Ich habe den Adrenalinspiegel eines Mannes, der unmittelbar vor dem Erschießungskommando steht, der die Befehle des Offiziers hört, das Anlegen der Gewehre, das Klicken der Sicherungshebel … Vor vielleicht fünf Minuten habe ich mich in den – mehr oder minder – fließenden Verkehr eingereiht – gefühlte fünf Stunden – mit dem Mietwagen, den ich am Morgen bei der AVIS-Station im Hafen von Palermo übernommen habe. Wenigstens eine Stunde habe ich damit verbracht, mich mit dem Wagen – ein unspektakulärer Mittelklasse-Asiate – vertraut zu machen, Sitzeinstellung und Rückspiegel geschenkt, Blinker, Licht, Scheibenwischer identisch wie fast bei allen Autos heute, deutlich länger hat es gedauert, die Feststellbremse zu finden, weder massiver Hebel zwischen den Sitzen noch verspielter Knopf mit irgendwelcher Elektronik darunter, die die Bremsen feststellen soll (ich traue diesen Dingern sowas von überhaupt nicht, eine Bremse braucht einen Hebel mit einem Bautenzug, der an massiven Bremsbacken endet, sonst nix) (gehört hier aber gar nicht zur Sache), bei diesem Modell war es ein kleines Pedal links unten im Fußraum des Fahrers, wie bei den alten W128ern in den 80er Jahren, damals war es schick, plötzlich eben keinen Hebel zwischen Fahrer und Beifahrerin zu haben, der beim Schmusen und Fummel ungemein störte, ich weiß das, ich war Testosteron-geschwängert live dabei zu dieser Zeit, aber seit dem habe ich diese Bremsen-Art nicht mehr gesehen, auch keinen solchen Testosteron-Spiegel bei mir (sollte es da etwa einen Zusammenhang geben?). Nachdem ich nach endlosem Suchen völlig verzweifelt sogar versucht hatte, die italienische Gebrauchsanweisung eines asiatischen Autos zu lesen, um diese vermaledeite Feststellbremse zu finden, ging ich nochmals sinnierend suchend um den Wagen, ob man Feststellbremsen wohl klauen kann, diesen durchweg kriminellen Sizilianern ist ja alles zuzutrauen, fragte ich mich … und da fiel mein Blick durch die geöffnete Fahrertür, und dort sah ich sie dann, diese verfickte Feststellbremse in Gestalt eines verfickt kleinen Fußhebels: rein in‘s Auto, Motor gestartet, verfickten kleinen Fußhebel getreten und tatsächlich verschwand das rote Licht im Display, welches anzeigt, dass die Feststellbremse festgestellt und das Auto daher nicht fahrbereit ist. Theoretisch hätte ich die Karre jetzt also bewegen können, aber davor hatten die Götter noch viel Arbeit gelegt. Um unterwegs ordentliche Musik – nicht das endlose Geplapper der Moderatoren und das Gequäke italienischer Pop-Jauler, sonst kommt ja kaum was anderes auf italienischen Radiosendern, mehr dazu ein andern mal – zu hören und beim Fahren ohne Funke am Ohr, sondern freisprechend telephonieren zu können, musste ich zuerst noch mein Deutsch sprechendes Mobiltelephon aus Süd-Korea mit dem Italienisch sprechenden Bordcomputer – Autoradio kann man diese Dinger ja heutzutage kaum mehr nennen – aus Taiwan via Bluetooth miteinander koppeln: eine echte Herausforderung, die ich nach endlosem trial and error, zahlreichen Wutausbrüchen und Weinkrämpfen letztendlich doch meisterte. So vorbereitet hatte ich mich vorsichtig – sprich, ich wartete, bis tatsächlich die Spur frei war und kein Auto kam – in den Verkehr eingereiht.
Kaum bin ich auf der Straße, bin ich auch schon umringt von Fahrzeugen, und sobald ich irgendwelche Anstalten mache, einen halbwegs vertretbaren Sicherheitsabstand zu meinem Vordermann zu lassen, werde ich wild angehupt. Fahrzeuge und sonstige Verkehrsteilnehmer können hier jederzeit von überall erscheinen, von links, von rechts, von hinten, von vorne, aber wahrscheinlich auch von oben und unten, also reicht im sizilianischen Verkehr der stete 360°-Blick lange nicht, man muss einen Kugel-Blick haben, in alle drei Dimensionen, denn hier kommen nicht nur unvermittelt Autos, Mopeds, Mofas, Fußgänger (diese aber eher seltener, das sind meist Lebensmüde), Laster, Busse, Pferdefuhrwerke, Rollstühle, Feuerwehrautos, Ambulanzen und laut quäkende Polizeiautos von allen Seiten, im Sizilianischen Verkehr ist es nicht unwahrscheinlich, dass plötzlichlich ein U-Boot aus einem Gulli kommt, ein Panzer um die Ecke, ein UFO oder ein Engel vom Himmel fallen, die Rolling Stones mitten auf der Straße ein Konzert geben, eine Horde Baby-Katzen oder Prostituierte oder Parker in der dritten und vierten Reihe den Weg blockieren, die Straße ohne Ankündigung und ohne Umleitung komplett gesperrt, vielleicht sogar einfach weg ist und nur noch ein nicht abgesichertes großes Loch prangt, wo einst Straße war, all das ist im Sizilianischen Straßenverkehr nicht nur prinzipiell möglich, sondern – bei Gottfried – tagtägliche Realität (wobei die Rolling Stones eher seltener da sein sollen). Nach 10 Minuten Autofahrt bin ich schweißgebadet und mein Polo klebt am Sitz, trotz 15 Grad Außentemperatur. 30 km/h in einer 30er-Zone zu fahren wird hier wahrscheinlich mit dem Tode bestraft. Aber anfänglich ist es ebenfalls sehr stressig, in einer 30er-Zone 70 zufahren und dabei ständig laut angehupt und in teils halsbrecherischen Manövern nicht nur überholt, sondern aus dem geöffneten Beifahrerfenster auch noch laut beschimpft zu werden. Wo immer ich Abstand zum Vordermann lasse, drängt sich jemand hinein, so dass der Abstand wieder futsch ist, wenn ich die Geschwindigkeit drossele, um wieder Abstand herzustellen, bricht hinter mir sofort ein Höllen-Hup-Konzert los, und die vielleicht entstandene Lücke zu Vordermann ist längst wieder besetzt durch den nächsten Drängler – „Drängler“, so würde man das in Deutschland heißen, hier heißt man das „einen ganz normalen Autofahrer“, denn Lücken sind kein Sicherheitsabstand, sondern sie sind Chancen, und der Sizilianer nutz jede Chance, die sich ihm bietet . An den zahlreichen Kreisverkehren warte ich brav treu-deutsch auf eine passende Lücke zum Einfahren, die natürlich nicht kommt, weil alle Stoßstange-an-Stoßstange fahren, fast werde ich von meinen wütend hupenden Hintermenschen (statt „Hintermännern“, um auch Gender-Quatsch-mäßig korrekt zu sein) in den Kreisverkehr geschoben, bis ich mir ein Herz fasse und vorsichtig-zögerlich in den Rand des Kreisverkehrs einfahre, und siehe, irgendwie geht es, irgendwie bin ich plötzlich drin, im Fluss des Kreisverkehrs, wie von Geisterhand habe ich Platz gefunden / wurde mir Platz gemacht; es erinnert ziemlich an den Indiana Jones-Film, wo dieser den Gral sucht und dazu viele Prüfungen bestehen muss, kurz vor dem Ziel steht Indiana Jones alias Harrison Ford unvermittelt vor einer unüberwindbaren Schlucht, sein Vater alias Sir Sean Connery ruft im zu, dies sei eine Prüfung des Glaubens bzw. der Glaubensstärke, Indiana schluckt, tritt dann aber doch beherzt auf das vermeintliche Nichts über dem Abgrund, und siehe, er wird getragen und kann den Abgrund überwinden: genau dieser Glaubensstärke bedarf es, um in einen sizilianischen Kreisverkehr einzufahren, aber dann funzt’s auch. Besonders brenzlig wird die Situation, wenn man selber ungewollt zum Verkehrshindernis wird: der Laster hat in der engen Straße in zweiter Spur geparkt, um in aller Ruhe den kleinen Laden zu beliefern, der Gegenverkehr drängt unaufhörlich durch das Straßen-Nadelöhr, ein Fiat und ein Smart vor mir haben sich noch in unserer Fahrtrichtung durchgezwängt, aber mein Wagen ist nun doch etwas größer als Fiat und Smart, unmöglich, hier an ein Durchkommen ohne Andozzen auch nur zu denken. Also warte ich in der Hoffnung, irgendwann mal eine Lücke im Gegenverkehr zu finden, um den Laster zu passieren, aber – natürlich – Fehlanzeige, nach geraumer Zweit, so drei bis vier Sekunden, bricht hinter mir ein Hupkonzert los, das sich alsbald zum Hupgewitter aus unzähligen Tröten steigert. Bevor mich der reine Hupschall irgendwann in das Nadelöhr drückt, nehme ich mir alles, was mir an Herz noch übrig geblieben ist, im Sizilianischen Verkehr, zusammen, klappe die Seitenspiegel ein und fahre gaaanz langsam und gaaanz vorsichtig los, den Hintermann (oder doch Hintermenschen?) immer dicht auf dicht auf der Stoßstange, alle optischen und akustischen Parkassistenten meines Wagens tanzen Cha-Cha-Cha und tröten und blinken, was das Zeugs hält, zwischen Laster und meinen eingeklappten Seitenspiegel passt kein Blatt Papier mehr (wörtlich, nicht bildlich gemeint), aber irgendwie komme ich ohne irgendwas anzudozzen durch das Nadelöhr und der Verkehr kann wieder fließen. Uff.
Irgendwann legt sich dann der Adrenalinspiegel auch wieder, wenn man im Pulk, Stoßstange an Stoßstange mit den anderen, locker 110 auf der Landstraße fährt, auf der 50 km/h erlaubt sind. Wider die römischen Büttel, aber alle können sie uns nicht blitzen und bestrafen, die Nummernschilder sind ja ohnehin von der Stoßstange des Vordermanns verdeckt, und so ist man im Pulk auch sicher, sofern man keine kontraproduktiven Abstände lässt, wobei ich bezweifle, dass ein Polizist sich auf Sizilien trauen würde, Geschwindigkeitskontrollen durchzuführen, der würde gewiss alsbald ganz doll gehauen. Demut lehrt einen im massiv geschwindigkeitsbegrenzungüberschreitenden Pulk von Zweit zu Zeit ein laut hupend überholendes Alpha-Männchen, oder – noch viel besser – ein Gefahrgutlaster mit 140 auf engen, nassen, kurvigen, schlecht einsehbaren Straßen, aber der kann ja davon ausgehen, dass jeder ihm ausweicht, so ´ne Art Naturgesetz. Man muss nur begreifen, dass der italienische Kraftverkehr kein Individualverkehr ist, sondern eben Kollektivverkehr. Der Italienische Kraftfahrer ist – wenn er im oder auf dem Fahrzeug sitzt – kein Individuum mehr, sondern Teil eines größeren Ganzen, etwa vergleichbar mit einer Ameise, die ja auch nur funktionaler Teil eines großen Ganzen – des Ameisenstaats – ist und genau weiß, was für sie zu tun ist. Wie sich die Ameisen mit ihren Pheromonen verständigen, damit jeder weiß, was er zu tun hat, verständigen sich die Sizilianischen Autofahrer wahrscheinlich mit hupen, und wo der unwissende Germane glaubt, das Ganze sei nur ein lautes, nerviges Tröten, ist es für die Eingeweihten in Wahrheit ein elaboriertes Kommunikationsinstrument, eine hochentwickelte, differenzierte Sprache, mit der sich die Sizilianischen Autofahrer verständigen. Und irgendwann ist man dann auch als Fremdling drin in diesem fein ausbalancierten Fluss des Sizilianischen Verkehrs, wo jeder weiß, was er gerade zu tun und zu lassen hat, kann sogar schon ansatzweise unterscheiden, ob ein Hupton bedeutet „Hey, Du da vorne, der 120 in der 70er Zone fährt, pass‘ bitte auf, ich werde Dich jetzt mit 160 überholen und beim Einscheren schneiden, da es etwas eng werden dürfte.“ Oder aber „Wenn Du nicht sofort Platz macht, schneide ich Dir die Eier ab und die Deiner Kinder und Kindeskinder ebenfalls.“, und das ist ungemein wichtig, diesen Unterschied zu kennen, wenn man auf Sizilien ist. Gesteuert wird dieser Fluss, dieser Verkehrsfluss, das englische Wort flow ist hier vielleicht sogar noch besser angebracht, gesteuert wird dieser flow wahrscheinlich von der berühmten Schwarm-Intelligenz, die den Sizilianischen Autofahrer auf der einen Seite zu einem egoistischen Rowdy macht, dieses egoistische Rowdytum aber zugleich auch bremst und kurzzeitig ausschaltet, wenn es dem Wohlergehen des ganzen Schwarmes schaden würde, z.B. durch das Herbeiführen eines staubildenden Unfalls, der alle behindern würde. Diese Denke, diesen Instinkt, diese Schwarm-Intelligenz hat man, wenn man fast alles, was Deutsch ist am Autofahren, hinter sich lässt – Verkehrsschilder, Vorschriften, Verbote, aber auch Recht durchsetzen wollen, Sturköpfigkeit, Rücksichtslosigkeit – nach ein paar Tagen irgendwie intus (oder man verzichtet völlig entnervt gänzlich auf’s Autofahren auf Sizilien). Tja, und wenn man dann am Morgen noch vor der des Nachts eingeschlagenen Scheibe seines Wagens steht und mit den Carabinieri freundlich Espresso trinkt, dann spürt man, Du gehörst jetzt dazu, zu dieser Gemeinschaft, Du hast auch ihr Einführungsritual bestanden, man hat Dich aufgenommen. Nun winken Dir die Eingeborenen freundlich zu, wenn Du verkehrt herum in eine Einbahnstraße fährst, Uniformierte gehen wie selbstverständlich bei Seite, wenn Du Gesperrt-Schilder missachtest, und wenn so ein arschgefickter Dreckstourist von sonst wo meint, auf Sizilien Auto fahren zu müssen und dann nicht zügig genug in den Kreisverkehr einfährt, dann bist Du es, der am schnellsten und am meisten hupt, um diesem störenden Fremdkörper Beine zu machen, denn Du gehörst ja jetzt dazu.
P.S.: Vielleicht ist ja die Triskele, seit 1228 Symbol, seit 2000 offizielles National-Wappen Siziliens, dieses Gesicht mit gleich drei offensichtlich im Einklang laufenden Beinen, auch Ausdruck dafür, dass die Fortbewegung auf Sizilien zum einen unkonventioneller, zum anderen flotter ist als anderswo.