Marginalie 6: Grausame Eltern

Ich sitze im Hotel beim Frühstück. Alles scheint wie immer. Der Laden brummt, die Abfütterungsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Unermüdlich schleppt das Servicepersonal frische Lebensmittel auf die Buffets, räumt Tische ab und deckt sie neu ein, schenkt Kaffee nach, brät Eier, Omeletts und Speck, ein kolossalisches Verköstigungs-Ballett. Am Nachbartisch sitzt eine junge Familie, Vater, Mutter, Tochter, die Eltern vielleicht 35, das Kind vielleicht 5. Das Mädchen hat dicke rosa Kopfhörer auf den Ohren, die an einen iPad angeschlossen sind, auf dem irgendein primitiv animierter Comic läuft. Die Eltern sitzen sich gegenüber, schieben sich wie abwesend Lebensmittel in die Mäuler, glotzen mit gesenktem Kopf in ihre Funken, wischen und tippen in einer Geschwindigkeit, die längst nicht mehr affenartig ist (das wäre ja wenigsten noch „natürlich“), sondern konditioniert-automatisiert-trainiert auf den Bildschirmen herum, zuweilen blickt einer auf, hält dem Partner kurz die Funke unter die Nase, dieser schaut drauf, als würde es ihn interessieren, und sogleich glotzen beide wieder allein in die digitalen Schlünde ihrer virtuellen Höllen. Auch das Kind starrt wie gebannt auf den iPad-Bildschirm, zappelt herum, jauchzt zuweilen laut auf, hält die Kopfhörer und scheint sie sich noch fester an der Schädel drücken zu wollen, zeigt auf den Bildschirm, als wolle sie den Comicfiguren Hinweise geben, nur als es anfängt, auf der Bank hin und herzulaufen, greift der Vater ein und setzt seinen Spross mit geübtem Griff wieder fest auf seine vier Buchstaben, ansonsten scheint ihn das Plag nicht zu interessieren. Die Mutter reißt – während sie zum ein in ihre Funke starrt und zum anderen Lebensmittel bar jeder Tischmanieren in sich hineinfrisst – zuweilen ein Bröckchen von einem Rosinenbrötchen ab, rollt es zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand gekonnt zu einem kompakten, unappetitlichen Ball, reicht es dem Kinde quer über den Tisch, dieses sperrt automatisch das Mäulchen auf, wie ein kleiner Vogel, die Mutter schiebt den kompakten, unappetitlichen Rosinenbrötchenball in ihr Kind, mit beachtenswerter Zielgenauigkeit, ohne dabei von ihrer Funke aufzuschauen, das Kind schnappt und beginnt das Kauen, ebenfalls ohne von seinem Bildschirm aufzuschauen.

Ich will ja nicht sagen, dass ich auch nur annähernd der perfekte Vater sei, aber vor 15 Jahren habe ich den Berater-Beruf mit 4 bis 5 Tagen pro Woche auf Reisen an den Nagel gehängt, um meine Söhne aufwachsen zu sehen, auch um in der Regel zwei Mahlzeiten am Tage mit der Familie gemeinsam einzunehmen, Frühstück und Abendessen, ohne Fernseher, geschweige denn Funken, Tablets, PCs oder Daddel-Dinger. Regelmäßige, institutionalisierte ein, zwei Stunden massive Kommunikationszeit pro Tag, wenigstens, von Banalitäten über Probleme und gemeinsame Lebensorganisation bis hin zu Kuriosi- und Absurditäten. Ich bin der festen Überzeugung, solche regelmäßige, institutionalisierte Kommunikation ist immens wichtig, für das Funktionieren von Familie, vor allem auch für die Entwicklung und die Sozialisierung von Kindern. Und das gemeinsame Mahl ist der ideale Rahmen solcher Kommunikation. Wer einem Kind diese Kommunikation vorenthält (s.o.), ich weiß nicht, ob das „nur“ ein schlechter Vater oder eine schlechte Mutter ist — oder aber ein Verbrecher, ein Verbrecher am Kinde.

Heute sind meine Jungs halbwegs erwachsen und selbstständig. Sie könnten mir jetzt einen Vogel zeigen von wegen gemeinsamem, U- und K-Elektronik-freiem Mahle. Stattdessen sind sie es heute, die auch von sich aus darauf bestehen. Oft bringen sie Freunde dazu mit – Gäste sind bei uns jederzeit willkommen –, junge Männer und Frauen aus „guten Häusern“, wie man so schön sagt, die diese Form des gemeinsamen Essens aus ihren Familien – trotz des „guten Hauses“ – oft kaum oder sogar gar nicht kennen … und begeistert sind und danach fragen, ob sie mal wiederkommen dürfen. Ganz so falsch scheint diese archaische Institution des gemeinsamen Mahles selbst für die Generation Y nicht zu sein, irgendwas muss also richtig daran sein …

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