Neulich in Genua. Die Touristensaison ist längst vorbei, obwohl sie in diesem Jahr gar nicht erst richtig angefangen hatte. Viele der schlimmsten Touristen-Abzock-Kitsch-Läden sind geschlossen, und das ist gut so. Die Scarlet Lady der Reederei Virgin Voyages von Milliardär Richard Branson, ein 110.000 Bruttotonnen schweres, 278 Meter langes und 38 Meter breites Monster mit über 1.400 Gästekabinen für mehr als 2.770 Passagiere, dazu 1.160 Besatzungsmitglieder, erst im Februar in Genua mit viel Tam-Tam in Dienst gestellt, dümpelt im Hafen vor sich hin, ein paar Piere weiter wurde die Costa Concordia abgewrackt, andere Kreuzfahrtschiffe machen sich rar dieser Tage und spucken ihre geriatrische Fracht nicht mehr stundenweise in die Stadt, selbst die Afrika-Fähren scheinen nicht mehr so häufig zu fahren wie sonst, die umfänglichen Warteschlangen-Gitter vor dem berühmten See-Aquarium sind leer und sinnlos, die paar Besucher erhalten sofort Einlass, Kinder sind frei, ein nettes Zeichen für Familien, ein schlechtes Zeichen für den Tourismus, daneben wartet Polanskis Schiffs-Attrappe aus seine Film Piraten auf zahlende Besucher, während ein Gericht in Los Angeles den Rauswurf Polanskis aus der für die Verkungelung der Oskars zuständigen Academy of Motion Picture Arts and Sciences gerade im August bestätigt hat, die kleine Kopie des London Eyes fährt jetzt auch schon mit nur einer besetzte Kabine, während man hier noch vor Jahresfrist lange anstehen musste, um eine Platz zu ergattern. Dennoch ist es nicht still in der Stadt – hey, es ist Genua, größter Hafen Italiens –, aber es ist stiller als sonst, es ist, als hätte sich die Stadt zum Teil nach innen gestülpt, auf sich selber besonnen, auf das Wesentliche reduziert. Selbst die Huren in den Querstraßen zwischen der Via della Maddalena und der Via Garibaldi – dieser famose historische Innenstadt-Strich direkt vor den Augen der Touristen und doch verborgen – haben abgerüstet, es sind fast nur noch die Alten und die Schiachen da, die zuweilen atemberaubenden und doch wohlfeilen Schönheiten sind weitgehend verschwunden (wohin wohl?), statt dessen schaut uns ein vielleicht sechzig- oder siebzigjähriges Wesen, verschrumpelte Haut, grell geschminkt, verwaschene Fummel, vielleicht Weiblein, vielleicht Männlein, vielleicht auch nicht, auf einem Schemel vor der schäbigen Liebesgrotte in der Gasse sitzend, traurig an, wer hier zum Hurenbock wird, der ist wirklich hart drauf, oder ebenfalls sehr verzweifelt, das wäre dann echte Symbiose.
Es ist eine ganz seltsame Stimmung in Genua in diesem Herbst 2020. Wenn man seit Jahrzehnten alle ein, zwei Jahre für ein, zwei Wochen in diese Stadt kommt, ganz einfach weil man von dieser Stadt magisch angezogen fühlt, spürt man diese veränderte, seltsame Stimmung ungleich stärker. Wie immer wohnen wir im Grand Hotel Savoia über dem Fährhafen mitten in der Stadt, teils aus alter Verbundenheit, teils weil es das einzige Fünf-Sterne-Hotel war, neuerdings gibt es auch noch ein Meliá in dieser Kategorie, ein gesichtsloser internationalistischer Schuppen. Das Savoia Grand schafft es seit Jahrzehnten, diese Gradwanderung zwischen Stil und Noblesse mit morbidem Charme und abgewrackt aufrecht zu erhalten, ein Realität gewordenes Restaurant Milliways, und wir sind unverändert gerne dort, trotz des unsäglichen Hotel-Restaurants und der ungleich unsäglicheren Zing-Dong-Dauer-Musik-Beschallung, die Bar auf der Dachterrasse macht dies allemal wett.
Des Abends haben wir uns eine kleine Pizzeria hinter dem Bahnhof Piazza Principe gesucht, die wenigen verbliebenen Touristen haben wir hier weit hinter uns gelassen, die Speisekarte ist nicht zwei- oder gar mehrsprachig, es gibt auch keine bunten hübschen Bilder der Speisen für die ganz Doofen, kaum ein Gericht über 10 EURO, hier verkehren einheimische Arbeiter, Handwerker und Studenten, der Her Dottore und die Frau Giudice sind hier eher Mangelware, eher schon die Schaffner der Ferrovie dello Stato Italiane, die über Nacht in einem der zahlreichen wohlfeilen Hotels in der Gegend mit ihren kleinen Rollköfferchen Station machen müssen, arme Socken. Wir sitzen vor dem Lokal auf dem Trottoire, schmucklose Tische, einfachste Stühle, innendrin kaum anders, funktional-ungehübscht, Linoleumboden, Pressspanmöbel, statt Tischwäsche schnell auswechselbare Papiertischtücher, billige Plastikblumen, große Kühlschränke mit Tiefkühl-Torten, mäßigen Weißweinen und süßen Limos, dazu Blechtbesteck, Pressgläser, billiges Keramik-Geschirr, dünne Papierservietten , so ganz anders, als wir uns in Deutschland „typische Italiener“ vorstellen, und doch ungleich authentischer als jeder aufgepimpte Nobel-Italiener in Schwabing, jede betont künstliche coole Szene-Pizzeria in Kreuzberg und jede versiffte Fraß-Mitnahme-Station in Oberhausen. Die Speisekarte ist bunt gemischt, Pizzen, Nudeln (wobei eine „richtige“ Pizzeria eigentlich keine Nudeln anbietet, aber solcherlei Orthodoxie kann/will man sich hier nicht leisten), Salate, Suppen, Vorspeisen, ein paar Fisch- und Fleischgerichte, über die Dessert-Auswahl legt man besser den Mantel des Schweigens. Der rote Hauswein ist ein Rossese di Dolceacqua, rauh, fast schon grob, aber nach dem zweiten oder dritten Glas durchaus lecker. Dazu essen wir Bruschette, nicht aus einem gigantischen Tralala-Brot, sondern aus halbierten Ciabatta-Backlingen (wie profan), kurz aufgebacken, aber belegt mit ungeheuer geschmacksintensiven Tomatenwürfeln, hervorragendem geröstetem Paprika, leckeren Sardellen, duftendem Basilikum – so kann einfach gehen. Die Nudeln perfekt al dente (und mir persönlich daher zu hart) mit einem genueser Kräuterpesto, wie es besser kaum sein könnte. Die Caprese wieder aus Tomaten, die tatsächlich nach Tomaten schmecken, perfekter Burrata, nämlichem Basilikum, fruchtigem Olivenöl. Die Pizza schließlich dünn, durchgängig knusprig, Artischocken aus der Dose, sehr guter gekochter Parma-Schinken, Billig-Käse. Alle Italiener um uns herum essen Ähnliches, in diesem Spannungsfeld von hervorragenden Tomaten und perfekt al dente Nudeln einerseits, Backlingen und Billig-Käse andererseits. Da kann der Piefke und chronische Grantler kritteln und nörgeln wie er will, wenn das hier die Italiener klaglos und mit großem Appetit essen, dann ist das wohl typisch italienisch. Punktum.