Essen als Nothdurft ist die Befriedigung des existentiellen Bedürfnisses. Es steht auf derselben Stufe wie der Stuhlgang oder das Atmen. Ohne ein Minimum an Nahrungszufuhr funktioniert der Körper nicht. Hier sind Mensch und Tier identisch. Wenn materielle Not den Menschen nur erlaubt, das wirklich Notwendigste zu essen und zu trinken – manchmal sogar weniger als das – so ist dies tragisch. Und obwohl in Mitteleuropa dieser existentielle Mangel an Nahrung nicht oder nur selten herrscht, ist für einen Großteil der Bevölkerung Essen nichts weiter als Nothdurft, auf einer Stufe mit dem Stuhlgang und zumeist auch ebenso unappetitlich.
Das Desinteresse am Essen ist nicht ökonomisch begründet. Nahezu jeder hat hierzulande die finanziellen Mittel, gut zu essen, wobei „gut“ kein Synonym für „teuer“ ist; nicht Lachs und Kaviar sind gutes Essen, ein selbstgemachter Kartoffelbrei mit ein paar kross gebratenen Zwiebelchen kann ohne sonderliche Kosten weitaus delikater sein, erfordert allerdings ein wenig Arbeit und Interesse an der Sache. Auch logistische Gründe können hierzulande nicht als Entschuldigung für mangelnde Eßkultur gelten; erstens erhält man fast überall wenigstens ein paar wirklich eßbare Lebensmittel, zweitens bedarf es eben nicht Laches und des Kaviars, um Köstlichkeiten zuzubereiten (Altvater Escorfier hat es für „seine“ Offiziere im Ersten Weltkrieg vorgemacht).
Man muß einfach akzeptieren, daß viele Menschen einfach kein oder kaum Interesse an dem, was und wie sie essen haben, so wie andere kein Autofahren mögen oder keinen Sex oder keine klassische Musik und so weiter. Vorlieben und Abneigungen kann man nicht oktroyieren. Tragisch ist allerdings, daß in immer mehr Elternhäusern die Möglichkeit der Kinder, Freude an der Eßkultur zu lernen, bereits im Keim erstickt wird. Generell wäre das Desinteresse am Essen durchaus tolerabel, da dadurch scheinbar niemand belästigt wird, sofern man öffentliche Klopsbratereien oder lustlos das Essen hinunterschlingende Tischgenossen nicht doch als Belästigung ansehen will. Genauer betrachtet muß man jedoch feststellen, daß dieses Desinteresse am Essen zur Folge hat, daß auschließlich billige und/oder bequeme Nahrungsmittel gekauft werden. Und das wiederum hat zur Folge, daß eine maßlos gewordene Industrie in Gang gesetzt wird, die Hühner in Batterien quält, Felder überdüngt, Äpfel quer durch die Welt fliegt oder Schweine mit Fischmehl blitzmästet. Und es hat ebenfalls zur Folge, daß weltweite Lebensmittelkonzerne immer mehr denaturierte Lebensmittel mit immer mehr chemischen Zusätzen und immer geringeren Herstellungskosten verkaufen können. Insofern belästigt der am Essen desinteressierte Zeitgenosse seine Umwelt nicht nur, er trägt auch in ganz erheblichem Maße zu ihrer Schädigung bei.
Weitaus sympathischer sind Menschen, für die Essen ein wesentliches Stück Kultur ist. Auch hier geht es nicht in erster Linie um Kaviar und Lachs. Interesse am Essen fängt mit der Auswahl der Lebensmittel an. Man kauft entsprechend dem eigenen Geldbeutel, achtet dabei aber unbedingt auf Qualität. Und wenn das Geld knapp ist, kauft man lieber nur ein halbes Dutzend Eier aus artgerechter Haltung, bevor man das billige Dutzend aus der Batterie nimmt; dabei ist es hier letztendlich egal, ob der Käufer ein guter Mensch ist, der sich um die gequälte Kreatur schert, wichtig ist allein, daß die Eier nicht nach Fischmehl schmecken. Die Zubereitung der Speisen erfolgt mit mehr oder weniger Sachverstand, aber immer mit Liebe; viele Liebhaber gepflegten Essens können noch nicht einmal kochen, wissen aber ein gutes Mahl zu schätzen und zu würdigen. Und der Liebhaber guten Essens ißt nicht, er speist. Auch das heißt nicht unbedingt Damast, großes Gedeck, Kerzen und Blumenschmuck (kann es aber durchaus), der Schritt vom Speisen zum Essen kann viel simpler sein. Ein gedeckter Tisch, zumindest zusammenpassendes Geschirr und Besteck, bitte keine Kochtöpfe auf dem Tisch (es sei denn bei Fondue oder Paella), ein Minimum an Tischsitten und natürlich ein wenig Zeit für das Essen, am besten in guter Gesellschaft. Überhaupt hat das gemeinsame Mahl, das convinium in den meisten Weltkulturen eine Gemeinschafts-stiftende und –bekräftigende Funktion. Während man miteinander aß und trank galt es gemeinhin als unschicklich, sich gegenseitig totzuschlagen (was nichts daran änderte, daß es trotzdem immer wieder mal vorkam), und auch nach vollzogenem Mahle fühlte man sich verbunden und damit war die Gefahr desgegenseitigen dahinmetzelns deutlich geringer. Diese Tradition hat sich unter den modernen Kämpfern der Jetztzeit bis heute unter dem Begriff „Geschäftsessen“ gehalten, und noch immer wird so mancher Streit „bei einem Bier“ begraben.
Dies sind letztendlich – wichtige, aber eben doch nur – Präliminarien, der wirkliche Genuß kommt erst danach. Er setzt zweierlei voraus. Zum ersten das Bewußtsein, Geschmack als Genuß und Quelle der Freude und des Wohlbefindens zu empfinden, aber das kann man – wie gesagt – niemandem oktroyieren. Verbunden mit diesem Bewußtsein ist fast immer eine Art Dankbarkeit, daß man nicht nur genug zu essen, sondern sogar genug gutes Essen hat; auch wenn das Tischgebet und die Segnung des frischen Brotes der Vergangenheit angehören, so kann ein kurzer Moment des Verweilens, Nachdenkens und Dankens (wem auch immer) vor jedem Mahl keinesfalls schaden. Zum zweiten ist für Genuß die gustatorische Fähigkeit notwendig, Geschmack in seinen Nuancen und Qualitäten überhaupt wahrzunehmen. Dies erfordert sowohl eine Schonung der eigenen Geschmackspapillen vor Rauch, zu scharfen Gewürzen, dauerhaft versalzenen Speisen, Mengen von harten Spirituosen usw. als auch ein ständiges Training des Geschmacks. Wer sein Leben lang Fleischbrühe aus Brühwürfeln gegessen hat, wird lange Zeit mit einer echten klaren Rinderkraftbrühe wenig anfangen können; immer mehr Menschen halten den penetranten Geschmack von Vanillin für den echten Vanillegeschmack. Schmecken muß gelernt sein, und Eltern, die ihren Kindern diesen Lernprozeß durch die konsequente Verabreichung schlechten Essens versagen, sollten wegen Unterlassung elementarer Erziehungspflichten belangt werden.
Es ist allerdings nicht gesagt, daß der Genießer ein sonderlich gesunder oder guter Mensch sein muß. Sicherlich kann man genießen und gleichzeitig gesund leben, aber das ist nur der halbe Genuß. Wahrer Genuß wird immer etwas ungesund sein, ein wenig zu viel Fett in der Sauce, ein halber Liter Sahne im Dessert und lieber nur einen kleinen Salat – all das mag ernährungsphysiologisch schlecht, aber gustatorisch sehr, sehr gut sein. Und wenn alle Genießer gute Menschen wären, so müßte nicht nur der Kaviar-Konsum, für den lebenden (!) Störmamis der Bauch aufgeschlitzt, die Eier herausgeschabt und die Fische lebend wieder ins Wasser geworfen werden, radikal eingestellt werden, sondern es wäre fraglich, ob man kleine Kälbchen mit einem Bolzenschußgerät töten und braten sollte und so weiter und so fort. Nein, Genießer sind unter diesen Gesichtspunkten sicherlich keine vollkommen guten Menschen, aber Veganer sind ebenso sicherlich keine Genießer und außerdem langweilig.