Alte Post in Wangen: Agonie

Summa summarum: ursprünglich mal ein schönes, nobles Kleinstadthotel, heute nur noch mühsam aufrecht erhaltene Fassade, Abnutzung und Renovierungsstau an allen Ecken und Enden, das Erdgeschoss okkupiert von einem Billig-Discounter, man spürt kein authentisches Flair, sondern lediglich Agonie und Niedergang, die eigentlich hübschen Speiseräume werden nur noch zum Frühstück genutzt, die Hotelküche verwaist, das Haus zum „Hotel garni“ degradiert, in das man nur rasch zum schlafen geht, mehr nicht. Ein Trauerspiel.

Zwei alte weiße Männer erklären sich gegenseitig die Welt. Sie wissen alles über steuerliche Absetzbarkeiten, Corona, Afghanistan, unzuverlässige Handwerker und Fridays for Future, dazu lassen sie zwischen den Zeilen gerne Andeutungen über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse fallen. „Als ich jetzt die Dachrinnen meines Mietshauses – nichts Großes, nur 8 Wohnungen – in Dingeskirchen reinigen lassen wollte, da sagte mir der Dachdecker doch, er könne nur in den beiden Wochen, in denen ich jedes Jahr in meiner Finca auf Mallorca bin, und das seit Jahrzehnten! Aber das hat den überhaupt nicht interessiert, so ein Hallodri, und alleine lasse ich den das doch nicht machen, Sie wissen ja, wie die sind, wenn man die nicht ständig beaufsichtigt.“ „Mallorca bin ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr, zu überlaufen, zu proll, mittlerweile selbst der Norden, wir haben uns stattdessen ein kleines Anwesen in Masuren gekauft, zurück zu den Wurzeln sozusagen. Und die Polen kennen diese Corona-Hysterie nicht, und Grüne werden dort noch immer – ganz wie weiland Ministerpräsident Wörner, das waren noch aufrechte Sozen – mit Dachlatten geprügelt. Aber auf den Benz muss man da halt höllisch aufpassen – Sie wissen ja: ‚Kaum gestohlen, schon in Polen!‘ hahaha –, aber einen Tod muss man halt sterben – hohoho.“ Solche Gespräche eben. Ich bin immer dankbar, wenn mir wieder mal – gewollt oder ungewollt – die Welt aus der richtigen Perspektive erklärt wird, und ich höre aufmerksam, wenngleich unbemerkt zu. Offensichtlich kennen die beiden sich nicht, sondern sind nur zufällig an zwei nebeneinander liegenden Frühstückstischen zum Sitzen gekommen, umso intensiver ist der Austausch zwischen den fremden Seelenverwandten. „Die Merkel konnte ich ja von Anfang an nicht leiden, dieses Honecker-Mädchen …“ „Aber die Baerbock wäre ja noch schlimmer, diese dumme grüne Weltverbesserin ohne jede Bodenhaftung und Erfahrung …“ „Da haben’se auch wieder Recht. Aber wen dann? Söder hätte ich ja noch gewählt, aber diesen Blödmann Laschet oder gar dieses Fähnchen im Wind Lindner? Bleibt eigentlich nur noch die AfD.“ „Wahrscheinlich haben Sie Recht, für unsereins bleibt fast nur noch die AfD.“ Affirmierende Kommunikation nennt man das im Fachjargon, die beiden versichern sich unablässig gegenseitig, die selbe, richtige Meinung zu haben. „Und Afghanistan, das hätte man von Anfang an ganz anders anpacken müssen, so ‚Unternehmen Merkur‘.“ „Genau, à la Kreta.“ HAHAHA, HOHOHO. Mich beruhigt einzig und allein, dass die beiden zu den Billiarden, die in den nächsten Jahren in Deutschland vererbt werden werden, ihr erkleckliches Scherflein beisteuern werden.

Aber darum geht es hier eigentlich nicht. Wir alle sitzen im Frühstücksraum der Alten Post in Wangen im Allgäu, mitten in der hübschen, unzerbombten Altstadt direkt zwischen Rathaus und Stadtbibliothek gelegen, einstmals zusammen mit der Mohrenpost (pfui, was für ein rassistischer Name, wo bleibt die Gutmenschenentrüstungsdemo mit Petition und Anketten und straffreier Randale?) die erste Adresse im Städtchen, die gute Stube des situierten, saturierten Bürgertums. Die Anfahrt ist etwas schwierig, durch die engen Sträßchen mit Einbahn-Gewirr durch die Altstadt, aber schön anzuschauen. Wenn man Glück hat, ist einer der fünf Parkplätze direkt vor dem Hotel frei, wenn man Pech hat, irrt man weiter durch die engen Sträßchen zu dem gänzlich unromantischen Großparklatz auf der anderen Seite der Argen – einem lieblichen Flüsschen, das sich durch die Stadt schlängelt, das sich aber auch schon mal zum reißenden Hochwasserfluss aufschwingen kann – und läuft dann samt Gepäck fünf Minuten wieder durch romantische Gässchen zurück zum Hotel. Der erste Eindruck von der Alten Post ist gänzlich desillusionierend: im kompletten Erdgeschoss ist heute ein Billig-Discounter für Klamotten untergebracht. Der Eingang zum Hotel ist altfränkisch-nobel mit einem großen Schmiedeeisernen Tor. Auf dem verblichenen Fußabtreter hinter der Tür erkennt man noch, dass dies einmal ein Romantik-Hotel war, das muss lange her sein. Marmor-Treppenaufgang, Kamin-Attrappe, ein kleiner Rezeptions-Counter, aber keine Hotelhalle mit Leben, da checkt man ein, geht auf’s Zimmer, macht sich frisch, geht wieder. Hier ist die Zeit stehengeblieben, aber sowas von. Im ersten Stock sind die Gasträume, Kronleuchter, alte wertige Möbel, alte Bilder, Spiegel in aufwändig geschnitzten, vergoldeten Rahmen, Parkettboden mit dicken Teppichen, schwere Vorhänge, wenn Konrad Adenauer plaudernd mit Marlene Dietrich an einem der Tische säße, so würde das nicht verwundern, aber wir schreiben 2021. Heute sind die Gasträume bis auf die Frühstückszeit verwaist, die Alte Post ist ein Hotel Garni. Schade eigentlich. Lift ist Fehlanzeige, Hoteldiener ebenso, man schleppt sein Gepäck selber über knarzende Stufen in die oberen Stockwerke. Mein Zimmer ist diesmal mittelgroß, angeschlagene Türstöcke, enges, fensterloses Bad mit angeschlagenen Kacheln und verkalktem Duschkopf, Blick auf den gänzlich unromantischen Hinterhof der Stadtbibliothek und Balkone mit Wäscheständern, die Möblierung war mal wertig, heute ist sie ist abgenutzt, mit unverkennbaren jahrzehntelangen Gebrauchsspuren, die Teppichkante löst sich, der Teppichboden sieht wenig vertrauenserweckend aus, das Bett ist schmal, die Matratze durchgelegen, die Bettwäsche dünn und kunterbunt, passend für jedes Kinderzimmer, aber nicht für ein Hotel, eine verbeulte alte Radiokonsole, die Kabel für den kleinen Flachfernseher mit 24 Programmen über Putz verlegt, die Minibar leer, ein kleiner Tresor, in den vielleicht ein Collier passt, aber ganz bestimmt kein Laptop, winziger Schreibtisch ohne Steckdosen … Vor Jahrzehnten war das sicherlich mal ein nobles kleines Zimmerchen, heute atmet es die Patina und den Verschleiß von Jahrzehnten. Es gibt in der Alten Post auch größere, noblere Zimmer, aber diesmal habe ich halt dieses erwischt. Es gäbe auch eine schöne Dachterrasse mit Blick über die Altstadt, aber auch die ist verwaist. Von dem berühmten morbiden Charme ist hier nichts mehr zu spüren, das ist nur noch morbide.

So leid es einem tut, dies ist ein sterbendes Etablissement mit Jahrzehnte-langem Renovierungsstau. Das Haus hat unzweifelhaft Patina, ist authentisch, es atmet Geschichte, und gleichzeitig ist es abgewohnt und ausgenudelt. Sowas schmerzt. Betrieben wird es offensichtlich von einer älteren Dame zusammen mit ein paar weiblichen Hilfskräften als Kaltmamsellen und Reinigungskräfte. Wahrscheinlich wird es der Alten Post ebenso ergehen wie weiland der benachbarten Mohrenpost, ebenso ein altes, authentisches Hotel mit Renovierungsstau und Patina: als die alte Dame, die die Mohrenpost betrieb, starb, wurde das Haus verkauft, unambitioniert renoviert, die einst wunderschönen Gasträume wurden zeitgeistig systemmöbellig gestaltet, und heute gibt es dort Thai Kokos Suppe, Orientalische Salatbowl vegan und Burger, das alles ist jetzt beliebig, die Authentizität ist futsch, aber in dem Haus der Mohrenpost ist immerhin Leben, zeitgeistig, aber die alte, schöne Mohrenpost, die ist tot. Und die Alte Post liegt für mich längst im Sterben …


HOTEL ALTE POST
Inhaberin: Gisela Veile
Postplatz 2
88239 Wangen im Allgäu
Telefon: +49 (75 22) 97 56 – 0
Fax: +49 (75 22) 2 26 04
E-Mail: altepost@t-online.de
Online: www.hotel-alte-post-wangen.de

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