Freunde meiner Eltern hatten irgendwo in der Schweiz, zwischen See und Berg eine Ferienwohnung, in der wir in meiner Jungend manchmal Urlaub machten. Wenn man hinter dieser Wohnung ziemlich lang den besagten Berg hinaufstieg, kam man zu einem entlegenen Bergbauernhof, und dort wartete die eigentliche Sensation des ganzen Schweizurlaubes. Obwohl der Hof keine Gastwirtschaft hatte, konnte man die Bäuerin bitten – wenn sie denn gerade Zeit hatte – , Rösti zu machen, handgeriebene Rösti mit frischer Almbutter in einer schweren schwarzen gusseisernen Pfanne über einem offenen Feuer gebraten, dazu frische Milch. Seit meinen ersten echten Rösti in diesem Bergbauernhof weiß ich nicht nur, welche Köstlichkeit Rösti sein können, ich weiß auch, was Manfred Schweiß vom deutschen Michelin meint, wenn er von einem kulinarischen „Aha-Erlebnis“ spricht.
Trotz allen Dauerlamentierens über schlechtes Essen hatte und habe ich immer wieder solche Aha-Erlebnisse, die keineswegs auf folkloristische Kost in eben solcher Umgebung noch auf Sterne-Restaurants beschränkt sind. Mein erstes Schnitzel in meinem Wiener Stammbeisel (nein, ich schreibe nicht, welches) und natürlich das Saftgoulasch auf dem Wiener Westbahnhof (vor dem unseligen Umbau der Gastronomie), eine Seezunge in La Rochelle frisch vom Schiff, die Lasagne einer recht rustikalen Pensionswirtin in Wolkenstein in Südtirol, frische Butter in der Normandie (dazu Cidre brut und Baguette, sonst nichts), Ederers Allacher Gockel in München, aber auch (ich stehe dazu) der erste richtige Hamburger meines Lebens an der Küstenstraße südlich von Los Angeles, kurz vor Mexico.
All diesen Gerichten sind drei Dinge gemeinsam. Erstens sind die Zutaten gut (vielleicht noch nicht einmal „bester“ Qualität) und vor allem frisch, sie stammen unmittelbar aus der Region, haben keinen Logistikwahnsinn hinter sich, und jeder einheimische Kunde kann ihre Qualität beurteilen. Zweitens sind die Zubereitungsarten meistens seit Jahrzehnten und Jahrhunderten bekannt, erprobt, weiterentwickelt und perfektioniert; hier werden keine kurzfristigen und oft abenteuerlichen kulinarischen Moden zelebriert, sondern einfach die Krönung einer langen Entwicklung. Und drittens schließlich sind diese Gerichte authentisch, sie stammen aus der Region, werden in der Region gegessen und sind Teil der Region. Man kann sie schwer oder gar nicht verpflanzen. Ich bin mir sicher, meine Schweizer Bergbäuerin könnte ihre Rösti in einer perfekt ausgestatteten Großküche irgendeiner Großstadt auch bei optimaler Versorgungslage nicht authentisch nachkochen; vielleicht liegt es zum Teil auch an der subjektiven Wahrnehmung des Essers, dem der beschwerliche Aufstieg, die Vorfreude und die Bergluft fehlen.
Werner Matt, ein von der Kritik viel zu wenig beachteter Koch, der hohe französische Kochschule und traditionelle österreichische Küche ohne Worthülsen wie „leicht“, „ernährungsphysiologisch ausgewogen“ oder „jung“ auf konservative, aber geniale Weise miteinander zu verbinden versteht, erzählte sehr treffend von seinem „Würschtl-Problem“. Die Küche des Wiener Hilton, deren Chef er vor Jahren war, zählte beileibe nicht zu den schlechtesten; und dennoch schafften Matt und seine Brigade es nicht, Würschtl – Kolobassen, Frankfurter, Krainer usw. – so hinzukriegen, wie am Würschtlstand an der Ecke in Wien. Egal, ob man billige, teuere oder selbstgemachte Würste verwendete, egal, wie man ihre Erhitzung variierte, egal, welche Beilagen man servierte, egal, welches Geschirr – sogar Pappe wurde ausprobiert – man verwandte, es war nicht das selbe wie am Würschtlstand. Nach langem experimentieren fanden er und sein Team des Pudels Kern: Erstens hat das Wasser zum erhitzen der Würtschen am Stand aufgrund des hohen und verschiedenen Umsatzes an Würsten eine ganz andere Konzentration und einen intensiveren Eigengeschmack als das jeweils frisch aufgesetzte Wasser im Hotel. Und zweitens braucht das echte „Würschtl“ die Ungemütlichkeit des Essens im stehen, ein wenig Abgase am Straßenrand, etwas Hektik und Eile und den Beigeschmack von Pappe; in einer gepflegten, gediegenen Hotelatmosphäre entwickelt das selbe Würstchen ganz andere Geschmackswahrnehmungen beim Esser, wird also nie das selbe sein wie am Stand: es verliert seine Authentizität. Matt gab daraufhin den Versuch, echte „Wiener Würschtel“ auch im Wiener Hilton servieren zu wollen, auf.
Und Gunther Emmerlich, begnadeter ostdeutscher Schauspieler und Entertainer thüringischer Herkunft, sächsischer Provenienz und gesamtdeutschen Anspruchs mit gesegnetem Appetit erklärte anlässlich eines k.u.k.-Buffets (mit reichlich Knödeln) das wahre Wesen des original Thüringer Kloßes aus seiner Heimat. Der nämlich müsse aus handgeriebenen Kartoffeln bestehen, keinesfalls aus maschinell zerkleinerten Knollen, und der authentische Geschmack komme allein durch ein paar mitgeriebene Fingernägel und einige Tropfen Blut (Koch-Blut beim Reiben entstanden, versteht sich) zustande. Dies ist die vielleicht treffendste und richtigste Beschreibung einer authentischen Küche.
Diese Authentizität garantiert in der Regel Speisen aus sehr guten Zutaten in sehr guten Zubereitungen zu sehr moderaten Preisen. Ob man persönlich authentisches Labskaus oder Beuscherl mag oder nicht, bleibt jedem selber überlassen, aber gut wird es auf jeden Fall sein. Authentische Küche ist immer konservativ und sie ist selten wirklich vielseitig. Sie beschränkt sich auf wenige Gerichte und würde damit einen kompletten Speiseplan weder kulinarisch noch ernährungsphysiologisch befriedigend abdecken. Dem Reisenden hingegen bietet die authentische regionale Küche nicht nur Möglichkeit, neues und typisches kennenzulernen, Speisekarten und Speisen sagen darüber hinaus mit einem Schlag oft mehr über Ökonomie und Kultur eines Landstrichs und seiner Bewohner aus als wochenlange Studien.
Authentische Küche ist heute nicht nur nostalgisches Relikt aus Omas Zeiten und folkloristisches Accessoire gut besuchter Touristenregionen; sie ist auch mehr als eine Ernährungsquelle von dumpf und dumm ausschließlich Spätzle kauenden Schwaben oder Hamburger fressenden Amerikaner. Authentische Küche ist vielmehr die eigentliche „“Muse“ der modernen Kochkunst. Über Jahrzehnte hinweg war der Hauptverdienst von Spitzenköchen nicht etwa das Kochen, sondern die absurde Organisation der Erzeugung und Verbreitung von Lebensmitteln, die weder in eine Region noch in eine Jahreszeit passten, gepaart mit der Ausschlachtung fremder Kochkulturen zur Entwicklung eigener, neuer, möglichst exotischer oder ungewöhnlicher Kochkreationen. Kreative Küche nannte man das ganze dann und war stolz darauf. (Und das schlimmste ist: wir haben’s gegessen!) Rückbesinnung auf die Regionen und auf althergebrachte Rezepte lautet hingegen heute das Motto. Der moderne Koch klaut nicht mehr bei seinem französischen oder chinesischen Kollegen, jetzt ist Omas Kochbuch dran. Auch bei der mächtigen Eurotoques-Vereinigung hat diese Entwicklung mit der Gründung der Aktion „Gourmets for Nature“ ihre Spuren hinterlassen. Sicherlich ist es gut und lobenswert, wenn sich Spitzenköche um die Bewahrung und Weiterentwicklung des traditionellen, regionalen kulinarischen Erbes kümmern, aber dies ist letztendlich doch nur wieder eine Mode, die in zehn, fünfzehn Jahren vorbei sein wird.
Weitaus schlimmer, geradezu dramatisch ist die Bedrohung der authentischen Küche aus einer ganz anderen Richtung, nämlich durch die Lebensmittelindustrie. Um bei den bereits eingangs erwähnten Rösti zu bleiben: industriell produzierte und tiefgefrorene „Röstinchen“ oder „Rösti-Taler“ sind nicht nur eine geschmackliche Katastrophe; sie sind ein Verbrechen gegen das Kulturgut Rösti und gegen das Kulturgut Kartoffel überhaupt, und ihre Herstellung, Verbreitung und Benutzung gehörten als solche bestraft. Relativ harmlos wäre diese Entwicklung, wenn nur Hausfrauen und Köche, die einmal in der Schweiz echte Rösti gegessen haben, daheim tiefgefrorene Derivate auf den Tisch brächten. Hier könnte man immer noch argumentieren, diese Derivate erzeugten auch bei den Daheimgebliebenen den Geschmack auf echte Rösti. Weit gefehlt. Tatsächlich beginnen diese Derivate in immer stärkerem Maße, ihre Originale auch an ihren Herkunftsorten zu verdrängen. Ich habe in der Zentralschweiz Tiefkühl-Rösti, in Österreich schon „Wiener Schnitzel von der Pute“ und in Schwaben Tütenspätzle vorgesetzt bekommen. Sakrileg, Sakrileg! Wenn eine Sennerin bemerkt, daß sie mit tiefgekühlten Produkten bei einem Zehntel des ursprünglichen Arbeitsaufwandes kurzfristig ein Fünffaches des ursprünglichen Gewinns erzielen kann, so wird sie vielleicht bis wahrscheinlich den marktwirtschaftlichen Versuchungen erliegen. Betriebswirtschaftlich gesehen hat sie vollkommen Recht, kulinarisch begeht sie eine Sünde, kulturell ein Verbrechen (wobei der eigentliche Verbrecher nicht die Sennerin ist, sondern vielmehr der Kunde, der den wohlfeilen Scheiß kauft und frisst).
Convenience-Produkte können heutzutage kaum mehr verboten werden, sofern man nicht direkt nachweisen kann, daß sie unmittelbar noch gesundheitsschädlicher sind als das Rauchen (wobei ich persönlich der Meinung bin, daß dies bei den meisten Convenience-Produkten zutrifft). Es wird immer mehr Landwirte, Chemiker, Manager, Banker und vor allem Verbraucher geben, die Tütenfutter jeder Art aus den unterschiedlichsten Gründen bevorzugen: letztere, weil sie unkritische, faule, geizige, kulturlose und abgestumpfte Allesfresser sind (unverzeihlich!), die anderen, weil sie einfach schnell und problemlos Kohle machen wollen (allzumenschlich und daher verzeihlich). Das deutsche Reinheitsgebot für Bier garantiert uns trotz aller Aufweichungen und Aufweichversuche, daß Bier im Prinzip richtig und ursprünglich hergestellt wird. Ähnliches würde ich mir für regionale Produkte wünschen, eine Art Authentizitäts-Siegel. Noch besser allerdings gefiele mir ein Pflichtaufdruck auf alle nicht-authentisch, künstlich hergestellten Lebensmittel: „Diese Wurst wurde nicht nach dem deutschen/europäischen – oder besser doch: piemontesischem – Reinheitsgebot für Würste hergestellt; sie enthält folgende untypische Zutaten ….“