Freud und Leid des freien Grenzvekehrs und Klostermannova chata in Modrava

Caro hat mich geschimpfelt – „Ich muss Dich jetzt mal schimpfeln!“ – pflegt sie in solchen Situationen zu sagen, und ich weiß, dass ich unmittelbar eine gehörige Abreibung erhalten werde, gerechtfertigt oder nicht, ich kann noch nicht einmal sagen, dass es meist nicht gerechtfertigt ist, nö, es ist fast immer nicht gerechtfertigt, aber gerechtfertigt / nicht gerechtfertigt … hätte, hätte Fahrradkette, wozu ist Caro Top-Juristin, die knüppelt erstmal rein, und wenn sich keiner mehr zu rühren wagt, dann akzeptiert sie vielleicht mal die Frage nach der Berechtigung … vielleicht. Aber zurück zum so harmlos klingenden Schimpfeln. In Mauth, Arsch der Republik, aber durchaus idyllisch gelegen, im tiefsten Bayrischen Wald, unmittelbar vor der Tschechischen Grenze waren wir beim kollektiven Warten vor dem einzigen Geldautomaten des Dörfchens mit einem netten, alten Eingeborenen in Trachtenjäckchen und Seppelhut in’s Plaudern gekommen, wo wir den herkämen, was uns ausgerechnet nach Mauth verschlagen habe, wie lange wir den schon verheiratet seien, wir verneinten höflich, dass letztens der örtliche Geldautomat gesprengt worden sei, mit viel zu viel Sprengstoff, was den weitgehenden Neubau der in der Tat weitgehend neuen Bank notwendig gemacht habe, und Tschechen seien es wohl gewesen, alldieweil man aufgebrochene Geldkassetten unmittelbar jenseits der Grenze im Wald gefunden habe, aber keine Spur von den Tätern, was aber ebenfalls kein Zufall sei, die Räuber und Gendarmen bei den Tschuschen hielten doch eh alle zusammen, seien zuweilen sogar beides in Personalunion, so belehrte uns der Seppelhutträger aus erster Hand. Dergestalt von seiner lokalen Kompetenz überzeugt wagten wir die Frage, ob er denn manchmal rüberführe, zu den … Tschechen – Tschuschen wollten wir bei aller deutsch-nationalen Spontan-Fraternisierung dann doch nicht sagen – und ob er einen Geheimtipp habe, wo man gut und authentisch tschechisch / böhmisch essen könne. Aber natürlich, antwortete der deutsch-nationale Gewährsmann vom Arsch der Republik, drüben sei doch sowieso fast alles billiger, angefangen bei Brot und Zigaretten bis hin zu Champagner und Kristallgläsern, und Medikamente sowieso, die Apotheken an der Grenze verkauften fast alles, Generika zu Dumping-Preisen, Pillen, für die man in Deutschland mehrere ärztliche Untersuchungen und Atteste und ein Rezept brauche einfach so über den Counter, ach ja, und natürlich Viagra und preiswertere Derivate in jeder Stärke und Menge, ohne Rezept und spottbillig, an einfachen Straßenständen dazu Kunsthandwerk, Honig, frisch gepflückte Preisel- und Heidelbeeren, Pilze, Obst, Bauernschnäpse, Böller, … ein Schlaraffia für den Schnäppchenjäger, und hinter dem Tschechoslowakischen Wall („Der Tschechoslowakische Wall (tschechisch československé opevnění, slowakisch česko-slovenské opevnenia) war ein ausgedehntes Grenzbefestigungssystem der Tschechoslowakei entlang der Landesgrenzen zum Deutschen Reich, zu Österreich, Polen und Ungarn, wobei weitere Linien im Landesinnern verliefen. Er galt als eines der besten Festungsbausysteme des 20. Jahrhunderts, wurde jedoch nicht vollständig fertiggestellt und konnte seinen ursprünglichen Zweck nie erfüllen.“ Quelle: Wikipedia), wo sich die Tagestouristen so langsam verliefen und echte tschechische Verhältnisse herrschten, da sei dann alles nochmals deutlich billiger. Auf den Vietnamesenmärkten, so fuhr der Gewährsmann fort, gebe es fast nur Schund und Nepp, die Böller seien tatsächlich lebensgefährlich, aber Haare schneiden, Nägel maniküren, Schminken und so’n Handarbeits-Zeugs, das könnten sie famos und für ganz kleines Geld, außerdem könne man dort „den Dreck“ (er meint wohl Chemodrogen aus illegalen tschechischen Laboren) relativ wohlfeil und stets von fraglicher Qualität erstehen, allerdings weder von Vietnamesen noch von Tschechen, das seien vor allem Tschetschenen, die diesen lokalen Markt ziemlich rigoros – um nicht zu sagen brutal – beherrschten. Die Spielcasinos an der Grenze schließlich seien von erstaunlicher Fairness geprägt, keine gezinkten Karten, keine manipulierten Kessel, keine fremdgesteuerten Automaten, beim Roulette stünden die Chancen tatsächlich 36 zu 37, ohne Schmuh, nur die Mädels – er sagte tatsächlich Mädels –, die seien richtig teuer geworden, zu Wendezeiten habe man eine Vierzehnjährige in Strapsen für 50 Mark am Straßenrand aufgabeln können, heute seien die alle vierundvierzig, entweder an AIDS verreckt oder Diplomaten-Gattin in Brüssel, oder gemachte Geschäftsfrau in Ostrava, oder ausgelutschte Billig-Hure in Bottrop; und Vierzehnjährige gäbe es ohnehin nur noch sehr selten und wenn dann mit vielen Schwierigkeiten und für sehr viel Geld, und die hübschen Achtzehn- und Zwanzigjährigen, die würden jetzt gleich – der Freizügigkeit in der EU sei’s gedankt – nach Berlin und Paris geschickt und dort für 200 EURO die Stunde, 2.500 EURO die Nacht feilgeboten, in den Puffs hier hinter der Grenze seien nur noch die Hässlichen und ein paar Hausfrauen, die sich was dazu verdienen wollten. Trotz seines offensichtlichen Alters sagte der Gewährsmann dies mit einer gewissen Traurigkeit, aber wozu gibt’s schließlich wohlfeile, rezeptfreie Viagra in jeder Stärke auf dem Wege zu den Puffs. Wir hatten unser Bargeld schon lange aus dem Automaten gezogen, aber der Eingeborene redete einfach weiter, offensichtlich begeistert davon, kommunikativ mal aus der eigenen, immer gleichen Dorfgemeinschafts-Suppe herauszukommen. Wie dem auch sei, als kulinarischen Geheimtipp hatte er uns das Klostermannova chata in Modrava empfohlen.

Wir waren am nächsten Tag also wohlgemut über Spiegelau (die dortige Glashütte ist längst von Riedel gekauft und geschlossen worden; stattdessen gibt es heute dort ein in der Tat recht preiswertes Outlet des Riedel-Konzerns für Riedel-, Spiegelau- und Nachtmann-Gläser, drum herum noch Seltmann-Weiden, WMF, das Übliche halt), Zwiesel (die dortige Glasfabrik gehört heute zu Schott, es gibt noch eine ziemlich lächerliche Schauproduktion und – guess what – ein großes Outlet, drum herum die angeblich größte Pyramide der Welt aus gestapelten Gläsern, Esprit, wieder Seltmann und WMF und sogar ein Dessous-Geschäft, wo die Frau vom Dorfe sich unten drunter aufbrezeln kann) und im großen Bogen über Bayerisch Eisenstein / Markt Eisenstein in die Tschechei Richtung Modrava gefahren. Hinter der Grenze die Landschaft gleich eine ganz andere, die Orte sowieso, auch wenn heute alles EU sein mag, hier spürt man den Ostblock noch, und Böhmerwald und Bayerischer Wald sind halt ziemlich verschieden, viele Hochmoore, unberührter Wald, einzelne Gehöfte, ungestrichene Häuser. Modrava selber ist dann ein kleiner Ferienort mitten im Wald in einem entlegenen Talkessel auf fast 1.000 Meter Höhe, ganz ähnlich meinem einstmals so geliebten Le Hohwald im Elsass, ein paar alte, noblere Holz- und Fachwerk-Häuser, ein paar Bauernhöfe, alles weit verstreut, kein eigentlicher Dorfkern, das Ensemble wir dominiert von der Klostermannova chata, einem 1924 erbauten Gästehaus, entworfen von dem Tschechischen Architekten Bohuslava Fuchse, benannt nach dem Österreichisch-Deutsch-Tschechischen Schriftsteller Karel Faustin Klostermann (geboren am 13. Februar 1848 in Haag am Hausruck, gestorben 17. Juli 1923 in Štěkeň), der neben Adalbert Stifter und Maximilian Schmidt zu den bedeutendsten Schriftstellern des Böhmerwaldes zählt … und den heute kaum jemand mehr kennt.

Wie dem auch sei, die Klostermann-Hütte ist ein massives, bolliges Bauwerk, die große Terrasse vor dem Haus mit Blick in’s Tal bei schönem Wetter sicherlich schön, innendrinnen ist’s – trotz der äußeren Größe – erstmal eng, es riecht nach Toilette, über eine schmale Treppe gelangt man in die Gasträume, hier hat sich kommunistischen Zeiten wahrscheinlich wenig verändert, Steinfußboden, Gastronomie-Systemmöbel, immerhin weiße Tischwäsche, Blechbesteckt, Schanktresen, Reste vom Frühstücksbuffet, Motivations-gebremste Bedienung, ein brummiger Rezeptionist, wahrscheinlich der Chef, ein paar Einheimische beim Essen, in einer Ecke erledigt ein Vertreter bei einem Kännchen Kaffee seine Buchhaltung, Kantinen-Atmosphäre, heimelig oder gastlich oder rustikal-gemütlich oder anspruchsvoll-gastronomisch, das geht alles anders. Meine geliebte Svícková mit Böhmischen Knödeln – Rindslendenbraten in Sahne-Gemüse-Sauce gegart – gibt es nur abends, untertags wird nur eine stark verkürzte Lunch-Karte angeboten, aber sei’s drum … Es gibt rustikale Landküche, bis auf den Putenfleischspieß meist typisch Böhmisch, dicke Kartoffelsuppe mit Waldpilzen, Entenleber mit Knoblauchschmalz, Rote Beete mit Ziegenkäse, Lammragout mit Kartoffelbrei, confierte Entenkeulen mit Blaukraut und Semmelkartoffelknödeln, Schweinebraten mit Sauerkraut und Kartoffelknödeln, marinierte Schweinerippchen mit Senf, Meerrettich und Gebäck, ein paar Salate, einen Alibi-Lachs, für die Ess-Gestörten Buchweizen-Kartoffelknödel gefüllt mit geräuchertem Tofu und Brokkoli, Blattspinat und Sellerie (wer mag sich nur solch monströse Zubereitungen nur ausdenken – wahrscheinlich jemand, der Vegetarier nicht mag), schließlich Pfannkuchen mit Blaubeeren (aus dem Glas) und Sauerrahm zum Dessert. Die Abendkarte ist mit 13 Seiten um ein Vielfaches umfangreicher und lässt den dringend Verdacht aufkommen, dass diese diverse Vielfalt von Forellenfilet mit Knoblauchcreme bis Rinderlende in Pflaumensauce keineswegs frisch zubereitet werden kann. Das Pilsner ist süffig und frisch, die hausgemachte Limonade entpuppt sich als Sirup mit Leitungswasser aufgegossen und mit einem dicken Löffel Dosen-Obst-Stücklein verfeinert. Zum Essen selber – Kartoffelsuppe: dick, sahnig, viel Majoran und Kümmel, Pilzstücklein darinnen wabblig-schleimig. Rindssuppe mit Nudeln: fett, säuerlich, wenig Rinder-Geschmack, zerkochte Julienne, zerkocht-breiige Nudeln. Rote Beete mit Ziegenkäse: breiige, geschmacksarme Stücklein Roter Beete aus dem Glas bestreut mit zerbröseltem, salzigen Frischkäse und ein paar verwelkte Raukeblättern. Schweinsbraten: aufgewärmt, 1 Scheibchen guten Fleischs, lauwarmes, aber gutes Sauerkraut, das Sößchen nicht aufgewärmt (sondern kalt), geschmack- und belanglos, die (aufgewärmten) Brocken von Semmelkartoffelknödeln sind Monster, für die man einen Waffenschein braucht, schwer, kompakt, magenfüllend, geschmacksarm (Muskat und Petersilie passten gewiss gut), die könnte man auch eine Kanone stecken und böse Feinde damit beschießen, die Wirkung solcherlei Geschosse wäre gewiss desaströs. Paniertes Kaninchen: ganz ein kurioses Gericht, ein paar Scheiblein furztrockenen Kaninchenfleisches paniert und in die Fritteuse geworfen, dazu aufgewärmte Salzkartoffeln, Zitronenschnitz und eine zum Fächer geschnittene Salzgurke, keine Sauce, kein Nichts sonst dazu. Die Pfannkuchen zum Dessert wohl in der Mikro aufgewärmt, gefüllt mit ein paar Löffelchen minderwertiger Heidelbeeren aus dem Glas und einem Schlag Saurer Sahne.

Tja, mir hat all das weder geschmeckt noch gepasst, und entsprechend grantelnd saß ich am Tisch. Dazu musste ich noch fahren und daher die hausgemachte Limo trinken, während Caro sich vor meinen Augen am Pilsner verlustierte. Und dann sagte Caro eben – ich komme zurück auf den Anfang –, sie müsse mich jetzt mal schimpfeln. Schließlich, so Caro, seien wir in der Tschechei, und wenn die Leute hier so äßen, dann hätten wir das zu respektieren und ich solle aufhören, über das Essen zu meckern. Ausnahmsweise wagte ich es einmal, mich hier mit Caro anzulegen, denn böhmisch-tschechisches Essen kenne ich recht gut, und ich habe vielfach erleben und schmecken dürfen, dass das auch viel, viel leckerer geht. Nein, entgegnet mir Caro, das hier sei ja wohl authentisches Essen vor Ort, wenn es alle Tschechen das hier essen. Erst einmal seien das hier nicht „alle“ Tschechen, sondern nur ein paar, und es gebe ganz gewiss mehr davon, entgegnete ich. Und außerdem, zerkochte Gemüsestreifen in der Suppe, aufgewärmter Braten, kalte Sauce, … you name it … , das sei keine authentische lokale Küche, das sei einfach nur schlechte  Küche. Wenn die Leute hier paniertes furztrockenes Kaninchenfleisch aus der Fritteuse mögen oder Rindssuppe mit viel Fett oder schwere Klöße aus Semmeln und Kartoffeln, da hat sich der Reisende nicht einzumischen, sicherlich, lokale Küche ist lokale Küche. Aber wenn diese lokale Küche schlecht gemacht ist, da kann der Reisende dann schon eine Meinung haben. Nein, könne er nicht, entgegnete Caro. Vielleicht sei hier das Aufwärmen von Schweinebraten-Scheiben in der Mikro zusammen mit kalter Bratensauce ja gerade der letzte kulinarische Schrei und die Leute hier stünden total darauf. Nein, entgegnete ich, das würde ich jetzt nicht gerade glauben …

Wir fuhren an diesem Tag schweigend zurück.

Hotel Klostermannova chata
Modrava 4
341 92 Modrava
Tschechische Republik
Tel.: +420 (376) 32 42 56
E-Mail: info@klchata.cz
Internet: www.klchata.cz

Hauptgerichte von 5,40 € (Hühnerfleisch mit Kräutern) bis 14,70 € (Gebratene Entenbrüste mit Äpfeln in Preiselbeerensoße, Bauernkartoffeln), Drei-Gänge-Menue von 10,40 € bis 24,80 €

Doppelzimmer mit Frühstück (pro Zimmer, pro Nacht) 52,70 € bis 72,20 €

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2 Comments

  1. Thomas Roden

    Hallo,

    das ist ja mal wirkleich eine treffende Schilderung von schlechter Küche. Wir fahren nun seit ca 15 Jahre mit einer grossen Truppe ( ca 15 Pers) alternder Männer zum Skilanglauf in den Böhmerwald ins Hotel Klostermannovachata. Es gab dort auch einmal Köche.
    Das muß aber länger her sein.
    In diesem Jahr erlebten wir ebenfalls den Untergang des kulinarisch böhmischen Abendlandes . Nach dem ersten Abend im Hotel wurde das Auswandern zum Abnedessen mit unserer Truppe zur Pflicht um weitere Schädigungen von uns fernzuhalten.
    Gleich gegenüber, ca 150 m entfernt, gibt es das Restaurant Kuckucksuhr. Dort kann man kochen. Auch die Brauereigastronomie erfreut mit kurzer, frischer Karte.

    So zogen wir jeden Abned am Manager vorbei zur Konkurenzgastronomie.

    Auf Nachfrage haben wir unsere Kritik an der Küche kurz beim momentanen Manager kundgetan. Seine Antwort auf unsere Beschwerde:
    Im nächsten Jahr sei man bereits ausgebucht mit einer Gruppe, die Halbpension gebucht hat.

    So geht man dort mit Stammgästen und Kritik um.

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