„Pas de cartes de crédit!“ So oder so ähnlich begrüßt Michel Bosshard alias Boboss, Maître des Quincy in Paris, eintretende Gäste, die keine Stammgäste sind oder die sogar den Makel des Touristen, gar des Ausländers tragen, um dann gleich noch in sehr schlechtem Englisch hinzuzufügen, auf dass es auch jeder verstehen möge „No credit cards!“ Offensichtlich scheint allein dieser doch relativ simple Trick die schlimmste Touristenmischpoke fernzuhalten, die sich aber ohnehin nicht zu häufig in die Seitenstraße zwischen Gare de Lyon und Place de la Bastille verirrt. Von außen ist alles unscheinbar, unspektakulär, unauffällig an der L’Auberge Le Quincy, fast, als wolle sie sich verstecken, ein kleiner hölzerner Vorbau auf dem Trottoir, die Scheiben nahezu vollkommen verhangen mit rot-weiß karierten Gardinen, innendrinnen in dem recht kleinen Gastraum mit vielleicht gerade mal einem Dutzend kleiner Tische ist es ebenfalls … ja, man könnte jetzt düster schreiben, aber man kann auch heimelig sagen. Das rot-weiße Karomuster setzt sich bei Tischdecken und Servietten fort, gebrannte Fliesen mit Muster am Boden, die Wände halbhoch mit Holz verkleidet, Balkendecke, vergilbte Photos in Rahmen an den Wänden, die meist von vergangenen Festschmausen und Zechereien zeugen, ein wenig Tinnef, Kuhglocken zum Beispiel, quälend enge Bestuhlung, besonders in dem hölzernen Vorbau (ich sprach bereits davon, aber in Paris ist halt jeder Quadratzentimeter Gold wert).
Mittags dominiert älteres Publikum, ich würde auf den Herren Architekten, die Frau Richterin, den pensionierten Arzt mit Gattin und Co. tippen, der statistisch repräsentative Börsenspekulant fehlt ebenso wie der nette Hipster von nebenan und der kleine Mann von der Straße, Emmanuel Macron würde hier gewiss keine Wahl gewinnen, des Abends wird der Alters- und Sozialdurchschnitt der Gäste dann etwas niedriger. Was alle im Le Quincy zu einen scheint ist die Freude an gutem Essen und Trinken und die nahezu bedingungslose Unterordnung unter das freundlich-wohlwollende Diktat des Wirtes Boboss, dem das Wohlergehen seiner Gäste persönliches und engagiertes Anliegen ist. Weinkarte zum Beispiel gibt es keine, man nennt eine Region, eine Traube oder eine Preisklasse, und Boboss liefert zuverlässig und passend offen und oder in ganzen Flaschen, und niemals zu einem Preis, der die Brieftasche des Zechers über individuelle Gebühr belastete; noch cleverer allerdings ist es, das Essen zu ordern und Michel Bosshard dann einfach machen zu lassen, man sollte lediglich vorab sagen, ob man viel oder sehr viel Alkohol wünscht, irgendwann wird man dann auch mal ungefragt (und unberechnet) das eine oder andere Glas der legendären Alten Pflaume gereicht bekommen, nur als Verdauungshilfe natürlich. Was man allerdings tunlichst lassen sollte ist es, sich ein Mahl lang mit einer Flasche Wasser über Wasser halten zu wollen, Abstinenzler werden hier gar nicht gerne gesehen und auch nicht nett behandelt, und das ist gut so. Punktum.
Das Essen, ach ja das Essen, das ist, als hätte es Michel Guérard, Fernand Point, Alain Chapel und ihren geschäftstüchtigen Lynoner Adepten nie gegeben, hier hechelt auch niemand modernistischen Säuen durchs globalisierte kulinarische Dorf nach, hier wird gekocht wie vor Jahr und Tag, ländlich, rustikal, fett, wohlschmeckend, frisch, kräftig gewürzt, regional, traditionell und natürlich gekonnt. Man fühlt sich willkommen, wenn man, nachdem man zu erkennen gegeben hat, dass man die Zeche auch ohne Kreditkarte wird begleichen können und sich setzten durfte, ein, zwei dicke Scheiben Wurst einfach so frisch vom Stück auf den Teller geschnitten bekommt, dazu ein Gläschen – mäßigen – Champagners, eine sehr schöne Sitte. Die Speisekarte ist wahrscheinlich seit de Gaulles Zeiten unverändert, nur widerwillig von Franc auf EURO umgestellt, Terrinen, Schnecken, Froschschenkel, lange geschmorte Ragouts vom Kaninchen oder vom Ochsenschwanz, eines der besten Cassoulets, die ich kenne, viele geniale Kohlgerichte, eine große Bandbreite traditioneller französischer Desserts, allen voran Milchreis mit Rosinen und das Grand Manier-Eis. Nochmals besser fährt man jedoch meist, wenn man die Speisekarte ignoriert, sich die Tagesgerichte vortragen lässt und daraus wählt. Bestellt man die Hausterrine mit Krautsalat, so ist das nicht nur eine sichere kulinarische Bank, begeistert bin ich immer wieder darüber, dass die komplette Terrine samt Messer auf den Tisch gestellt wird und eine große Schüssel unglaublich leckeren Krautsalats mit viel Knoblauch dazu, von beiden kann man sich bedienen, bis man genug hat, dann erst wird abgeräumt. (Wahrscheinlich widerspricht es sämtlichen EU-Hygienevorschriften, Terrine und Krautsalat ungekühlt, unabgedeckt und unkontrolliert in der Obhut des Gastes zu lassen – schließlich könnte ich ja zum Beispiel lungenkrank und bösartig hineinspucken – und danach dem nächsten Gast zu servieren: geschissen auf EU-Vorschriften, ich mag das.) Müßig, über das Essen zu schreiben: unglaublich fleischige, dicke, wohlschmeckende Schnecken in hausgemachter Kräuterbutter aus frischen Kräutern, das geschmorte Kaninchen in Sahnesauce mit Morcheln und Reis zart, nicht trocken, unendlich gehaltvoll, die Flusskrebse im Quincy sind legendär, wenn man es noch schafft, lässt man sich eine Schüssel mit Milchreis und dazu eine Schüssel mit eingeweichten Rosinen und Korinthen auf den Tisch stellen und bedient sich, bis man platzt. Und so weiter und so fort. Es gibt sehr, sehr wenige Restaurants, von denen ich sagen kann, dass ich noch nie enttäuscht worden wäre, das Quincy gehört zweifelsohne dazu.
L’Auberge Le Quincy
Michel Bosshard
28 Avenue Ledru-Rollin
75012 Paris
Frankreich
Tel.: +33 (1) 46 28 46 76
Online: www.lequincy.fr
Hauptgerichte von 24 € (Kaninchen in Weißweinsauce mit Schalotten) bis 48 € (Fasan auf geschmortem Kohl), Drei-Gänge-Menue von 49 € bis 94 €