung machen (was ich als echte Leistung ansehe, nach den Mengen von Schnaps …).
Die Nacht ist bleiern, kein Wunder. Am nächsten Morgen riecht es im ganzen Haus nach Filterkaffee. Der mächtige Kachelofen hat die Gaststube noch nicht wieder völlig überhitzt, als wir gegen 08:00 Uhr zum Frühstück runterkommen, es ist frisch. Der Wirt steht hinter seinem Schanktresen, grüßt freundlich-vertraut. Für uns ist ein Zweier-Tisch in einer Ecke vorbereitet, ja, die Brötchen scheinen frisch, dazu Näpfchen mit offensichtlich selbst gemachten Marmeladen und Honig. Was wir an Wurst, Käse, Eiern wünschten, fragt der Wirt, ein großes Frühstücksbuffett, von dem er nachher die Hälfte wegwerfen müsse, lohne sich für ihn nicht, da liefe er lieber ein paar Mal hin und her und brächte die Sachen portioniert an den Tisch. Die Marmeladen – Sauerkirsch und Waldheidelbeere – sind hervorragend, die Brötchen, die Wurst und der Käse ebenfalls, der Kaffee doch schon sehr dünn, frisches Obst gibt’s keines, dafür auf Wunsch eingemachte Birnen mit Ziegenfrischkäse, aus der Metro stammt sowas bestimmt nicht. Kurz nach uns betreten der Schrumpf-Rübezahl und seine Gräfin Cosel das Tableau, der Wirt verweist sie an einen Tisch in der Mitte des Raumes, obwohl noch etliche weitaus gemütlichere Tische am Rand frei sind. Der Schrumpf-Rübezahl will offenbar protestieren, seine Begleitung hält ihn zurück, grummelnd setzen sich beide quasi auf den Präsentierteller. Es dauert nicht lange, da erspäht das Männchen die selbst gemachten Marmeladen auf unserem Tisch und fordert das Nämliche für sich und seine Begleitung ein, statt der abgepackten Industrieware – ganz gewiss aus dem Großhandel –, die auf seinem Tisch bereitliegt. Der Wirt lehnt zufrieden, geradezu hämisch ab, die selbstgemachten Marmeladen seien ausschließlich Gästen vorbehalten, die direkt beim Gasthaus und nicht über eine Reiseplattform gebucht hätten, denn bei der mageren Marge, die ihm bei den Reiseplattformen bliebe, sei eine kostenlose Abgabe der aufwändig selbst hergestellten Marmeladen nicht auch noch möglich, er könne den Text auf der Reiseplattform gerne nochmals genau lesen, von selbst gemachten Marmeladen als Teil des Angebots stünde dort nirgends was. Das Männchen hat einen Gesichtsausdruck, als hätte man ihm gerade einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet, Eindruck konnte er damit bei seiner Begleiterin wohl wieder nicht schinden. Er blickt sich im Raum um, wohl um zu erspähen, auf welchen Tischen noch die selbstgemachten Marmeladen stehen. Sein Blick bleibt kurz bei Caro hängen, die beißt gerade genüsslich in ihr Marmeladenbrot und nickt dabei nachdrücklich, jedem Anwesenden ist sofort klar, sie könnte sofort (sobald sie den dick Heidelbeermarmelade-verschmierten Mund wieder leer hat) irgendwelche Gesetze und Grundsatzurteile zitieren, die dem Wirt rechtgeben. Der Schrumpf-Rübezahl gibt auf, macht sich ein Plastikdöschen Industrie-Marmelade auf und streicht sich sein labbriges Brötchen vom Vortag (diese Boshaftigkeit des Wirtes realisiert er gar nicht und gibt sich klaglos mit den altbackenen Brötchen zufrieden). Als uns der Wirt frischen Kaffee bringt, frage ich im leisen, konspirativen Ton, ob er denn keine Angst vor den negativen Bewertungen unseres „Freundes“ auf dem Reiseportal, auf Google, Tripadvisor & Co. habe, wo er gewiss kein gutes Haar an ihm und seiner Baude lassen werde. „Nö, eigentlich nicht. Erstens habe ich kein wirkliches Interesse an Gästen, die diesen Schmarrn von selbsternannten Hotelkritikern für bare Münze nehmen. Die sollen sich die Photos ansehen, gerade die Photos, die von unseren Gästen gepostet werden, die sind ehrlich, und dann sollen sie kommen oder es bleiben lassen, egal, was irgendwelche angepissten Wixer geschrieben haben. Und wenn jemand wirklich zu heftig über uns schreibt – ich hab‘ ja so’nen Google-Dingsbums, das mir täglich alles anzeigt, wo unsere Baude erwähnt wird – dann schreibe ich auch schon mal zurück, nicht so ‚Danke … wir bedauern … werden in Zukunft alles tun, damit das nicht mehr vorkommt …‘, sondern ich schreibe dann durchaus Klartext, vor allem, wenn ich feststellen kann, welches Gast das konkret war und wie er sich hier benommen hat. Mit meinen Kommentaren habe ich sicherlich schon so manches quer-schwules Berliner Sozialpädagogik-Studium-Bürschchen und so manchen aufgeblasenen ‚Herrn der besseren Gesellschaft‘ wie unseren Schrumpf-Rübezahl hier in Rage gebracht, aber gut so, Schwanz eingekniffen wird nicht.“ „Wissen Sie was?“ sagt Caro. „Ihre Haltung gefällt mir sehr-sehr-sehr. Hier ist meine Karte, mein Angebot steht, wenn mal irgendwas kommen sollte, wegen so’nem Rübezahl oder wegen eines unbedachten Internetkommentars oder was weiß ich, ich vertrete Sie für ein Abendessen, darf ich zwar eigentlich nicht, aber sowas kriegt man ganz legal gedeichselt.“ Und wieder hat der Wirt sein verdattertes Gesicht angezogen. „Das ist ja das Problem.“ fährt Caro fort. „Wenn wirklich mal was ist, kommt so ein Stadt-Schnösel mit irgendeiner großen Kanzlei, ihr Dorfanwalt sagt ihnen, ‚Alles ganz easy!’, und irgendwann knickt er ein und rät ihnen zu einem Vergleich. Ich will jetzt hier beileibe kein Mandat akquirieren, aber ich kämpfe bei sowas bis zum Endsieg. Wenn es mal brenzlich wird, melden Sie sich einfach.“ (Hoppla, Caro, färbt die Umgebung jetzt sprachlich irgendwie auf Dich ab, frage ich mich?) „Wo ist hier der nächste Flugplatz, so für kleinere Maschinen meine ich?“ „Großrückerswalde oder Chemnitz.“ Der Wirt steigert seine mimische Verdattertheit. „In zwei Stunden kann ich hier sein, wenn’s mal brennt.“ Man sollte an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass dies Teil von Caro’s Geschäftsmodell ist. Sie vertritt die größten Verbrecher und Schweinehunde, meist in Wirtschaftssachen, und wenn sie erfolgreich ist, sahnt sie dort so richtig-richtig ab, bei Misserfolg gibt’s weniger, doch immer noch mehr als genug, aber ‚Misserfolg‘ ist kein Wort, welches in Caros Sprachgebrauch existierte. Das so verdiente Geld gibt sie dann zum Teil für schöne Dinge aus – Uhren zum Beispiel oder ihre vermaledeite Flugbüchse – zum Teil verwendet sie es aber auch, um Leute zu vertreten, die niemals eine Chance auf einen richtigen high class Rechtsbeistand hätten, wenn sie an diese Leute und ihre Geschichte glaubt, kämpft sie wie eine Löwin, nun gut, manchmal lässt sie ihre Menschenkenntnis auch im Stich und sie echauffiert sich für faule Früchte, doch meistens hat sie das richtige Gespür für die wehrlos verfolgte Unschuld, eine Robin Hood der Winkeladvokaterei.
Alles geht einmal zu ende. Frühstück beendet, leichtes Gepäck zusammengepackt, vor der Weiterfahrt nochmal Pipi gemacht, knarzende Treppe runter, wir stehen am Schanktresen und wollen zahlen. “Nein,“ sagt der Wirt, „nehmen Sie’s als Anzahlung für das, was vielleicht irgendwann mal kommt.“ (Also, wann hat sich bei Ihnen das letzte Mal ein Wirt geweigert, Ihr Geld anzunehmen? Ein sehr seltener Ausschnitt aus dem Leben.) Es kommt zu einem kurzen Wortgeplänkel, irgendwann greift Caro zu ihrer Handtasche, holt ihr Portemonnaie heraus, knallt ein paar Geldscheine auf den Tresen, im Gehen sagt sie nochmals zu dem Wirt „Wenn was ist, ich bin für Sie da, Karte haben Sie jetzt ja!“ Wer jetzt meint, ich hätte ein schnorrerisches Schnäppchen gemacht: wir haben irgendwann mal der Einfachheit halber vereinbart, dass wir abwechselnd die Hotels zahlen: das heißt in diesem Fall, ich Bülow Palais, Caro Erzgebirgsbaude, ich Pupp … scheiß Deal. Aber grad‘ schön war’s.