Da berichten die gleichgeschalteten Systemmedien im besetzten Deutschland von suspendierten Richtern, verhafteten Militärs, entlassenen Polizisten, gemaßregelten Professoren, zwangs-geschlossenen Medienunternehmen; gleichzeitig schreiben larmoyante Eingeborene und wohlmeinende Gutmenschen Jammerbriefe und Kolumnen über verwaiste Plätze, verstummte freie Rede, Unterdrückung an allen Ecken und Enden, pure Angst, leere Cafés, mangelnde Luft zum Atmen, und die Systemmedien mit der selbstgängelnden Journaille an ihren fetten Trögen greifen das gerne auf, verhalten zwar nur, Erdogan-Bashing ist derzeit nicht ganz so en vogue wie Putin-Bashing, auf diesen darf man heutzutage ungestraft ungezügelt medial eindreschen, auf jenen hingegen nicht ganz so, das multikulturelle ehemalige FDJ-Mädel aus Mecklenburg-Vorpommern braucht ihn gerade. Das ist das Bild, das die Systemmedien von Erdogans derzeitiger (Herbst 2016) Türkei zeichnen. Gemaßregelte Staatsbedienstete und geschlossene Medien, das mag Fakt sein, Machtpolitik eines angehenden Despoten, nicht anders als etwa in China, ungleich besser aber zum Beispiel als beim Verbündeten und Waffenkunden, aber öffentlich gänzlich ungescholtenen Saudi-Arabien, auch stehen heute in Istanbul an jeder Straßenecke Polizei und Militär, vor allem aber para-polizeiliche Milizen, alles junge Kerle, keine Uniformem, nur Westen, die sie als Offizielle ausweisen sollen, mit Pistolen ohne Halfter, die Wumme einfach wie Terence Hill in den Hosengürtel gesteckt, andere tragen Maschinengewehre wie Rambo locker über die Schulter, dabei mit der Mündung beunruhigend unablässig in irgendwelche Menschenmengen zielend, dazu Meere von roten Halbmond-Fahnen in der gesamten Stadt, außerdem vier konsekutive hochnotpeinliche Sicherheitskontrollen am Flughafen, selbst vor den Bazars in der Altstadt und den Nobel-Einkaufszentren für die reichen Araber und Russen am Stadtrand Bodyscan, Fahrzeug- und Taschenkontrolle, vor und im Hotel wenigstens ein halbes Dutzend kräftiger Männer mit Knopf im Ohr und ausgebeultem schwarzen Anzug. Ja, das ist derzeit so in Istanbul. Ansonsten aber, ansonsten ist alles wie immer, bis auf die ausgebliebenen Touristen und die etwas leereren Bazare. Die Straßencafés und Restaurants sind voll, die meisten Taxifahrer, die Englisch oder in der Mehrzahl sogar eher Deutsch können, fluchen wie die Holzhacker auf Erdogan und seinen Clan, in den Einkaufsstraßen wuseliges Treiben und Handeln, im gesamten Stadtbild – auch auf der asiatischen Seite – deutlich weniger Frauen mit dem Schandfetzen als in Oberhausen oder Kreuzberg, unglaublich freundliche Menschen, nur im Handeln und Feilschen Schlitzohren vor dem Herren, auf der Straße Weibspersonen mit tiefen Dekolletés ohne Büstenhalter, die selbst an der Côte d’Azur ein Hingucker wären, junge Männer mit tätowiert-entstellter Haut, Klempnerladen im Gesicht und Wischmopp auf’m Kopp, wenn vor vielleicht zehn Jahren der Muezzin tagsüber rief, schlossen Heerscharen von Männern ihre Geschäfte, wuschen sich die Füße und strömten in Massen in die nächste Moschee, heute sehe in nämlicher Situation nur noch ein paar alte Männer vereinzelt in die Moscheen schlurfen, selbst die Große Moschee, Heiligtum des Islam, ist beim Freitagsgebet maximal zu einem Viertel gefüllt, radikal-bedrohlichen Islamismus stelle ich mir anders vor, es gibt Sexshops, auf einem Straßenmarkt bietet eine alte Frau Schmuddelheftchen und Dildos offen auf Zeitungspapier liegend auf dem Gehweg an (nicht, dass ich dererlei Lektüre goutierte, aber es zeugt doch von einer gewissen Art von Liberalität), Hegel, Kant, Lenin, sogar den „Essay sur les Privilèges“ und „Qu’est-ce que le tiers état ?“ von Emmanuel Joseph Sieyès (kreuzgefährlicher Stoff für jeden Despoten) finde ich auf Türkisch in den Buchläden und zahlreichen Antiquariaten, auf dem berühmt-berüchtigten Taksim-Platz ganz normales Leben, um den Platz herum zähle ich – auch wenn es der Tatsache geschuldet sein mag, dass hier das Konsulats- und ehemalige Europäer-Viertel ist – deutlich mehr christliche Kirchen als Moscheen, im Internet erreiche ich jede beliebige Seite, im Fernsehen sehe ich CNN oder Deutsches und Russisches Staatsfernsehen, an internationalen Zeitungs-Kiosken kann ich an weltweiter Presse fast alles kaufen, hier ist von Zensur und Repressalien keine Spur. Das also ist das vor Ort real wahrgenommene Istanbul dieser Tage.
Einerseits die gleichgeschalteten Systemmedien-Berichte, andererseits die real wahrgenommene Oberfläche vor Ort. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie so oft dazwischen, vielleicht ist die „Wahrheit“ auch viel vielschichtiger, als uns die Verdummungs-Medien zu erklären vermögen – oder wollen. Ein Teil dieser vielschichtigen Wahrheit ist die neu entstandene Kneipenmeile im Stadtteil in Beyoğlu am Wasser bei den alten Kais von Karaköy. Früher war diese Gegend recht heruntergekommen, erst weiter nördlich, bei den Sommerpalästen der Sultane und den Atatürk-Bauten, wurde es wieder ansehnlicher. Nicht zuletzt durch die Eröffnung des Istanbuler Museums für Moderne Kunst mitten in Karaköy im Jahr 2004 hat die Ecke viel an Leben und Attraktivität gewonnen; und auch hier wieder, gezeigt wird gerade eine Retroperspektive von İnci Eviner, die als engagierte, unbequeme, sicherlich nicht System-konforme Künstlerin (berühmt ihre Harems-Arbeit) gewiss nicht in das Bild einer reaktionären, diktatorischen, frauenfeindlichen Türkei passt.
In dieser Gegend also, in den kleinen Gassen von, zwischen und um Mumhane Caddesi und Ali Paşa Değirmeni Sokak haben sich dicht an dicht zahlreiche Cafés, Kneipen, Musik-Lokale, Burgerbratereien, Restaurants angesiedelt, traditionelle türkische Grill- und Konditor-Länden hingegen fehlen vollends. Dazu gibt es ein paar kleine Boutiquen, Bücherläden, Schmuckmacher, Handwerker, Möbel-Designer, Klamottengeschäfte, Galerien, aber ohne Touristenramsch aus Fernost, sondern noch echte einheimische Handwerker- und Manufaktur-Ware. Die üblichen Touristen-Nepp-Läden mit Souvenirs, Softeis, Sandwiches und Bild-Zeitung fehlen (zum Glück) völlig, die Speisekarten sind allein auf Türkisch und nicht in aller Herren Sprachen und Bebildert für die ganz Tumben, hier trifft sich junges einheimisches Volk um was zu trinken, zu essen, zu reden, zu feiern, um abzuhängen, zu relaxen, zu flirten, um Musik zu hören, … was junge Leute halt so machen. In den Gassen gibt es (fast) keine Autos, zuweilen knattert ein Moped durch, ansonsten sie die Sträßchen vollgestellt mit Tischen, Stühlen und Bänken vor den Lokalen, zuweilen auch mit den Instrumenten und Verstärkern von Bands, die einfach so – ohne Eintritt – vor den Lokalen moderne, meist westliche Weisen zum besten geben. Das Publikum ist jung, urban, westlich, freundlich, offen, gestrige Schandfetzenträgerinnen und Radikalrauschebärte im Betttuch fehlen gänzlich, die Atmosphäre ist entspannt, leger, angenehm, offen, tolerant, leben und leben lassen. Man trinkt Kaffee, Tee, Cocktails und man isst Mezze bzw. auf Türkisch Meze (das Wort stammt aus dem Persischen, mazze bzw. mazīdan heißt so viel wie Imbiss oder Geschmack), die traditionell im gesamten Mittelmeerraum als kleine Speisen, Vorspeisen, Häppchen, Imbiss mit großer Vielfalt verbreitet sind.
Caro und ich lassen uns treiben, einen Drink hier, ein Häppchen da, die Menschen sind freundlich und offen, wir beide heben den Altersdurchschnitt signifikant, wir trinken Raki mit Eiswasser, Çay, die fast überall reichlich und bunt angebotenen Cocktails sind nicht wirklich zu empfehlen, aber die Caipirinhas sind allein schon wegen der meist tollen Minze gut, an einer Straßenecke singt eine junge Frau, begleitet von Keyboard, Drums, E-Gitarre und –Bass durch ein Mikrophon, dass sie wie Mick Jagger keine Befriedigung erlangen kann, wir essen frittierte leckere Falafelbällchen mit Yohgurt-Dip und einer sensationellen Rote-Bete-Creme, Tabouleh fast ohne Bulgur, weitgehend nur aus marinierter Petersilie, sensationell gutes Olivenöl mit einer getrockneten Peperoni darinnen mit schlechtem Gebäck dazu, wirklich widerliche Canapés auf wabbligem Industriebrot mit räudigem Räucherlachs, muffigem Pressschinkenröllchen, angegorener Avocadocreme, geschmolzenem Analogkäse mit Tomatenscheibchen drauf, auch so geht wohl Mezze – im schlechten Sinne –, dann wieder ein Schälchen phantastische Oliven, gefüllte Weinblätter, irgendwann auch mal einfach ein Teller hausgemachte Pommes (um den ganzen Alkohol halbwegs zu neutralisieren).
Wie meistens ist es Caro, die hier mit wildfremden Leuten am Nachbartisch ins Gespräch kommt, woher man kommt, was man macht, wie man Istanbul findet, wie man heißt, halt so die Gesprächsthemen, mit denen man sich zwischen wildfremden Leuten aneinander herantastet. Bald schon bringt Caro das Gespräch auf politische Themen, was unsere jungen Türkischen Tischnachbarn denn von diesem Erdogan, seiner Politik und seiner stets bekopftuchten Frau, die neulich erst die Vorteile des Harems öffentlich unterstrichen hatte, so halten würden. Ich trete ihr unter’m Tisch unvermittelt ziemlich fest vor’s Schienbein, alldieweil ich dererlei Konversation in dererlei Umgebung für unpassend halte, sie tritt, ohne zu blicken oder ihren Redefluss zu stoppen mit wenigstens der gleichen Stärke zielsicher zurück. Aua, scheiß Emanzipation, so schlecht ist das muselmanische Frauenbild vielleicht doch nicht. Unsere Türkischen Gesprächspartner zeigen keinerlei Scheu oder Schreck ob dieser offenen Fragen, als wäre nichts geschehen, pflegen sie die Kultur der Freien Rede. Sie sprechen vom Stolz des Türkischen Volkes, von andauernden Demütigungen durch den Westen, allen voran durch Imperial-Amerika mit seiner Destabilisierungspolitik im Nahen Osten und der kriegstreiberischen Unterstützung für Israel, von gebrochenen Versprechen der EU, von Bürgern zweiter Klasse, damit meinen sie an uns gerichtet die Türken in Deutschland, das alles, so sagen sie, erkläre in weiten Teilen das Phänomen Erdogan, wobei sie mit längst nicht allem, ja eigentlich dem wenigsten, was er und sein Clan machen, einverstanden seien. Was sie uns in a nutshell sagen ist nicht „Erdogan generell ja, aber ein bisschen gemäßigter …“, was sie sagen ist ganz klar „Erdogan generell nein, aber manche Punkte sind verständlich, in wenigen Punkten hat er auch recht …“ Auch hier wieder, von jungen, gebildeten, weltoffenen Türken, ein weitaus differenzierteres Bild als das, was die gleichgeschalteten Systemmedien vermitteln. Wir werden solche Aussagen noch mehrmals an diesem Abend hören, wir werden auch auf einen Erdogan-Jünger treffen, der sein Idol mit Zähnen und Klauen und meist ziemlich tumben Argumenten verteidigt, ja verklärt, wir werden auf zwei radikale Erdogan-Gegner treffen, in deren ähnlich tumber Argumentation Arschloch, Verräter, Egomane, geld- und machtgieriger Verbrecher die freundlichsten Worte sind, die sie für den Türkischen Staatspräsidenten übrig haben, und sie haben keine Scheu, dies im vollen Lokal gegenüber Fremden laut und deutlich auszusprechen. „Klima der Angst“ geht nach meinem Verständnis irgendwie anders.
Nach ein paar Stunden sind wir leicht angetrunken, im Kopfe verwirrt ob des Alkohols und der Vielfalt der Meinungen und Eindrücke. Die 08/15-Schublade, in die die bundesrepublikanischen Systemmedien uni sono Erdogans Türkei heute eines wie das andere tun – gleichgeschaltet eben – passt da keinesfalls. Caro und ich sind uns darin einig, dass wir weit entfernt sind von einer abschließenden Beurteilung, ja noch längst nicht mal von einem abschließenden Verständnis der Türkei heute, aber unser Verständnis ist gewiss besser als der systemische Einheitsbrei, den Bild, taz, RTL aktuell und heutejournal verbreiten. Vom vielen Reden und Mezze Essen sind wir tatsächlich hungrig geworden, also beschließen wir, den Tag ruhig ausklingen zu lassen. Eigentlich war das Karaköy Lokantası in der Kemankeş Caddesi 37A immer eine sichere Bank für eine ordentliche, türkische Mahlzeit, aber im Laufe der letzten 16 Jahre ist das Lokal so durch die diversen Reiseführer genudelt worden, dass man dort zwischenzeitlich selbst hier in Karaköy mehr Touris als Einheimische antrifft, zu Stoßzeiten braucht man Tage im Voraus eine Reservierung, und das Vorspeisen-Buffet macht uns auch nicht spontan an. Exakt ein Haus weiter kocht seit vielleicht fünf Jahren Didem Şenol in seinem Lokanta Maya ebenfalls authentische Türkische Küche. Während das Karaköy Lokantasi in einem Eckhaus zwei große, offene, gut sicht- und einsehbare Fensterfronten hat, ist das Lokanta Maya ein langer Schlauch, der tief ins Haus hineinragt und nur über eine kleine Fensterfront verfügt, das Lokal ist, obwohl direkt an der Straße, versteckt, und es will offensichtlich auch nicht marktschreierisch daher kommen (flacher Wortwitz: es will offensichtlich nicht offensichtlich sein). An dem Abend sind viele Tische leer, an den besetzten ausschließlich Einheimische, Familien, Pärchen, Männergrüppchen, Geschäftsleute. Mal wieder hilflos blicken wir in die Speisekarte auf Türkisch, wir bitten, man möge uns sechs Mezze ohne wabbliges Meeresgetier und ohne Innereien zusammenstellen, der Kellner versteht uns nicht, Didem Şenol kommt selber an den Tisch und ist hoch erfreut, als wir ihm sagen, dass wir unsere kulinarischen Geschicke an diesem Abend weitgehend blind in seine Hände legen, offensichtlich als Dankeschön stehen plötzlich zwei Raki auf’s Haus vor uns. Später knabbern wir eine scharfe Gemüse-Salsa, Spinatsalat mit Granatapfelkernen, natürlich Humus, Kartoffelsalat mit Karotten und Joghurt, Knoblauchsauce, dicke weiße Bohnen in Tomatensauce, gebratene Paprika, einen höllisch scharfen orange-rötlichen Brei, dazu frisch gebackenes Fladenbrot und – mit guten Gewohnheiten soll man nicht brechen – noch eine Flasche Raki. Das ist ein schöner Abschluss eines ereignis- und aufschlussreichen Nachmittags / Abends gewesen. Und die Mezze in der Lokanta Maya sind mit die besten, die ich diesmal in Istanbul gegessen habe
Lokanta Maya
Didem Şenol
Kemankeş Caddesi 35 A
Karaköy İstanbul, 34425
Tel: + 90 (2 12) 2 52 68 84
Mail: info@lokantamaya.com
Web: www.lokantamaya.com