Marginalie 58: Der Herr bekommt noch’ne Latte

Es gibt Geschichten, die kann man nicht erfinden, die kann nur das Leben schreiben: eines schönen morgens, gediegenes Wellness- und Feinschmecker-Hotel auf dem Lande, sehr angenehm, aber alles andere als steif oder förmlich, eher schon familiär. Frühstückssaal in einem alten, großen Tonnengewölbe, das Buffet ist klein, aber frisch, hochwertig und sehr viel Selbstgemachtes, sogar frische Bäckersemmeln an einem Sonntagmorgen, da können sich die meisten Fünf-Sterne-Schuppen noch eine Scheibe abschneiden. Am Nachbartisch ein mittelaltes Paar, leger, aber wertig gekleidet, gute Umgangsformen, ich tippe auf mitteständisches Unternehmer-Ehepaar. Getränke, Eierspeisen, Pfannkuchen, Würstchen dörren hier nicht fertig ihrem langsamen Tode auf dem Buffet entgegen, hier wird am Tisch bestellt und alles frisch zubereitet: gut so. Die freundliche, ältere, eher bäuerliche Bedienung in schwarzem Rock, weißer Bluse, weißem Schürzchen geht von Tisch zu Tisch und fragt nach den Wünschen. Die Dame am Nachbartisch ordert Earl Grey, aber bitte nicht so lange gezogen, der Herr einen Latte Macchiato. Und dann passiert’s, die freundliche, ältere, eher bäuerliche Bedienung in schwarzem Rock, weißer Bluse, weißem Schürzchen ruft ihrer Kollegin, die gerade an der großen Kaffeemaschine zugange ist, quer durch den Raum und ziemlich laut zu: „Der Herr hier bekommt noch ne Latte!“ Caro prustet in ihren Kaffee, ich muss an mich halten, der gesamte Frühstücksraum schaut zuerst auf die rufende freundliche, ältere, eher bäuerliche Bedienung in schwarzem Rock, weißer Bluse, weißem Schürzchen, dann auf die Kollegin an der großen Kaffeemaschine und schließlich auf den armen Mann selber, der angesichts des kollektiven Glotzens und der Situation als solcher und sowieso und überhaupt am liebsten unter dem Tisch verschwände und erst nach Beendigung des Frühstücks bei vollkommen leerem Saal dort wieder hervorkommen wollte, derweil seine Gattin nur vielsagend und ziemlich cool schmunzelt, was das wohl wieder zu bedeuten hat. Dieses ganze Tableau hält vielleicht drei Sekunden, dann geht das Leben weiter und alles verflogen: wahrlich eine Marginalie.

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