Die unglaublich wichtigen Menschen hatten den unglaublich wichtigen Termin mit den unglaublich wichtigen Geschäftspartnern zu dem unglaublich wichtigen Thema für 09:30 Uhr angesetzt, ja geht’s noch? Als die unglaublich wichtigen Menschen merkten, wie unglaublich wichtig dieser Termin mit den unglaublich wichtigen Geschäftspartnern zum dem unglaublich wichtigen Thema tatsächlich werden würde, bat man auch mich dazu, quasi als Mr. Unglaublich Wichtiger. Schmeichelhaft, aber meiner Nachtruhe abträglich. Aber wenn alle Absprachen stehen, und man als letzter zu einem Meeting eingeladen wird, gebietet es die Höflichkeit, das Timing nicht ohne Not wieder umzustoßen. Andererseits gebietet ein Meeting um 09:30 Uhr in der Pariser Innenstadt den red eye bomber, und selbst der wird noch verdammt eng, bei dem obligatorischen allmorgendlichen Verkehrschaos an der Seine. Was bleibt dem frankophoben Teutonenspross also anderes übrig, als schon am Vorabend anzureisen und die Nacht bereits vor Ort zu verbringen? Der unglaublich wichtige Termin mit den unglaublich wichtigen Geschäftspartnern zu dem unglaublich wichtigen Thema fand im 8. Arrondissement am Boulevard Hausmann statt, wo all die unglaublich wichtigen Berater, Anwälte, Notare und Wirtschaftsprüfer ihre unglaublich teuren Büros haben (wenn sie nicht vernünftiger Weise in La Défense sitzen, aber dann ist man per definitionem nicht mehr unglaublich wichtig, sondern maximal noch wichtig). 8. Arrondissement, da bietet sich immer der Pariser Ableger der kleinen Hotel-Kette Buddha Bar Hôtel zum Nächtigen an, eine stets sichere Bank in der 4 rue d’Anjou, von dort ist man Fuß in zehn Minuten auch am Boulevard Hausmann. Das Publikum und das Flair sind nicht so steif wie im Bristol und den anderen altehrwürdigen Schuppen, aber es ist auch keine Berater- und Pauschaltouristen-Luxus-Jugendherberge wie etwa das unsägliche Pariser Marriott Ambassador. Der Innenhof ist in der Hektik der Stadt ein stets angenehmes Refugium, und die Barkeeper verstehen ihr Handwerk, die Zimmer sind komfortabel und vor allem ruhig, die Bäder recht groß, aber das asiatische Cross-Over-Futter im hauseigenen Restaurant VrayMonde ist vielleicht ich nicht einmal schlecht, aber sowas von austauschbar, das kriege ich ziemlich identisch auch in Wanne-Eickel, Washington oder Wellington. „Wenn Du im achten Bezirk bist“, hatte Caro gesagt, „dann musst Du unbedingt mal in’s l’évasion, fast direkt bei der Jeanne d’Arc – Statue.“ Caro kennt sich da aus, sie ist da gefühlt andauernd, bei ihren Notar-Kollegen in Paris, und die scheinen alle irgendwie am Boulevard Hausmann zu sitzen, ein Notar-Cluster sozusagen.
Auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick sieht das l’évasion – auf Deutsch heißt das „Flucht“ – aus wie hunderte andere Pariser Bistros, kleine, blanke Tische aus Bohlenbrettern, zum Essen werden Streifen von einfachem weißen Papier darüber gelegt, eng bestuhlt, typische Bistrostühle, rot bezogene Sitzbänke an den Wänden, große Tafel für die Tageskarte, vor der Tür ein paar kleine Tische auf dem Trottoir, mächtige Theke, aber – und das ist nicht mehr selbstverständlich für Pariser Bistros – alles sehr aufgeräumt, wenig Tinnef, verheißungsvolle Boutillen auf der Theke, ordentliche Weingläser eingedeckt (Pressglas zwar, aber immerhin), für ein Bistro sogar ordentliches Besteck und keine Blechlöffel (wie sonst so oft), dazu Stoffservietten. Alles macht einen sauberen, properen, aber unprätentiösen Eindruck, dadurch aber auch unangestrengt und locker. Hier erschaudert man nicht beim Eintreten (soll man ja auch nicht, ist ja ein Bistro), allerdings erschaudert man hier unweigerlich beim Blick in die Speiskarte, genauer genommen beim Blick auf die Preise, denn die sind selbst für ein Pariser Bistro happig, aber später dazu mehr). Laurent und Catherine Brenta haben hier zusammen mit ihrem Koch Rachid Anzali und dem Sommelier James Torilhon (ein Mensch mit einer wirklich bemerkenswerten Biographie, die ihn schließlich zum Wein geführt hat, eine Plauderei mit ihm über sein Leben lohnt sich immer, bei zwei, drei Gläsern Wein) ein Refugium geschaffen, das seinesgleichen sucht. Eigentlich ist das l’évasion ein gehobenes Restaurant (das für mich zuweilen bereits am ersten Stern kratzt) ohne dabei steif, kompliziert oder anstrengend zu sein, äußerlich ist und bleibt es Bistro mit Bistro-Terroir (wenn das Wortspiel gestattet ist). Das „gemeine Volk“ hält man sich hier ganz einfach vom Leibe: über den Preis, die billigsten Hauptgerichte – Schellfisch oder Tatar – kosten gleich mal 28 €, das ist selbst für Pariser Verhältnisse schon mal eine Ansage, die den einen oder anderen zur spontanen Revision seiner Gaststätten-Pläne bewegen dürften. Aber Preis ist nur die eine Seite der Medaille. Was man dafür bekommt, die Andere. Brenta und sein Team setzen dabei durchweg auf Qualität: bodenständige, meist französische Produkte von höchster Qualität mit klarer, unverschnörkelter Zubereitung. Ein pochiertes Landei in einer leichten Trüffelsoße (einer Soße aus Trüffeln, ganz ohne dieses vermaledeite sog. Trüffelöl) mit reichlich Trüffelscheiben oben drauf: hervorragend. Schnitze von verschiedenen Tomaten, die allesamt nach Tomate schmecken, und dazu noch jeder unterschiedlich, nicht dieser holländische Nährlösungs-Einheitsbrei, darauf dünne Zwiebelringe, ein paar frische Kräuter und ein Dosenthunfisch von einer Qualität, wie ich sie glaube ich noch nie gegessen habe, Pfeffer, Salz, bestes Olivenöl, bester Essig, mehr braucht es nicht für ein perfektes Gericht. Berühmt (und prämiert) ist das l’évasion für seine hausgemachte Mayonnaise (die fast so gut ist wie meine, muss ich zugeben), z.B. mit frisch blanchierten Gemüsen zu einem Salat vermischt, ein Gedicht, ebenso die ganz einfach gebratenen Pilze mit frischer Petersilie oder das klassische Tatar mit einer ganz leicht rauchigen Note. Das sind allesamt kleine, unaufwändige Gerichte, die man auch in einer winzigen Küche hinbekommt, für die man aber zum einen die Zutaten und zum anderen das Können braucht, und beides ist hier vorhanden. OK, das Fleisch wird auch hier, wie in Frankreich üblich, falsch geschnitten, das Steak ist faserig und zu lange gebraten, die Pommes tatsächlich hausgemacht, aber hier wäre TK-Ware die bessere Wahl gewesen. Aber z.B. der Kartoffelbrei mit Trüffel oder die Schweinsterrine wieder zum Niederknien. Bis zu den Nachtischen habe zumindest ich es angesichts der Vorspeisen-Köstlichkeiten noch nie geschafft, ich arbeite aber daran. Dazu passt eine sehr französische Weinkarte, die Kennerschaft zeigt und die große Vielfalt Französischer Weinkultur wiederspiegelt, ohne auf die önologischen Allgemeinplätze zu verfallen, die man auf deutschen Weinkarten hoch und runter findet. Es gibt erfreulich viele offene Weine, das Glas fängt bei 10 € an und kann auch schon mal bis 30 € hochgehen, Flaschen gibt es ab 45 € ad infinitum. Aber am besten lässt man die Weinkarte sowieso liegen und lässt sich von James Torilhon vertrauensvoll beraten (Plaudern über sein Leben dabei nicht vergessen).
l’évasion ist tatsächlich eine kleine Flucht, eine Flucht aus der Hektik von Paris und eine Flucht vor der schlechten Französischen Küche: hier hat man seine gediegene, aber nicht steife Ruhe und Entspanntheit, und hier tafelt und süffelt man vorzüglich. Und das inmitten von Menschen, die sich nicht schnell mit irgendwas Essbarem vollstopfen oder die bei wichtigen Geschäftspartnern Eindruck um jeden (Spesen)-Preis schinden wollen, sondern inmitten von Menschen, die einfach nur in Ruhe genießen wollen … und sich das auch leisten können, unter wenigstens 150 € pro Nase (mit ordentlich Wein allerdings) verlässt man das l’évasion nicht, und das sind dann schon eher wieder preisliche Sterne-Regionen.
l’évasion
7 Place Saint-Augustin
75008 Paris
+33 (1) 45 22 66 20
www.restaurant-levasion.com
Hauptgerichte von 28 € (geräucherter Schellfisch) bis 39 € (Kalbfleisch mit schwarzem Trüffel), Drei-Gänge-Menue von 51 € bis 76 €