„Seit wann ist sie weg?“ fragt Caro. „Ich weiß heute nicht mehr, ob sie jemals richtig da war.“ antwortet er. „Nun gut, seit wann ist sie nicht mehr richtig da?“ „Richtig da war sie schon seit einem Jahr nicht mehr, nachdem unser ‚honey moon‘ vorbei war, aber ich habe immer geglaubt, gehofft, dass sich das gibt, dass wir richtig zusammenfinden. Ganz weg ist sie seit drei Tagen, seitdem ich Dich angerufen hatte.“ „Einfach eine Mail und Schluss?“ „Einfach eine Mail und Schluss!“ David Deck junior stellt ihm wortlos einen neuen Martini hin, lächelt kurz und ehrlich freundlich und entfernt sich rasch wieder aus Hörweite, er ist unglaublich diskret, wie es sich für einen guten Barkeeper gehört. Er hat sich mit Caro im Pusser’s in der Münchner Falkenturmstraße verabredet, hier wo alles begann, wo ihm William „Bill“ Deck senior vor ziemlich genau 38 Jahren Seinen ersten Martini Cocktail servierte und ihn in die Geheimnisse des Cocktails aller Cocktails einweihte, bis heute – ungeachtet aller modernistischen Comes and Goes, auch ungeachtet der arroganten Schumann-Clique – die beste Bar nicht nur Münchens, sondern ganz Süddeutschlands. Wie fast immer sitzen sie in der Ecke auf dem kleinen Bänkchen rechts von dem großen Tresen, diese Bank hat was von Heimat für ihn, wenn er sich setzt und der Keeper nur fragt „Wie immer? Tanqueray ten?“, das ist schön. „Du säufst zu viel, das bringt auch nichts. Das war doch sicher schon Dein Vierter oder Fünfter!“ sagt Caro vorwurfsvoll. „Aber die Drinks hier sind schon extrem klein,“ – obwohl David sein Glas schon immer extra voll macht, eine stillschweigende Verabredung zwischen den beiden – „außerdem hilft es in dieser Situation.“ versucht er sich rauszureden. „Papperlapapp, es wird Zeit, dass ich Dich mal wieder richtig schimpfele. Hast Du mal darüber nachgedacht, dass Deine Martinis nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind?“ „Hast Du mich in den letzten Jahrzehnten schon mal richtig betrunken erlebt?“ „Eben nicht, das macht mir ja so Sorgen. Hat sie geschrieben, warum sie Schluss macht?“ Er seufzt aus tiefstem Herzen: „Das Übliche halt, zu viele Unterschiede, zu wenig Gemeinsamkeiten. Sie ist eine Laufente, ich bin ein Stubenhocker. Sie benutzt einen Thermomix, ich kann stundenlang in der Küche stehen. Sie mag konvulsivische Menschenmengen auf Tanzflächen, Stadien, Konzerten, ich bin introvertiert und hasse verschwitzte Körper, außer vielleicht wenn… Sie hängt diesem erz-reaktionären, totalitären Irrglauben an, ich habe meinen Erasmus und auch meinen Kant gelesen. Sie träumt romantisch von einer Vergangenheit, die sie als Zukunft versteht, ich hoffe auf eine wirkliche Zukunft. Sie glaubt an Multi-Kulti, ich halte Multi-Kulti für eine blauäugig-barbarische Missachtung gewachsener Kulturen.“ „Wenn Ihr so verschieden seid,“ fällt Caro ihm in’s Wort, „wie konntet Ihr überhaupt miteinander anbandeln?“ Er zitiert die Korinther, eine der wenigen Bibelstellen, die ihm im Gedächtnis geblieben sind: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.“ „Kann es sein, dass Du ein hoffnungsloser, blauäugiger Romantiker bist?“ „Eigentlich nicht, aber in diesem speziellen Fall vielleicht schon.“ „Liebst Du sie noch?“ fragt Caro. „Ob ich sie noch liebe oder nicht, das tut doch nichts zur Sache, das ist unwesentlich geworden. Es ist zwecklos.“ antwortet er resigniert und nimmt einen großen Schluck Martini, Caro nippt an ihrem Rum, die Hausmarke Pusser’s. „Deine Liebe muss also einen ‚Zweck‘ haben? Tss-tss-tss!“ „Zumindest den ‚Zweck‘, wieder geliebt zu werden.“ „Und wie passt das zu ‚erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf?‘ Tss-tss-tss!“ „Das ist jetzt unfair!“ „Wenn es jetzt sein müsste, würdest Du ihr in dieser Situation noch eine Deiner Nieren spenden?“ Er zögert. Nach ein paar Sekunden peinlichen Schweigens fährt Caro fort: „Damit hast Du die Antwort doch schon gegeben, Du liebst sie nicht mehr. Dein ganzer Korinther-Sermon ist gerade den Bach runter.“ „So einfach ist das nicht. Ich habe immer gehofft, wahre Liebe könnte diese Unterschiede überwinden.“ „Kann sie offensichtlich nicht.“ „Könnte sie, wenn sie auf Gegenseitigkeit beruhte.“ „Beruht sie offensichtlich nicht.“ „Das ist es ja.“ antwortet er. „Warum haben wir beide eigentlich nie was Ernsthaftes angefangen, Caro? Wir sind uns doch um so viel ähnlicher.“ „Wir mögen uns viel zu sehr, wir sind uns viel zu ähnlich, viel zu nah, als dass … Näher kann man sich nicht kommen. Entweder Du sitzt mal an meinem Sterbebett oder ich an Deinem, soviel weiß ich.“ „Das mit dem Sterben verschieben wir mal bitte auf später, viel später. Was ich mich frage ist vielmehr, ob ich überhaupt noch zu einer Beziehung fähig bin … oder besser, ob ich noch dazu geeignet bin, nachdem meine Frau mich verlassen hat. Auf Bettgeschichten und one-night-stands habe ich keine Lust, das ist nichts für mich. Aber ‚Beziehung‘ kann ich offensichtlich nicht mehr. Das war jetzt der wievielte Beziehungsversuch, den ich mit Bravour vor die Wand gefahren habe, seitdem …?“ „Aber diesmal hat doch wohl sie vor die Wand gefahren.“ „Ich werde schon mein gerüttelt Maß Anteil an dieser aktuellen bravourösen Wandfahrt gehabt haben. ‚Sie ist ganz alleine schuld!‘ wäre zu einfach, und ungerecht dazu. Sie hat nur den Schlussstrich gezogen, für uns beide.“ „Und was willst Du jetzt machen?“ „Erstmal in Klausur mit mir selber gehen, in Askese und Selbstkasteiung. Nachdenken und mich wieder mal suchen, vielleicht findet sich ja doch noch was Brauchbares.“ „Martinis und Zigarren sind für Dich Askese und Selbstkasteiung? ‚Na bravo!‘ würde der alte General sagen.“ „Ab Morgen …“ versucht er sich zu rechtfertigen. „Ja, ja, ab Morgen …“ äfft Caro ihn spöttisch nach. „Es gibt doch diese ganzen Parships und Elite Partner und C-Dates, und wie sie alle heißen, oder ganz traditionell, ein Inserat in der Zeitung, das würde passen, so altbacken wie Du bist.“ „Du kennst Dich aber überraschend gut aus in der Online-Dating-Szene. Betrügst Du mich etwa?“ fragt er ironisch. „Was meinst Du, wie oft Leute mich ansprechen, dass sich ihr Abonnement bei einer dieser Romantik- und Bums-Seiten automatisch um ein Jahr verlängert hat, weil sie zu blöde waren, das Kleingedruckte zu lesen und rechtzeitig zu kündigen? Denen muss ich dann immer erklären, dass ich für sowas die Falsche bin, mein Honorar überstiege die Kosten für ihr ungewolltes Jahres-Abo um ein Vielfaches, außerdem hat man in so einem Fall eh‘ meistens keine Chance. Ich sage den Leuten dann immer, sie sollen’s als wohlfeiles Lehrgeld nehmen. Eine Spontan-Ehe ohne Gütertrennung kann da um einiges teurer werden.“ Und wie hilft mir das jetzt?“ „Gar nicht, helfen musst Du Dir schon selber.“ Beide trinken aus und gehen durch die warme, regnerische Nacht Richtung Bayrischer Hof.