Der Schelling-Salon in München: Ikonen kritisiert man nicht, maximal berichtet man von ihnen

Summa summarum: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht.“ lautet eine gern bemühte Plattitüde. Der Schelling-Salon in Schwabing ist der lebende Gegenbeweis, dass das nicht zwangsläufig stimmen muss. Das Interieur ist seit 150 Jahren kaum verändert, die Speisekarte zumindest seit den Achtzigern des letzten Jahrhunderts ebenfalls nicht, hier wird museale teutonische Plumpsküche gekocht, meist in ordentlicher, keineswegs herausragender Weise, aber immer ehrlich und zu für Schwabing unschlagbaren Preisen. Was den Schelling-Salon wirklich distinktiv macht, ist die Tatsache, dass dies kein Ort zum raschen Speisen ist, sondern ein Ort zum Verweilen, zum Billard Spielen, zum Karteln, zum Reden, zum nicht alleine Sein, zum Mensch Sein.

Wissen Sie, was ich mit Lenin und Hitler, Brecht, Kandinsky, Rilke und von Horváth gemeinsam habe? Nun, wir alle haben lange Jahre im Schelling-Salon in München verkehrt. Er liegt mitten in Schwabing an der gleichnamigen Straße, keine zehn Minuten von meiner alten Alma Mater entfernt. Nach den Vorlesungen und Seminaren (oft aber auch statt der Vorlesungen und Seminare) pilgerten wir in den achtziger Jahren zum Schelling-Salon, mit nur ein paar Mark in der Tasche, aber irgendwie reichte das immer, zum Bier trinken, Billard und Backgammon spielen, diskutieren, die Welt retten, manchmal auch, um etwas zu essen, bei Schinkennudeln war die Relation von Kosten und Sättigungsgrad eindeutig am besten; die Schinkennudeln gibt’s bis heute. Und wenn das Geld für Schinkennudeln nicht reichte, so standen damals Körbchen mit Semmeln und Brezn sowie Senftöpfchen auf den Tischen; wenn man sich als Bettelstudent ein oder zwei Stücke Gebäck nahm, sie in ein Senftöpfchen eintauchte und verspeiste, sagte keine der Bedienungen etwas oder schrieb sie auf die Rechnung, das ging schon ok, war wahrscheinlich „von oben“ von den Mehrs auch so gewollt. Die Gebäckkörbe gibt’s heute nur noch auf Bestellung gegen Bezahlung. Die Wirtstochter Evelin Mehr stand in den Achtzigern mit ihrer resoluten Mutter Maria unermüdlich von früh bis spät in der halboffenen Küche, ihr Vater Silvester am Schanktresen. Evelin dürfte in etwa so alt sein wie ich, und wann immer ich seit damals im Schelling-Salon war, stand sie in ihrer Küche, ich bezweifele, dass sie viel anderes in ihrem Leben gesehen hat. Ich habe heute einen Doktor-Titel, sie hat eine sehr gut gehende Gaststätte und ein sehr stattliches Mietshaus in einer der besten Gegenden Schwabings, einen Steinwurf von den Pinakotheken entfernt. So geht das Leben, es sei ihr alles gegönnt, sie hat sich das gewiss schwer erarbeitet. Heute arbeitet ihre Tochter im Service mit, das ist dann die fünfte Generation Mehrs, seitdem der Schelling-Salon 1872 von Silvester Mehr gegründet wurde.

Gemeinhin wird das – seit 150 Jahren kaum veränderte! – Interieur als „Wiener Kaffeehaus-Stil“ beschrieben, aber das trifft es nicht. Ja, die Stühle sind typische Kaffeehausstühle – es sollte mich nicht wundern, wenn es echte Thonets sind –, die Tische bestehen zum Großteil aus schweren Marmorplatten auf mit verspielten Ornamenten verzierten Fußkonstruktionen aus Eisen. Der Boden ist robust gefliest, die Decken zurückhaltend mit Stuck verziert, dazwischen an zwei Seiten des Gastraumes lange Fensterfluchten mit Sprossenfenstern mit Gardinen im Rautenmuster, die Wände teils holzvertäfelt. Vielleicht die Hälfte des Gastraums im Erdgeschoss ist mit Esstischen bestückt, auf der restlichen Fläche steht ein gutes Dutzend professioneller, hochwertiger Karambolage- und Poolbillard-Tische, weitere Billard-Tische und Tischtennisplatten gibt es im Keller, dazu sogar ein hauseigenes Museum. Hier spielen echte Profis, die ihre eigenen Queues in noblen Ledertaschen mitbringen ebenso wie blutige Laien wie ich. Die Stunde kostet 12 EURO. Schach, Backgammon, Würfel und Mühle kann man für 8 EURO die Stunde ausleihen, auch Kartenspiele sind gestattet, sofern man die Karten vor Ort für 8, 9 oder 11 EURO kauft. Dennoch ist der Schelling-Salon keine Spielhölle, in der halbseidene Gestalten sich die Zeit zwischen zwei Straftaten vertreiben. Schwabinger Rentner, Geschäftsleute, Handwerker kommen regelmäßig zum Essen her – ein Tagesgericht für 8,20 EURO muss man in dieser Gegend ansonsten suchen. Studenten wie wir damals retten noch immer beim Bier diskutierend die Welt. Besser im Schelling-Salon diskutiert als auf dem Mittleren Ring geklebt. Väter führen ihre Kinder mehr oder minder gekonnt in das Billardspielen ein, junge Frauen spielen konzentriert Schach, Grantler sitzen griesgrämig blickend hinter ihrem Herrengedeck verschanzt in der Ecke, alte Männer karteln, Bohème studieren ausgiebig Zeitungen, tatsächlich noch in gedruckter Form (diese Umweltschweine!), drei junge Südländer spielen in einer unglaublichen Geschwindigkeit Backgammon, einer muss abwechselnd aussetzen, feinere Damen trinken Kaffee und heiße Schokolade, amerikanische und asiatische Touristen staunen und knipsen. Es ist nicht das ganze Spektrum des Schwabinger Lebens hier vertreten, aber doch ein sehr großer Teil. Die Bedienungen scheinen aus Allerherrenländer zu stammen, sind nicht immer die Schnellsten und manchmal auch etwas verpeilt, aber eines sind sie immer: echt und ungespielt herzlich. Hier ist man gerne Gast.

Neben dem historischen Interieur ist es ein wesentlicher Teil des Charmes – fast möchte ich schreiben der Magie – des Schelling-Salons, dass dies ein Ort zum Verweilen ist, und dass das von der Wirtin auch so gewollt ist. Reinkommen, Bier und Essen bestellen, kurz warten, trinken und essen, zahlen, rausgehen, der Tisch ist frei für die nächsten Gäste (und den nächsten Umsatz), sowas gibt es natürlich auch hier, ist aber nicht die Regel. Im Schelling-Salon bleibt man normalerweise länger, viel länger, entweder zum Spielen oder zum Reden oder vielleicht auch, um nicht allein zu sein. Es ist schön, dass es so etwas heute noch gibt. Rein betriebswirtschaftlich betrachtet ließe sich aus einem historischen Lokal mit dieser Liste ehemaliger Gäste in dieser Lage sicherlich viel mehr „herausholen“. Danke dafür, dass sie’s nicht tun, Familie Mehr!

Mir wäre nicht aufgefallen, dass sich an der Speisekarte seit den achtziger Jahren etwas verändert hätte – außer der Währung und der Preise. Die Nudelsuppe – wir nannten sie weiland „Nudelwasser“, eine sehr dünne Bouillon mit Nudeln, in die man auch mit sehr viel Maggi und Salz keinen Geschmack reinbekommt – hat sich jedenfalls nicht verändert. Ansonsten bietet der Schelling-Salon von 10:00 bis 23:30 Uhr durchgängig nahezu das komplette Repertoire der deutschen siebziger und achtziger Jahre Küche („Plumpsküche“ nannte sie Siebeck). Zeitgeistige Spinnereien wie Burger, Bowl, Flammenkuchen, … (you name it) finden sich überhaupt nicht. (Nochmals Danke, Familie Mehr!) Es gibt ein halbes Dutzend Suppen, vier Salate, jede Menge zünftige Brotzeiten (wie Presssack, diverse Würstl, Brathering oder auch ein ganz einfaches Schmalzbrot für sympathische 2,80 EURO) und etliche wohlfeile kleine Gerichte (wie eine Portion Pommes mit Ketchup, Rühreier mit Schinken, Reiberdatschi mit Apfelmus, abgebräunter Leberkäse, und hier gibt sogar noch den fast ausgestorbenen Strammen Max). Bei den Hauptgerichten finden sich einige, die sich heutzutage kaum mehr in Restaurants finden: besagte Schinkennudeln, geröstete Knödel mit Ei (eine traditionelle Resteverwertung), Bauernomlette, alles kalorische, trefflich sättigende, wohlfeile Speisen. Und dann der ganze „gut bürgerliche“, vielleicht auch nur „bürgerliche“ Standard (Schweinshaxe, diverse Schnitzel und Steaks, Kalbsrahmbraten, Hackbraten, Paprikahuhn, gesottenes Ochsenfleisch, …), dazu ein paar Fischlein (gebackenes Fischfilet, Forelle blau, …) und traditionelle Desserts (Apfelstrudel, Pfannkuchen, Kaiserschmarrn, Kuchen vom Buffett oder Eis). Vegetarier haben’s bei diesem Angebot eher schwer im Schelling-Salon. (Auch dafür Danke, Familie Mehr!) Bis 14:00 Uhr gibt es Frühstück, z.B. zwei Semmeln mit Butter und Marmelade für 3,30 EURO – viel billiger ist es in einer Kantine auch nicht. Ausgeschenkt werden Augustiner Biere (leider kein Edelstoff vom Fass), die Halbe Helles zu 4,30 EURO, über die „Weinkarte“ decken wir den Mantel des Schweigens, 2 cl Obstler kosten 3,00 EURO.

Das alles ist natürlich keine „Hochküche“, will es aber auch gar nicht sein. Der Schweinsbraten ist ehrlich und reichlich, die Schnitzel werden in der Pfanne gebraten, mal sind sie recht ordentlich und souffliert, manchmal auch nicht, die Röstkartoffeln können mal richtig gut sein, mal nur kurz und lustlos durch die Pfanne gezogen, die Pommes sind seit einigen Jahren sowas vom EU-konform (sprich lätschert, keine Spur mehr von knusprig), die Paprikasauce zum Schnitzel ist eine E-schwangere und doch weitgehend geschmacklose Fertig-Rahmsauce mit ein paar Paprikastücklein drinnen, dem Beilagen-Gemüse sieht man seine TK-Herkunft an, der Salat ist traurig, die Spätzle zum Kalbsrahmbraten scheinen selbst gemacht, der Braten selber so lala, das Sößchen dünn und dubios. Aber was kann man bei einem Kalbsrahmbraten für 11,70 EURO (sic!) erwarten, ordentlich die Käsespätzle mit selbstgemachten Spätzle und Röstzwiebeln, der Käse allerdings etwas für weichgespülte Statdfräcke, im Allgäu würde man über so ein lasches Käschen nur lachen. Richtig gut ist seit jeher der Kaiserschmarrn. Alles in allem ist das fast schon museales „Futtern wie bei Muttern“ in seiner besten Form, und Muttern hatte ja auch mal schlechte Tage. Alle Hauptgerichte kosten im Schelling-Salon von 8,20 EURO bis 19,50 EURO, seien wir ehrlich, für Zentral-Schwabing ist das schlichtweg geschenkt.

Für mich ist ein Besuch im Schelling-Salon jedes Mal wie eine Zeitreise, nicht nur zurück in selige Studententage mit Schmalhans als Kassenmeister und aus der Zeit gefallener, musealer Küche, sondern noch viel weiter zurück: es ist ein recht komisches Gefühl, in dieselben (dieselben, nicht die gleichen) Pissoirs zu biesln, in denen sich schon Lenin und Hitler erleichtert haben.

Schelling-Salon
Evelin Mehr
Schelling Straße 54
D – 80799 München
Tel.: +49 (89) 2 72 07 88
Online: www.schelling-salon.de

Hauptgerichte von 8,20 € (z.B. Tagesessen oder Rahmhackbraten mit Salat) bis 19,50 € (Cordon Bleu vom Schwein mit Röstkartoffeln und Salat), Drei-Gänge-Menue von 15,20 € bis 32,90 €

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One comment

  1. Reinhard Daab

    Schön das Sie diese Gaststätte vorgestellt haben. Man glaubt kaum, dass es so etwas heute noch gibt. Innerhalb eines Berichts über den Schelling-Salon, sagte die Inhaberin „Leben und leben lassen“.

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