Summa summarum: derbe, traditionelle, authentische Berliner Volksküche, plump, schmackhaft, sättigend in unverfälschter, echter Kneipen-Atmosphäre. Nichts für kulinarische Feingeister, auch nicht für jeden Tag, aber dann und wann macht auch sowas mal Spaß.
Die Liste der Gäste, die das Berliner Restaurant mit dem unkonventionellen Namen Schildkröte seit seiner Eröffnung 1936 besucht haben, liest sich wie ein Auszug aus dem Who-is-Who der jüngeren Geschichte Deutschlands: Hans Albers, Hans Rosenthal, Harald Junke (im Kempi soff er, in der Schildkröte aß er), Klaus Wilke (als Percy Stuart habe ich ihn als Kind geliebt), Georg Thomalla, Sepp Herberger mit seinen sinnbefreiten Balltretern, Heino, Johannes Hesters, Wolfgang Völz (der Johann vom Grafen Yoster), Götz George, Karin Baal, Harald Dietl, … Viele ihrer Bilder hängen bis heute – oft handsigniert – an den noch immer rauchigen, halbhoch holzvertäfelten Wänden des Lokals, dazu leicht zu reinigender Steinfußboden, schmiede-kupferne Lampen, solide Stühle, blanke Tische, mächtiger Schanktresen, viel staubfangender Tinnef wie Bierkrüge, Amphoren, Figürchen auf Regalbrettern an den Wänden, gelbliches, gedämpftes Licht, Butzenscheiben, hinten noch eine separate Weinstube … so stellt man sich das Klischee einer typischen Deutschen Kneipe vor. In der Schildkröte aber ist nichts gestellt, konstruiert, inszeniert, das Lokal ist echt, selbst den alliierten Bombenterror überstand das Haus in einer Seitenstraße der Kudammes nahezu unversehrt und konnte gleich nach der Eroberung wieder öffnen, die fünf Besitzer des Restaurants gestalteten und modernisierten die Gasträume immer nur vorsichtig, mit Bedacht, und wohl auch nach ihrem eigenen, offensichtlich sehr „urigen“ Geschmack. Wenn heute Hans Albers und Harald Junke trunken durch die Tür torkelten und nach Königsberger Klopsen, Bier und Korn verlangten, man würde wahrscheinlich nichts Besonderes daran finden, so authentisch ist die Schildkröte bis heute … bis auf die Touristen aus aller Welt, die mehr und mehr dank vermaledeiter Reiseführereinträge den Weg hierher finden. (Nichts gegen Touristen, ich bin oft genug selber einer, die Gefahr ist halt, dass ein Wirt irgendwann auf den Trichter kommt, dass es einträglicher ist, dummes Touri-Volk mit überteuerten Convenience-Burgern abzufüttern als halbwegs original traditionell zu kochen, und dann sind solche Lokale ruck-zuck tot.)
Halbwegs original traditionell zu kochen: schaut man sich die Speisekarte der Schildkröte an, so ist diese weitgehend frei von internationalistischen Mainstream-Sünden, sieht man von Bauernsalat mit Schafskäse, Schillerburger, Kartoffel-Möhrenpuffer mit Champignonrahmsauce und Flammenkuchen mit Schafskäse einmal ab, alle anderen Gerichte dürften so oder so ähnlich auch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren serviert worden sein: Kartoffelsuppe mit Knacker, Erbseintopf mit Eisbeinfleisch, Bouletten mit Gewürzgurke und Brot, Eisbeinsülze mit Remoulade und Bratkartoffeln, Currywurst (ok, die soll Herta Heuwer erst 1949 erfunden haben), Schmalztopf, Hackepeter, Schinkeneisbein mit Erbspüree, Sauerkraut und Kartoffeln, Kalbsleber Berliner Art, Königsberger Klopse mit Kapernsauce, roter Bete und Petersilienkartoffeln, Hühnerfrikassee mit Petersilienkartoffeln, Eierkuchen, Rote Grütze … da können glatt Kindheitserinnerung wach werden.
Tja, und jetzt wird es irgendwie schwierig mit der Bewertung. Der Erbseintopf ist ein dicker, heißer, grüner Brei mit zerkochten Erbsenstücklein und Gemüsen sowie großen Brocken mageren Eisbeinfleisches: keine kulinarische Großtat, keine totgekitzelten Bio-Zutaten aus alten, vergessenen, rekultivierten Sorten vom Öko-Bauern, keine harmonierenden Geschmackserlebnisse mit korrespondierenden Texturen und Gerüchen, keine optisch ansprechende Darbietung … einfach dicker, heißer, grüner Erbseneintopf, aber der lecker und gehaltvoll, mehr will Erbseneintopf ja nicht sein, aber auch nicht weniger. Die Schinkensülze tadellos, ein wenig viel Gemüse, dafür mageres Fleisch, die Remoulade aus dem Eimer, die Bratkartoffeln mäßig, da ist selbst für eine bodenständige Küche ohne höhere Ambitionen noch Luft nach oben. Das Eisbein riesig, viel saftiges, wohlschmeckendes, zartes Fleisch unter der dicken Fettschicht, das Sauerkraut lange gekocht, das Erbspüree kalt, die Kartoffeln ok. Die Currywurst richtig gut, recht scharfe Sauce, gute Wurst, sehr gute Pommes, nette Salatbeilage. Und die Bouletten mit Senf aus der Hand, das ist einfach Berlin. Dazu süffige, frische Berliner Biere zu moderaten Preisen, ordentliche Schnäpse, und mehr als die Hälfte der Gäste scheinen tatsächlich noch Eingeborene – oder zumindest domestizierte Zugezogene – zu sein.
„Wat schriev man in sone Fall?“ textet BAP in seiner Deutschen Version von Cohens „Famous Blue Raincoat“, und mir geht’s gerade ähnlich. Hier muss man einfach mit zweierlei Maß messen. In den Maßstäben gehobener Restaurant-Kritik wäre das Essen in der Schildkröte durch die Bank weg das, was Altvater Siebeck immer wieder als „Plumpsküche“ anprangerte und beschimpfte, wohl auch aus eigenen traumatischen Kindheitserinnerungen heraus, aber wahrscheinlich ebenfalls aus dem Drang, sich selber zu erhöhen, indem man andere erniedrigt (wäre so meine post-mortale psychoanalytische Interpretation … und bei mir, bei mir ist das alles natürlich ganz was anderes). Von einem ethnologischen Gesichtspunkt aus ist die Schildkröte wahrscheinlich ein idealer Ort für Feldforschung über bürgerliche Essensgewohnheiten vor hundert Jahren. Nun gut, zwischenzeitlich mögen der eine Geschmacksverstärker, der andere Convenience-Bottich und auch das Turbo-Mast-Schwein und der Kombidämpfer dazu gekommen sein, die es alle vor hundert Jahren noch nicht gab, dafür sollten die hygienischen Verhältnisse und die Lebensmittelkontrollen etwas penibler sein als anno dunnemals, ansonsten aber dürfte dieses Essen ziemlich authentisch sein, der Herr Schreinermeister und die Frau Studienrätin werden vor hundert Jahren kaum anders getafelt haben. Und manchmal macht solches Essen – begleitet von reichlich Fürst Bismarck Korn – einfach Spaß, oder, mit Johannes Mario Simmel: „Es muss nicht immer Kaviar sein“.
Schildkröte
Tafelrunde Gaststättenbetriebs GmbH
Geschäftsführer Uwe Schild
Kurfürstendamm 212
10719 Berlin
Deutschland
Tel.: +49 (30) 8 81 67 70
Fax: +49 (30) 6 31 81 61
E-Mail: schildkroete@t-online.de
Web: www.restaurant-schildkroete.de
Hauptgerichte von 10,80 € (Königsberger Klopse, Kapernsauce, rote Bete, Petersilienkartoffeln) bis 21,50 € (Rumpsteak, grüne Bohnen, Kräuterbutter, Rosmarinkartoffeln, Salat), Drei-Gänge-Menue von 19,80 € bis 37,00 €