Ich bin zu zeitig losgeflogen und bin viel zu früh am Ort meines Geschäftstermins, in der innersten Schweiz, dort, wo das spärliche Ackerland zügig in Almwiesen und die Alpenfestung diffundiert, hier und dort sieht man noch verwitternde Bunkeranlagen, und diejenigen, die nicht verwittern, sieht man nicht: kleines wehrhaftes Bergvolk. Wir erreichen die Stadt, keine hunderttausend Einwohner, landschaftlich reizvoll gelegen, Fluss, See, Wiesen, Berge, altes Schloss, mittelalterliche Bürgerhäuser, so reizvoll, dass es zum Kotzen ist, hätte Otto Dix gesagt, und der meinte nur das Allgäu, hier ist es nochmals ungleich schöner, propere Häuser, gepflegte Gärten, saubere Straßen, kein Graffiti, städtische Mülleimer in mehr als ausreichender Anzahl an jeder Ecke, kein Loch im Straßenbelag, keine halbseitig gesperrten Brücken wegen Renovierungsrückstand wie in Merkel-Deutschland, selbst die Wohnblöcke in der Peripherie haben noch einen gewissen Reiz, und als Frau kann man hier auch noch alleine und unverschleiert auf die Straße. Tu felix Helvetia … Der Fahrer der schwarzen Limousine, der mich am Flieger abgeholt hat, ist hoch gewachsen, rasierter Schädel, sehr gepflegt, diskret, zuvorkommend, und doch kräftig, Europäischer Sprachen mächtig, er trägt einen dunklen Anzug und eine große Uhr, nur an seinen Deichmann-Schuhen erkennt man seinen Stand. Ich bitte ihn, einmal unauffällig um das Gebäude des bevorstehenden Meetings – ein Werks-Loft aus dem 19. Jahrhundert in einem alten Industriegebiet am Rande der Stadt – zu fahren, weniger, damit ich mich orientieren kann, als vielmehr, dass ich die Atmosphäre, den Spirit dieses Firmensitzes erahnen kann, die Wahl und die Ausgestaltung des Standortes sagen meist sehr viel über den Geist und die Kultur einer Firma aus. „Und nun?“, fragt der Fahrer höflich, nachdem wir unsere Runde beendet haben. Wir haben noch über eine Stunde Zeit bis zum Meeting. „Wissen Sie, ob es hier in der Nähe ein Café oder ein Lokal gibt?“, frage ich. „Beim Reinfahren habe ich unten am Fluss bei der Kaserne einen Gasthof gesehen.“ „Fahren wir doch da hin, darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ Schweigend fährt er los und parkt alsbald neben besagtem Gasthof, ein langgestrecktes landestypisches zweistöckiges Gebäude aus dem vorletzten Jahrhunderts, mit verschiedenen Saal- und Küchenanbauten aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, die das Ensemble zu einem L formen, mit einem mehr rustikalen als hübschen oder romantischen Gastgarten raus zum Fluss zwischen den Schenkeln. Beiz heißt man solch ein Gasthaus bei den Schweizern. Es ist lange vor der Jahreszeit der geöffneten Gastgärten, innendrinnen ist es ebenfalls mehr rustikal als hübsch oder romantisch, trotz der hohen Sprossenfenster mit altertümlichen Gardinen ist es duster, ungeachtet des hellen Tages brennt notgedrungen die elektrische Beleuchtung, gelbliches Licht, irgendwo zwischen heimelig und schmuddelig, blanke Wirtshaustische und –stühle, abgewetzter Linoleumboden, die Wände aus irgendwann mal weiß getünchtem Grobputz, heute vom vielen Rauch und Essendämpfen eher beige, halbhoch mit zerkratztem Massivholz verkleidet, daran und am Schanktresen simpel gestaltete DIN A 3- und DIN A 2-Plakate, die Fußballspiele der Regionalmannschaft am Wochenende, Tanzveranstaltungen und Vereinsversammlungen ankündigen, große handbeschriebene Schiefertafeln verkünden die Tagesgerichte, Kutteln gibt es für 14,450, und Saure Mocke, die Schweizer Version des Sauerbratens, für 25,50, die Bedienung ist dick, mittelalt, knielanger schwarzer Rock, weißes Schürzchen, ungebügelte weiße Bluse, offene schwarze Kellner-Weste und wieselflink, man will es kaum glauben, keine vermaledeiten glucksenden und blinkenden Glücksspielautomaten, aber ein Tisch voller Tageszeitungen und zerfledderter Illustrierter, von der Zusammenstellung her eher für die niederen Stände als für den denkenden und besseren Teil des Volkes, auf den Tischen Gebäck, Gipferl und harte Eier zur Selbstbedienung, daneben Pfeffer, Salz und die in der Schweiz in solchen Lokalitäten offenbar unvermeidbare Streuwürze, es riecht nach Rauch und Kaffee und Bohnerwachs und dem schalen Bier vom Vortag, aus der Küche dringen wieder die ersten Speisegerüche von Suppe und Fett in dieses olfaktorische Ensemble.
Wir werden misstrauisch gemustert, als der Fahrer und ich in unseren dunklen Anzügen den Gastraum betreten. Ich setzte mich, der Fahrer will sich zwei Tische entfernt niederlassen. „Setzen Sie sich doch zu mir.“, sage ich, ich war eigentlich davon ausgegangen, die Stunde zu nutzen, um ein wenig mit ihm zu plaudern, über die Schweiz, sein Leben als Fahrer, seine Erlebnisse mit seinen Fahrgästen, das Leben als solches und Gott und die Welt. „Nein, nein,“ entgegnet er, „Sie haben doch gewiss zu tun, da will ich nicht stören.“ Spricht’s und lässt sich an dem entfernten Tisch nieder. Ich halte Widerspruch und Insistieren an dieser Stelle für unangebracht und bleibe allein. Das gibt mir wenigstens Gelegenheit, die Runde intensiv und ungestört zu studieren. Die Speisekarte ist nicht frei von einem gewissen, sehr trockenen Humor, es gibt z.B. einen „Galloper-Spiess“, das ist ein Grillspieß mit Fleisch vom Rind und vom Ross für 28,00, oder einen „Rekrutenteller“, wohl speziell für Zwangs-Gäste der benachbarten Kaserne, mit Schweinssteak, Kräuterbutter, Pommes Frites und Salat für 26.50, die müssen recht gut verdienen, die Schweizer Rekruten. An einigen Tischen sitzen Rentner, jeder für sich, vor einer Tasse Kaffee und lesen die aktuellen Tageszeitungen. Zuweilen steht einer auf, geht – schlurft mehr – zu einem anderen und fragt wohl, ob jener eine Zeitung bereits ausgelesen habe und ob er sie nun haben könne, jener reicht sie dann meist diesem schweigend, der murmelt wohl so etwas wie ein „Danke“ und schlurft zurück zu seinem Tisch. Beide bleiben für sich, allein. Am großen Runden Stammtisch vor dem mächtigen Schanktresen sitzen zwei Handwerker in Arbeitskleidung, einer schon um 10:00 Uhr vor einem Bier, der andere vor einem Kaffee. Die Männer reden verhalten, werfen zuweilen einen Blick zum Fahrer und zu mir, wie gesagt misstrauisch, wahrscheinlich reden sie auch über uns, weil wir so gar nicht hier rein passen. Andere Männer – wohl ebenfalls Werktätige bei der temporären Unterbrechung der Werktätigkeit – kommen herein, setzen sich mit kurzem Gruß an den Tisch, andere verlassen die Runde wieder mit ebenso kurzem Gruß, meist stellt die Bedienung ohne zu fragen und ohne Bestellung ein Getränk vor jeden Neuankömmling, sie scheinen regelmäßig hierher zu kommen und die Bedienung weiß, was sie jeweils trinken. Die Männer reden, manchmal wird es sogar lauter, wenn sie einen Dissenspunkt erlangt haben, doch schnell flacht die Lautstärke wieder ab, einer pellt sich ein hartes Ei und schiebt es mit zwei Bissen in seinen Mund, ein anderer taucht ein Gipferl in seinen Kaffee und lutscht es förmlich. Unter den Neuankömmlingen sind jetzt auch einige Frauen, manche setzen sich wie die Rentner alleine an einen Tisch und lesen Zeitung, eine – ich tippe auf Taxifahrerin – setzt sich zu den Männern und wird sichtlich aufgeregt willkommen geheißen. Ein altes Pärchen, gewiss über siebzig, drückt sich in die hinterste Ecke und bestellt schon kurz vor 11:00 Mittagessen, zwei Suppen und zwei Bratwürste mit Kartoffelstock, jaja, bei der senilen Bettflucht hat man Mittags schon früh wieder Hunger. Besagte Rekruten in Uniform kommen in Fähnleinstärke und machen Brotzeit, ein Studentenpärchen sitzt vor Laptop und Papieren am Tisch und arbeitet vielleicht an einer Seminararbeit, ein paar Lehrer oder Beamte in schlecht sitzenden Modemarkt-Anzügen und grellen, so ganz und gar nicht schweizerischen, dazu noch schlecht gebundenen Krawatten besetzen einen Tisch und fangen das Karteln an, bestellen dazu große Humpen frisch gezapften Bieres, …
Und so weiter und so fort. In dieser Beiz tobt das pralle Leben. Das ist kein Restaurant und keine Gaststätte, wo man reinkommt, eine dem jeweiligen Verzehr angemessene Zeit verweilt, 15 Minuten für einen Kaffee, 30 Minuten für zwei Bier, 60 Minuten für eine komplette Malzeit und dann wieder den Tisch frei macht und verschwindet, hier gibt es keine Doppelreservierungen von 18:00 bis 20:00 und von 20:00 bis Küchenschluss, hier kommt man rein, hockt sich hin, konsumiert irgendwas – selbst wenn es nur eine Kleinigkeit ist – und bleibt hocken, solange man mag, keine Bedienung schaut den Rentner mit seiner einen Tasse Kaffee schräg an, wenn er anfängt, die siebte zerfledderte Illustrierte durchzublättern, von der Gastro-Philosophie her ist das mehr ein Wiener Kaffeehaus als ein Restaurant, es ist offensichtlich so etwas wie das öffentlicher Wohnzimmer der Leute, die hier in der Gegend wohnen. Man sieht sich, man trifft sich, man kennt sich vielleicht sogar, man plaudert miteinander oder man wird in Ruhe gelassen, und doch bin ich mir sicher, die Bedienung würde fürsorglich daheim nachfragen oder sogar die Polizei benachrichtigen, wenn der Rentner vor seinem Kaffee und den Zeitschriften den dritten Tag hintereinander nicht erschiene, hier werden Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen gefeiert, die örtlichen Vereine treffen sich regelmäßig in den Nebenzimmern, im Keller wird gekegelt, die Unteroffiziere der benachbarten Kaserne haben hier ihren Stammtisch, und wehe, wenn sich einer der Rekruten dazu setzen wollte …
Solche bewirteten sozialen Treffpunkte – Kiezkneipen, Dorfgasthäuser, Kleinstadt-Hotels – gab es auch in Deutschland mal, früher, in grauer Vorzeit. Vereinzelt findet man sie noch, vorwiegend in kleinen Dörfern auf dem Lande, manchmal auch in Szene-Vierteln, so eine Art englischer Club des kleinen Mannes, wo man sich zwanglos trifft und auf Wunsch für kleines Geld bewirtet wird. Unsere gastronomischen Betriebe in Deutschland sind heutzutage leider weitgehend ganz anders gestrickt. Man geht rein, hat im Idealfalle noch reserviert, besetzt einen Tisch für ein oder zwei Stunden, speist und trinkt, macht Zeche und geht wieder, nächster Gast, selbes Spiel, noch mehr Zeche. Zwischenzeitlich erlebe ich sogar schon des Öfteren, dass Plätze an der Bar mehrfach am Abend vergeben sind und man sich nach zwei Drinks wieder trollen muss, weil der nächste Besserverdiener mit Alkoholproblemen danach reserviert hat. Die Gastwirtschaft als kollektiver sozialer Raum, das stirbt mehr und mehr aus und macht der Kunden-Durchfluss-Optimierung Platz. Daran ändern auch apologetische Sermone wie die des Gastro-Eleven Max Scharnigg nichts, der von einem Dinner als „Schauspiel in mehreren Akten und auf mehreren Bühnen“ spricht. Das ist alles Abfertigung, wenn z.T. auch auf hohem kulinarischen Niveau. Klar, wahrscheinlich würde ich das als Gastwirt auch so machen, wenn ich so 100 statt nur 30 Essen an einem Abend verkaufen könnte. Ich bin aber kein Gastwirt. Zuweilen will ich mich einfach in einer Kneipe in die Ecke hocken, mein Bier trinken, meine Ruhe haben, vielleicht ein Buch lesen oder eine Marginalie aufschreiben, zwischendurch ein Schnitzel – kulinarisch gewiss nicht exzellent, aber ordentlich-bodenständig bitte – essen, vielleicht mit dem Nachbarn am Tisch gegenüber plaudern, ein paar Runden Backgammon spielen, Leute – gerne auch hübsche Mädchen – anschauen, sinnieren, mit der Bedienung und dem Chef plaudern und meine Zeit vertrödeln. Müßiggang nannte man es früher, Entschleunigung nennt man es heute. Aber solche Etablissements sterben in Deutschland mehr und mehr aus, und wir haben’s letztendlich kaputt gemacht …
Ich bin später irgendwie traurig zurückgeflogen, trotz guter Verhandlungen, strahlenden Wetters und traumhaften Blicks auf den Alpenhauptkamm.