Antica Osteria di Vico Palla: Erfolg tötet

Summa summarum: vor zwanzig Jahren ein echter Geheimtipp in Sachen authentischer ligurischer Küche im Hafenviertel von Genua, dann zwanzig Jahren durch alle Geheimtipp-Medien weltweit hoch und runter genudelt, heute nur noch ein wirtschaftlich sehr erfolgreiches Touristenabfütterungsrestaurant, perfekt durchorganisiert, durchgestylt, durchgebrandet, ohne Charme, ohne Authentizität, ohne einheimische Gäste.

Dieser Lockdown gibt unwillkommene Gelegenheit, in Ermangelung frischer Erfahrungen all die Dinge zu schreiben, die man eigentlich nie schreiben wollte, und nun werden sie halt doch geschrieben. Zum Beispiel die Erfahrungen in der Antica Osteria di Vico Palla in Genua im vergangenen Sommer.

Es muss das Jahr 2000 oder 2001 gewesen sein, einer unserer ersten Besuche in Genua. Durch eine gütige Mischung von purem Zufall und beharrlichem Stöbern hatten wir die Antica Osteria di Vico Palla direkt neben dem schon damals touristisch verlausten Porto Antico entdeckt, allerdings gut versteckt in einem verkommenen alten Gässchen gleichen Namens und geschützt von der alten Stadtmauer. Seit dem 17. Jahrhundert werden hier ununterbrochen Gäste bewirtet, Van Dyck soll hier seinen Stockfisch gegessen haben. Der gelernte Koch Maurizio Capurro hatte die Osteria gerade gekauft und sanft renoviert, ohne die historischen Tonnengewölbe und den Charme der Räume zu verhunzen. Damals wie heute gibt es nur eine handgeschriebene, täglich wechselnde Karte auf einer Schiefertafel auf Italienisch. Damals, zur Millenniumswende, sprachen die Bedienungen ausschließlich Italienisch, richtiges Internet und Google Translate gab es noch nicht, mit viel Mühe, Phantasie und einem kleinen gelben Langenscheidt Reise-Wörterbuch entzifferten wir etwas, was wir für eine Genueser Fleischpastete hielten; was dann kam, war tatsächlich eine Fleischpastete, und sie schmeckte gar nicht mal schlecht. Erst später, als ich einige Ligurische und Genueser Kochbücher erstanden und studiert hatte wurde mir klar, dass wir Cima alla Genovese, Gefüllter Kalbsbauch Genueser Art gegessen hatten, und darinnen sind reichlich Kalbshirn und Kalbshoden, die ich für Stücke schieren Fleisches gehalten hatte. Aber ansonsten war das Essen vorzüglich, der offene Hauswein ebenso, um uns herum ausschließlich Einheimische, die es sich schmausend, saufend, lärmend gut gehen ließen. Das war eines dieser völlig authentischen Restaurant-Erlebnisse, die man nur selten hat und die Höhepunkte in jedem Gourmand-Leben darstellen. Irgendwie wurde es nach diesem furiosen Beginn bei den folgenden Besuchen in den folgenden Jahren niemals mehr so authentisch und gut wie beim ersten Mal, dazu kamen immer weniger Italiener und immer mehr Touristen, die Bedienungen hatten Englisch gelernt, kein Wunder, nicht nur die nationalen italienischen Medien überschlugen sich mit Lobeshymnen über den versteckten authentischen kulinarischen Geheimtipp im alten Genueser Hafen, hinzu kamen Artikel in The Independent, L’Express, Guardian, Times, Telegraph, dem Hong Konger Ableger von Harper’s Bazaar, lobende Einträge im Guide Michelin, Gambero Rosso, dem unsäglichen foodies, Marcopolo, Tasteatlas und eher hunderte als dutzende Empfehlungen in weiteren unsäglichen Reiseführern, was dann in Summe zu heute 4.250 Rezensionen der Antica Osteria di Vico Palla auf Tripadvisor führte, aber nur mit der Durchschnittsnote 4. Wir sind dann irgendwann bald nicht mehr hingegangen.

Bis dieses Jahr im Spätsommer, da waren wir mehr aus Zufall mal wieder in der Antica Osteria di Vico Palla, wir waren sowieso in der Gegend, ok, es war weniger Zufall als vielmehr plötzlich einsetzender Starkregen, aber sei’s drum, wir gingen rein und bekamen Dank der frühen Abendstunde tatsächlich ohne Reservierung einen Platz. Die Einrichtung scheint weitgehend gleich geblieben in den letzten zwanzig Jahren, Tonnengewölbe aus teilweise unverputzten Ziegeln, Steinfußboden, einfachste Wirtshausmöbel aus Massiv-Holz, keine Tischwäsche, statt dessen bedruckte Papiertischsets an jedem Platz, Pressglas, Blechbesteck, einfaches Geschirr, jetzt zumindest mit dem Logo des Hauses, überkandidelt ginge gewiss anders, das ist alles sehr bodenständig wie vor Jahr und Tag. Ebenso wie seit Jahr und Tag steht die handgeschriebene Karte auf Italienisch auf der Schiefertafel neben dem Eingang, es gibt noch immer keine Englische Speisekarte (sehr löblich!), allerdings mit zwei wesentlichen Unterschieden im Gegensatz zu früher: Erstens wird die Tafel nicht mehr zum Platz getragen und neben dem Tisch aufgebockt, damit man sich seine Speisen wählen möge; statt dessen wird man aufgefordert, die Karte mit seiner Funke abzuphotographieren und sie dann bei Tisch auf dem eigenen Bildschirm zu studieren. Ich würde mal darauf tippen, dass Unternehmensberater hier Arbeitsabläufe optimierenderdings am Werke waren. Und zum Zweiten sprechen die Bedienungen zwischenzeitlich allesamt Englisch; die alten, mal mürrischen, mal lustigen Camerieri sind verschwunden, statt dessen wuseln viel zu kumpelhafte, mehr des Englischen als des Kellnern mächtige Studenten (würde ich mal vermuten) durch die quälend eng gestellten Tischreihen, blicken geschäftig in ihnen von den Gästen hingereckte Funken und übersetzen und erklären typisch ligurische Gerichte was das Zeugs hält und so gut sie es halt können. Ich weiß nicht warum, und denken Sie jetzt ruhig das Schlechteste von mir, aber ich konnte mich der Assoziation von um Preise und Leistungen feilschender Hurenböcke und Huren angesichts dieses massiven Tableaus irgendwie nicht so richtig erwehren, und sowas ist nicht gut für den Appetit, weder für diesen noch für jenen.

Das Viertel Hauswein – ein sehr ordentlicher Primitivo – kostetet nicht mehr 2 EURO wie vor 20 Jahren, sondern mittlerweile 3 EURO, entspricht rund 2 Prozent Preissteigerung pro Jahr, das ist fair. Die – berühmte und angeblich selbst gemachte – Focaccia war frisch … vor Tagen einmal und ölig, allein so etwas in Genua auf den Tisch zu stellen, ist ein Armutszeugnis. Die gemischten Strudel gefüllt mit Spinat, Ei und Gemüse waren lauwarm, durchgeweicht, geschmacklich irgendwo zwischen ganz ok und langweilig, gebettet auf einem Bett unangemachten Salates. Die gebratenen Tintenfischlein auf einer Kartoffelsauce waren frisch, durchaus ok, aber unspektakulär, Tintenfischlein halt, der Geschmack kam weitgehend von der dicken Sauce. Die Genueser Minestrone – für die der Chef Maurizio Capurro berühmt ist – war ein dicker, verkochter Gemüsebrei mit einem Klecks Pesto, wir ließen sie zurück gehen, unser Kellner war fürbass erstaunt und ließ sie nichtsdestotrotz auf der Rechnung. Stockfisch in Ligurischer Sauce ok, Kabeljau mit Gemüsen ok. „Ganz ok“ ist auch meine Gesamtwertung für die Antica Osteria di Vico Palla im Jahre 2020. Der Fisch war frisch, durch die Bank weg zu lange gegart, die Saucen waren dick, die Teller waren nicht angerichtet, sondern draufgeknallt. Für ein klassisches italienisches Essen mit Antipasto, Primo, Secundo, Dolce zahlt man hier und heute 35 bis 66 EURO plus Getränke und Coperto, nicht übermäßig viel für einen Touristen auf der Jagd nach authentischem regionalem Futter, recht viel für einen einheimischen artigiano oder eine avvocato, meist unerschwinglich für einen Arbeiter von den benachbarten Werften. Wohlfeile Mittagsmenues o.ä. werden hier nicht angeboten. Maurizio Capurro setzt in seiner Antica Osteria di Vico Palla voll und ganz auf das Geschäft mit den Touristen, und dermaßen befeuert und beworben von den Medien und vor allen den „Geheimtipp-Reiseführern“ blüht dieses Geschäft prächtig. Um uns herum Touristen aus aller Herren Ländern (nein, das darf man ja gewiss nicht mehr schreiben, also nochmal: „Touristen aus aller Herren, Herrinnen und Herrschender unbestimmter und sonstiger Geschlechter Länder“ — richtig so, ihr verfluchten Sprachknittler?), Asiaten mit atemberaubenden Essmanieren, die beim Verschlingen ihres Essens unablässig in ihre Funken starren, grölende Imperial-Amis, eine französische Familie, die frisch erstandene Kitsch-Andenken auspackt, eine sehr feine, vermutlich russische Familie mit Kindermädchen, die Alten scheinen ob der lockeren Atmosphäre und dem einfachen Tischgeschirr etwas indigniert, die Kinder laufen fröhlich zwischen den Tischen umher und das Kindermädchen versucht, sie wieder einzufangen, solche Leute halt, nur keine Italiener mehr. Das ist nicht mehr die Antica Osteria di Vico Palla, die wir mal kannten. Das ist ein touristischer Hotspot mit folkloristischen kulinarischen Elementen. Der wirtschaftliche Erfolg sei Maurizio Capurro von Herzen gegönnt. Ein Denkmal als großer Koch wird er sich damit bestimmt nicht setzen.

 „Antica Osteria di Vico Palla? È solo per i turisti.“ klärt uns später am Abend der Keeper auf der Dachterrasse des Sovoia Grand auf, während wir den dümpelnden Kreuzfahrtschiffen zuschauen und ein paar verdiente Absacker nehmen. Tatsächlich sind hier deutlich mehr Italiener zu Gast als in der Antica Osteria di Vico Palla.


Antica Osteria di Vico Palla S.r.l.
Vico Palla 15R
Genova 16128
Italy
Tel. +39 (0 10) 2 46 65 75
Email: osteriadivicopalla@gmail.com
Online: http://osteriadivicopalla.com

Hauptgerichte von 12 € (Stockfisch) bis 25 € (Grillplatte), Drei-Gänge-Menue (Drei Gänge aus Gründen der Vergleichbarkeit, traditionell isst man in Italien eigentlich vier Gänge) 26 € bis 52 €

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