Big Bad Bar Blues

Es ist jene eigentümliche Zeit des Jahres, in der der Raps seinen intensivsten Geruch erreicht, fast könnte man von einer Art Duft sprechen, wenn es nicht Raps wäre, bevor er wochenlag in diesen Gestank-Modus verfällt, der alles und jeden olfaktorisch tyrannisiert, es ist die Zeit des ersten unbeheizten Spargels, noch zu früh für heimische Erdbeeren, die Zeit der explodierenden Obstbaum-Blüten, manchen Jahres Mitte/Ende April, manchen Jahrs erst im Mai, da lässt sich die Natur nicht reinpfuschen, nach dieser eigentümlichen Zeit kommen im Jahr dann nur noch sprießen, wachsen, reifen, ernten, abfallen, verrotten, faulen, verrecken, kalte Novembertage, Weihnachten: eigentlich ist das Jahr schon gelaufen, wenn der Raps duftet, danach im Jahr folgen nur noch Verwesung und Tod in allen Stufen … und wenigstens Weihnachten. Just zu dieser Zeit haben sie sich wieder getroffen, in einem der schönsten und – ganz nebenbei – höchst dekorierten und teuersten Wellness-und Feinschmecker-Hide-Outs des späten Merkel-Regimes. Er hatte die Mittags-Maschine von Mailand geschafft und sich sofort am Flughafen in sein übermotorisiertes Kabrio geworfen – die gepackte Reisetasche bereits vorsorglich im Frontkofferraum –, um noch vor der großen Wochenend-Heimreise-Welle gen Westen zu rasen, sobald er auf der Piste war, rief er sie an, sie schloss in aller Ruhe ihre Akten, Mandanten waren ohnehin keine mehr an dem Freitagmittag in der Kanzlei, rein von der Fahrtzeit her hatte sie 45 Minuten Vorsprung, schnappte sich ihre ebenfalls gepackte Reisetasche und warf sich auch auf die Piste, sie Richtung Süden.

Ein eingespieltes Team, wie sie es mittlerweile waren, waren sie zu fast derselben Zeit am Hotel angekommen, perfektes Timing sozusagen, zuerst hatten sie sich einmal geliebt, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ungeduscht, doch sie waren nicht gerade übereinander hergefallen, das war einmal, lange vorher, vielmehr waren sie sehr routiniert vorgegangen, sie duschten nie davor, denn sie wollten den anderen unverfälscht riechen, etwas erfahren aus dem Leben, das der Andere ohne den Anderen führte. Was sie rochen waren Schweiß, Parfum, Aktenstaub, Kaffee, Abgase, Balsamico, was sie jedoch wirklich riechen wollten – Angst, Last, Anstrengung, Erfolg, Freude, Leben … vielleicht sogar … … … Liebe –, das rochen sie nicht, hatten sie trotz aller Versuche noch nie am Anderen zu riechen vermocht. Aber sie hatten sich arrangiert. Sie gingen pfleglich miteinander um, so pfleglich, wie die USA und die UdSSR in den Zeiten des kalten Krieges miteinander umgegangen waren, jeder wusste, der jeweils andere hätte ihn noch sterbend mit in den Tod ziehen können, von daher vermied man tödliche Angriffe und war so weit als machbar nett zu einander, profitierte nach Möglichkeit sogar voneinander. So gingen auch die beiden miteinander um. Er wusste, dass sie ihm den einen oder anderen Orgasmus nur vorspielte, um ihn nicht zu verletzen, er wusste auch, dass sie nie ohne ihren beachtlichen Dildo reiste und diesen auch massiv, gleichwohl heimlich einsetzte, wenn Mann den gestellten Erwartungen nicht gerecht hatte werden können, sie wusste, dass er trauliche Absprachen mit den Barkeepern hatte, ihm doppelte Martinis zu servieren, es aber wie normale Martinis aussehen zu lassen und sie auch als normale Martinis abzurechnen (die Differenzbeträge beglich er über sehr großzügige Trinkgelder, von denen die Hotelbesitzer natürlich nie etwas sahen), damit er nicht wie ein Säufer aussähe (was er zweifelsohne war), sie wusste auch von den blauen Tabletten, die er seit einigen Jahren immer öfter nahm, bevor sie intim wurden, hatte sogar die Schachtel in seinem Gepäck gefunden, aber diskret wieder unter den Socken versteckt, sie vermutete, dass er sich zuweilen junge Nüttchen zum Dessert auf seine Nobel-Hotelzimmer kommen ließ, er vermutete, dass sie dem einen oder anderen jungen Rechtsreferendar Einführungen in Materie der ganz anderen Art erlaubte, aber sie ließen es ungefragt dabei bewenden, Antworten, zumal ehrliche, hätten nur unnötige Wunden geschlagen. Nach dem Sex an diesem Tage – beide waren tatsächlich erfolgreich gekommen – hatten sie kurz geredet, nun endlich geduscht, nacheinander, auch die Zeit der gemeinsamen Duschen war längst vorbei, sich angekleidet, waren in die Hotelbar gegangen, wie immer.

Jetzt trägt sie ein leichtes Sommerkleid, unauffällig, aber von Dior, dazu filigran geflochtene Sandaletten von Ferragamo, wenig, dezenten, kleinen Schmuck um Hals und Handgelenk, unaufdringlich, allerdings aus etlichen Karat Top Wesselton in Weißgoldfassung, wahrscheinlich im Gegenwert eines ordentlichen Einfamilienhauses („Aber das ist ja nur eine sichere, und dazu noch hübsche Geldanlage.“, pflegt sie immer zu sagen.), er einfache Jeans von der Stange, ein Polo von Ralph Lauren, Leinensakko von Dressler, Wildlederschuhe ohne Socken von seinem Schuster in Zagreb maßgefertigt, in dem Aufzug würde er auch als Rektor einer Gesamtschule in einer Mittelstadt durchgehen, wäre da nicht die Lange 1 Platinum an seinem Handgelenk. Beide tragen diese Insignien der Macht wie selbstverständlich, sie gehören zu ihnen, sie haben sich daran gewöhnt, sie haben sich daran gewöhnt, dass kein Türsteher bei Verstand – sei es vor einer Privatbank, einem Nobel-Nachtklub, einer Edelboutique, einem Luxushotel – sie jemals mit diesen Insignien der Macht abweisen würde, dass sie nahezu alle Türen öffnen … niemals aber Herzen. Er trinkt wie immer am Freitagabend knochentrockene Martinis, bei ihr hätte man erwartet, dass sie Champagner trinkt, vielleicht etwas zu viel und am frühen Abend das Kichern anfängt, wie ein Backfisch, doch weit gefehlt. Champagner trinkt sie nur geschäftlich, wenn sie repräsentieren und dabei einen klaren Kopf behalten muss, privat, zum Vergnügen, zur Entspannung trinkt sie Rum, alte Karibische Rums, meist Kuba, die es preislich mit jedem gehypten Single Malt aufnehmen können, nur dass sie süßlicher und hinterhältiger daher kommen, aber sie weiß das und kennt sich damit aus. „Wie war Deine Woche?“, fragt er. „Gut, ich hab‘ meinen Zuhälter rausgehauen.“ „Zuhälter?“ „Hab‘ ich Dir doch erzählt, dieser rabenschwarze Lude aus New Orleans, der seinen gesammelten abkassierten Hurenlohn in Europa angelegt hat, weil er weder Trump noch der amerikanischen Wirtschaft traut, aber das Ganze dann ein wenig zu sehr steuer-optimiert gestaltet hat.“ „Ah!“ – er verseht kein Wort, aber wahrscheinlich hatte sie ihm tatsächlich davon erzählt, linkes Ohr rein, rechtes Ohr raus. „Wir haben reumütig verhältnismäßig kleines Geld als Strafe für Formfehler akzeptiert, das juckt den nicht, bei den Gesamtsummen, Verfahren eingestellt, und das Beste ist, der ganze Schotter ist ab jetzt völlig legal in der EU. Der Kerl liebt mich!“ Er runzelt die Stirn und spielt den Eifersüchtigen: „Na, na …“ „Rein geschäftlich natürlich!“, entschärft sie die Situation. „Und bei Dir so?“„Hast Du ja mitbekommen, ich war gleich dreimal letzte Woche in Mailand, die nächsten Wochen wird das kaum besser. Die Kollegen dort haben einen neuen Super-Klienten an Land gezogen, großer Konzern, produzierende Industrie, ganz klassisch mit Stahl und Schweiß und Gewerkschaften und riesiger Kapitalbindung, der Vorstand liebt uns jetzt schon, an allen Ecken und Enden ungelöste Probleme, zu wenig Overhead, Marge schrumpft, Umsatz stagniert, die glauben, es läge am Investitionsstau, dabei sind vor allem Marketing und Verkauf echt Scheiße, da wird das Geld verdient, die Eigentümer beginnen das Motzen, so etwas mag man als Berater. Aber die Kollegen vor Ort haben bei der Projekt-Organisation falsch priorisiert und wollen das Pferd von hinten aufzäumen, sie wollen erst die Grundprobleme und Ursachen in aller Tiefe analysieren und lösen, und dann zu den sexy Themen kommen.“ „Hört sich doch richtig an,“ wendet sie ein, „würde ich wahrscheinlich auch so machen.“ „Wenn Du als Berater ein halbes Jahr werkelst und dabei vielleicht tatsächlich die Ursachen allen Übels beseitigst, dann ist trotzdem nichts sichtbar, keine Ergebnisverbesserung, keine Steigerung des Börsenkurses, aber wahrscheinlich rebellische Betriebsräte. Nein, nein, sowas geht man anders an: zuerst die low hangig fruits, die einfachen Probleme lösen, die sofort nach außen sichtbar sind, die Schotter bringen, Analysten erfreuen und Anleger glücklich machen. Erst wenn Du das als Berater geschafft hast, dann trauen Dir die Leute was zu, und dann kannst Du ein halbes Jahr in den Keller gehen und die Ursachen der eigentlichen Probleme angehen.“ „Aha.“ sagt sie in einem Ton, der nochmals trockener als seine Martinis ist. So plaudern sie während sie sich in Stimmung trinken. Der Barchef – ehemaliger Präsident der Deutschen Mixer-Association – sorgt ungefragt und reichlich für Nachschub, und sie lassen ihn gewähren. Das Gespräch ist gepflegt, höflich, zuweilen vertraut, zuweilen intellektuell hochtrabend, zuweilen frivol, die ganze Spannbreite des belanglosen Plauderns halt. Zwischendrin macht ein Mitglied der Besitzer-Familie seine Honneurs bei den beiden, wie alle männlichen Mitglieder der Familie trägt er einen tadellosen, aber viel zu großen Anzug, er kennt die beiden als wenn schon nicht Stamm- so doch regelmäßige Gäste, und solche Leute pflegt man, nun plaudern sie zu dritt, nur das Frivole lassen sie jetzt weg. In China fällt ein Sack Reis um, das Hotel-Besitzer-Familien-Mitglied verabschiedet sich höflich und macht weiter seine Runde. Als Außenstehender könnte man denken, hier wackelt ein älterer, freundlicher, vielleicht schon leicht seniler Mann durch seine Besitzungen; tatsächlich aber ist hier das brutalste TQM-System unterwegs, das man sich vorstellen kann, und das braucht es wahrscheinlich auch, um solch ein Haus in solcher Perfektion zu führen, System F nennen es die Mitarbeiter fast ängstlich hinter vorgehaltener Hand. Wir sprechen hier nicht von den banalen Dingen wie ungesaugten Teppichböden, verschlampten Reservierungen, schlecht eingeschenktem Bier, sondern von Kapitalverbrechen wie nicht perfekt polierten Silber und Gläsern auf den Tischen, von nicht sofort wieder zurechtgerückten Kissen, nachdem der Gast aufgestanden ist, davon, dass es ein Mitarbeiter vergisst, einen Gast höflich, verhalten und doch deutlich und mit leicht gesenktem Blick Richtung Gast zu grüßen, solche schlimmen Vergehen nimmt das System F bei dem scheinbar beliebigen Schlendern durch das eigene Haus auf, und die nachfolgenden Gespräche in den hinteren Räumen unter vier Augen sollen dann nicht wirklich angenehm sein … für die Mitarbeiter. Aber, auch das muss man eingestehen, das Haus ist nahezu perfekt.

Später essen sie im Drei-Sterne-Restaurant des Hotels ein Sieben-Gänge-Menue, angereichert mit zahlreichen Amuse Gueules, Amuse-Bouches, Grüßen aus der Küche, Zwischengängen und sonst was, für schlanke 235 EURO pro Nase, sie spendiert noch einen Riesling Alte Reben aus dem Rheingau und danach einen Burgunder Grand Cru. Sie essen marinierten, halbrohen Thunfisch, wie derzeit in fast jedem Spitzenlokal, muss eine Mode sein, natürlich Gänseleber, hier mit Taube verwurstelt, Hummer aus der Bretagne mit einer Sauce aus seinem eigenen Corail (ihn ekelt davor) und grünem Spargel, einen Fisch in Salzteig gebacken mit einer weißen Tomatensauce, unglaublich teure tote Kuh aus Japan mit Zitronengras und Lotus, dann Käse vom Wagen und ein gemischter Dessertteller mit allerlei kleinen Kunstwerken aus Zucker, Teig, Sahne, Früchten, Schokolade und Dingen, die so dekonstruiert sind, dass man ihre ursprüngliche Beschaffenheit nicht einmal mehr ahnen kann. Nach zweieinhalb Stunden ist der ganze Zauber vorbei und man steht ge- aber nicht übersättigt vom teuren Tisch auf. Zurück in der Bar, zwischenzeitlich spielt ein Pianist gar nicht so schlecht auf dem weißen Klavier, mal Tanzmusik, mal singt eine dicke Frau im zu engem weißem Abendkleid Chansons dazu, edel gekleidete Menschen lauschen ihnen in tiefen Samtsesseln und –sofas sitzend, trinken Champagner, Cocktails oder einfach nur Bier, manche beginnen auch das Tanzen auf der für eine Hotelbar recht großen, blanken Tanzfläche ziemlich in der Mitte des verwinkelten Raumes, die einen durchaus gekonnt und mit Spaß, bei anderen sieht an ihrem dilettantischen Rumgezappel, dass das Männchen auf die Tanzfläche genötigt wurde, um dem Weibchen zu gefallen.

Sie sind mittlerweile beide leicht angetrunken, er ist zu Scotch übergegangen, alter Scapa mit einer leichten Salznote ist die Wahl der Stunde, sie ist bei Rum geblieben, hat allerdings das Land gewechselt, sie trinkt jetzt alten Ambassador von Botucal aus Venezuela. Beide sind des Plauderns müde, zu viele Belanglosigkeiten am Band abgespult, nicht nur miteinander, auch sonst, im Job, bei Abendveranstaltungen, Lunches, Empfängen, Dinners, in Theater-Foyers, bei Einladungen bei mehr oder minder wichtigen Menschen, auf Bällen, immer dieses belanglose, unverfängliche Plaudern, bei dem kritische Themen – Alkoholprobleme, AfD, Schwule, Völkermorde, Steuerhinterziehung, Überfremdung, Ehebruch, durchgeknallte Kids, solche Themen halt – schon automatisch allseits von allen Teilnehmern der Plauderrunden professionell ausgeblendet werden, man will ja nicht diskutieren, wirklich etwas von sich preisgeben, gar anecken, man bleibt lieber an der Oberfläche und redet über das berühmte Wetter, Stars, Reisen, eigene Erfolge und erworbene Statussymbole, Kunst, Kunst ist immer ein gutes Thema, unverfänglich und es gibt gleich noch Gelegenheit, die eigene Bildung und den Kunstsinn unauffällig hinaushängen zu lassen; oder aber man redet über Geschäfte, Geld und Gier, über Personalabbau, Produktivitätssteigerung und Porsche, über Bilanzen, Börsenkurse und Boni; jedoch über Gefühle, Probleme, Ängste, Zorn, Wünsche, Sehnsüchte plaudert man nicht, die meisten Menschen reden nie darüber, mit wem auch, das würde nur Schwäche zeigen und angreifbar machen. Des endlosen Plauderns überdrüssig, ermutigt wohl auch vom kräftigen Alkoholkonsum, fasst er sich ein Herz. „Haben wir eigentlich jemals über Liebe gesprochen?“ „Ja doch,“ antwortet sie, „Du hast mir doch oft erzählt, wie sehr Du Deine Kinder liebst.“ „Das meine ich nicht, ich meine Liebe zwischen uns und so …“ „Nein, ich meine, darüber haben wir noch nie gesprochen, das Thema haben wir immer wohlweißlich und sorgsam außen vor gelassen.“ „Warum eigentlich?“ „Sag Du’s mir.“ Jetzt schweigt er lieber, bei der Ansage, und wünscht sich, er hätte das Plaudern nicht aufgehört. Während er noch nachdenkt, wie er jetzt aus dieser blöden Nummer wieder rauskommt, hakt sie schon nach: „Sag mal, wenn ich entführt würde und die Entführer eine Million Lösegeld von Dir verlangen würden, würdest Du zahlen?“ „Das ist für mich zwar viel Geld, aber irgendwie würde ich es schon zusammenkratzen, und ja“ – seine Stimme ist fest und ehrlich – „ich würde zahlen. Ist ja nur Geld. Außerdem würdest Du’s mir nach Deiner glücklichen Freilassung doch bestimmt zurück erstatten.“ „Gannst’e gniggn, Geule,“ antwortet sie grinsend, „keinen Cent würdest Du von mir sehen, schließlich bis Du ja erpresst worden und nicht ich.“ „Danke, dass wir darüber geredet haben, Frau Doktor,“ antwortet er ungewohnt scharf. Sie legt gleich nach, bevor dieses Geplänkel um des Kaisers Bart ausufert: „Noch’ne Frage: wenn ich totsterbe-krank wäre und dringend eine – was weiß ich – Spender-Niere bräuchte, würdest Du mir eine von Deinen Nieren spenden?“ Während sie an ihrem Rum nippt, beobachtet sie ihn genau, wie er intensiv nachdenkt. Im Nachdenken findet er bereits die Antwort, eben weil er nachdenkt, Pros und Contras abwägt, Risiken und Chancen zu finden und zu bewerten sucht … und nicht ganz einfach nachfühlt, seinen Bauch, sein Herz befragt, sondern eben seinen verdammten Verstand. „Du würdest es nicht tun.“ sagt sie mit der rauchigsten Stimme, zu der sie fähig ist. „Du hast Recht, ich würde es nicht tun. Würdest Du mir eine Niere von Dir spenden?“ fragt er zurück. „Wenn ich ehrlich bin, und ich glaube, heute sind wir vielleicht das erste Mal ehrlich seit vielen Jahren, nein, ich würde es auch nicht tun. Ich würde Dich wahrscheinlich auch nicht aufopfernd pflegen, wenn Du mit Schlaganfall krank und sabbernd in der Ecke lägest. Und ich weiß, dass Du das auch nicht bei mir tätest.“ Betretene Pause. „Sag jetzt bitte nichts Falsches, es wäre ja doch eine Lüge.“ „Wahrscheinlich hast Du Recht.“ entgegnet er. Sie seufzt: „Dabei wäre die Vorstellung so schön, jemanden zu haben, der alles für einen tut und für den man selber ebenfalls alles tut. Aber das gibt’s wohl nur im Märchen und in Schmieren-Filmen.“ „Suchen wir das nicht alle, irgendwie? Als ich Dich kennenlernte, da war dieses Kribbeln im Bauch, die Hormone tanzten Cha-Cha-Cha, feuchte Hände, feuchte Träume … aber machen wir uns nichts vor, sind wir ehrlich: das waren Sympathie und Geilheit.“ „Das ist jetzt ziemlich brutal, wie Du das ausdrückst,“ sagt sie nachdenklich-traurig, „aber wahrscheinlich hast Du recht. Das war schon irgendwie dieses unbestimmte, unerfahrene Backfisch-Gefühl des ganz dolle Zu-Dir-Hingezogen-Seins, das waren mega-geile und gute Wochen, aber mit der Zeit erwuchs doch keine Liebe aus diesem ganzen Hormon-Cha-Cha-Cha, sondern mehr …, mehr …“ Sie sucht ein passendes Wort. „Gefährtenschaft?“ springt er ihr bei. „Ja, Gefährten, das beschreibt es gut, viel besser als Freunde, Pärchen, Partner. Eine gemeinsame Fahrt, ein Weg, eine Richtung, das ist es, was uns vereint, aber bestimmt …“ – sie korrigiert sich im Sprechen – „… aber leider nicht bedingungslose Liebe und Hingabe. Wir sind Gefährten, solange unsere Wege gemeinsam gehen, und wenn die Wege sich trennen, dann werden wahrscheinlich auch wir uns trennen.“ Ausgerechnet jetzt spielt der Scheiß-Pianist ‚Love is a loosing game‘ von Amy Winehouse und die dicke Frau in dem zu engem weißem Abendkleid singt dazu. Beide blicken sich tief in die Augen, mit der einen Hand umklammern sie ihre Gläser mit Scotch und Rum, mit der anderen Hand fassen sie sich gegenseitig und verschränken ihre Finger ineinander, als wollten sie eine nicht mehr auflösbare Verbindung herstellen. Sie prosten sich zu, ohne den Blick von den Augen des Anderen zu lassen, trinken ihre Gläser auf Ex leer, dann kommen die letzten beiden Strophen des Liedes: „Tho I battled blind / Love is a fate resigned / Memories mar my mind / Love is a fate resigned /// Over futile odds / And laughed at by the gods / And now the final frame / Love is a losing game“. Die Musik verstummt, ein paar edel gekleidete Plauderer klatschen vornehm-verhalten. Beide haben jetzt Tränen in den Augen und halten ihre Hände so fest, dass die Knöchelgelenke knacken. Sie spüren den Schmerz nicht. Sie fallen sich nicht in die Arme. Irgendwann lassen sie los, stellen die leeren Gläser beiseite, sie holt ein Tempo aus ihrem Handtäschchen, er zieht ein tadellos gebügeltes und gefaltetes blütenweißes Leinentaschentusch aus seiner Hosentasche, beide trocknen peinlich berührt ihre Augen, sie ist heilfroh, nicht zu stark geschminkt zu sein. Den Rest des Abends verbringen sie schweigend, das Plaudern ist ihnen gründlich vergangen, und wozu Reden führen kann, hatten sie ja gerade am eigenen Leibe erfahren.

Sie werden in dieser Nacht trotz alledem wieder neben- und miteinander schlafen, werden am nächsten Tag das Luxusfrühstück bis 12:00 und danach das komplette Wellness-Programm zusammen machen, am späten Nachmittag werden sie die gute Stunde über den Hügel in’s benachbarte Tal wandern und dort in dem anderen Drei-Sterne-Gral der Gegend zu Abend essen, sie werden Texturen und Zutaten und Temperaturen und Aufmachungen und Würzungen und Gargrade kenntnisreich bewerten, diesmal wird er die Weine aussuchen und zahlen, wieder wird ein knapper Tausender auf dem Tisch bleiben, der Limousinen-Service des Hotels wird sie zurückbringen, betreten werden beide des Nachts die Bar meiden, statt dessen einen sehr passablen Amarone ordern, sich auf die Terrasse ihres Zimmers setzen und dort schweigend gemeinsam den Sternenhimmel betrachten, reden wird keiner wirklich, noch nicht einmal plaudern. Irgendwann wird er einen Satz sagen: „Wollen wir’s versuchen?“ Sie wird antworten: „Haben wir eine realistische Chance?“ Er wird antworten: „Wenn wir beide wirklich wollen, dann haben wir eine Chance.“ „Gut versuchen wir’s.“ Danach schweigen sie wieder.

Nach Luxusfrühstück und Wellness werden beide das Hotel gegen Sonntagmittag wieder verlassen, er Richtung Osten, sie Richtung Norden. Er wird für den Abend noch seine diversen Teams ins Office zitieren, weil er am Montag gleich wieder in der Früh nach Mailand fliegt, der Sonntag seiner Teammitglieder und deren Familien ist ihm egal, und wird sie für die kommende Woche briefen, Berge von Aufgaben verteilen und generell an der Performance rumnörgeln, das schafft Angst, erhöht die Arbeitsleistung und kostet noch nicht mal was; sie wird sich auf die Terrasse ihres Penthouses setzen, um den nächsten Fall vorzubereiten, wieder irgend einen Verbrecher rauszuhauen, sie weiß, dass 90% ihrer Klienten schuldig sind, deswegen kommen sie ja zu ihr, aber das ist ihr Job und Broterwerb, allerdings, die 10% die unschuldig sind, die vertritt sie so billig wie möglich, bei den 90% Schuldigen kassiert sie so viel ab, wie irgendwie geht, das ist ihre Art der ausgleichenden Gerechtigkeit. Während Sie nach dem Auschecken an der Auffahrt des Hotels stehen und darauf warten werden, dass man ihre Autos vorfährt, wird sie ein seltsames Gefühl beschleichen, das beide wohl noch nie so hatten. Sie werden schweigen, sich umarmen, ganz fest drücken und versuchen, nicht schon wieder zu weinen.

Beide werden auf der Rückfahrt viel nachdenken, und beide werden zu dem Schluss kommen, dass sie jetzt tatsächlich eine Chance haben, wenn sie’s nicht versemmeln.

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