Marginalie 56: Vom Alpha-Männchen im C&A-Westentaschen-Format

Ich gehöre ja zu der Fraktion Leute, die dann und wann mal essen gehen. Nicht nur in so Kaschemmen, zuweilen sind auch richtige Restaurants darunter, zuweilen auch ziemlich gute. Jetzt konnte ich feststellen, dass gleich drei meiner Lieblings-Restaurants – so im 14 bis 16 Gault Milau-Punkte-Bereich, manchmal auch mit einem Michelin-Stern, das sind so die gehobenen „gutbürgerlichen“ (hatte man früher gesagt, trifft es heute nicht mehr so ganz, da die gutbürgerliche deutsche Küche so nicht mehr existiert und höchstens noch ein historisches Relikt ist) Häuser, in denen ich mich wohlfühle: solide, anspruchsvolle Küche mit Zutaten in bester Qualität und gekonnter, unaufgeregter Küchenleistung, kein Teller-Ikebana, dazu perfekter, aber nicht steifer Service und nettes Ambiente – offensichtlich an dem Jochen-Schweizer-Zinnober teilnehmen und sich durch diesen Menschen mit für mich durch und durch fragwürdigem Geschäftsmodell und –gebaren vermarkten lassen, sei es, der (Gäste-) Not gehorchend, sei es aus eigenem Triebe. Vielleicht kurz ein Wort zu diesem Jochen Schweizer: 25 bis 40% vom Umsatz, teilweise sogar 50% soll er als Verkaufsprovision einbehalten, vermeldeten Michael Gassmann und  Gerhard Hegmann in der Welt vom 29.12.2015, dazu kommen nochmals rd. 25% No-Shows, also bezahlte, aber niemals eingelöste Gutscheine, die Schweizer dann zu 100% vereinnahmen kann. Außerdem erhält Schweizer das Geld im Voraus, hat es dann Wochen-, Monate-lang auf dem Konto und muss es erst an den eigentlichen Veranstalter zahlen, wenn der Gutschein tatsächlich bei ihm eingelöst wurde; positiver Cashflow-Effekt wird sowas ja wohl geheißen. Wenn man also einen Gutschein über 100 EURO für irgendwas kauft und verschenkt, so erhält der tatsächliche Veranstalter im besten Falle 75 EURO davon, im schlechtesten Falle nur 50 EURO, und jeder vierte Gutschein wird sowieso nicht eingelöst und Schweizer behält das ganze Geld. Das heißt unter’m Strich, wenn man eine durchschnittliche Verkaufsprovision von (25+50)/2 = 32,5% und 25% No-Shows unterstellt, dass bei 4 gekauften Gutscheinen á 100 EURO, also 400 EURO Umsatz 197,5 EURO bei Jochen Schweizer bleiben – allein für seine Vermittlungstätigkeit – und nur die restlichen 202,50 EURO bei den eigentlichen Veranstaltern ankommen, die dafür Fliegen, Klettern, Beherbergen, … oder eben Kochen. Die einen mögen so etwas geiles Geschäftsmodell nennen, die anderen vielleicht eher rechtlich zwar einwandfrei aber moralisch verkommen. Wie – oder zu welchem Behufe – man damit 73 Millionen EURO Bilanzverlust bei 69 Millionen Negativem Eigenkapital anhäufen kann (2015er Bilanz der Jochen Schweizer GmbH), ist mir ein Rätsel. Dennoch zähle ich hier nicht zu den Einen.

Einerlei, es geht darum, dass mir bekannte Restaurants an diesem Programm teilnehmen. Einerseits ist es ja sehr schön und gut, wenn auch Esskultur-ferne Menschen so einmal Kontakt mit der Küche jenseits von Muttern, McDonalds und Mannis Dorfkneipe bekommen und vielleicht sogar auf den Geschmack kommen, im wahrsten Sinne des Wortes, nichts einzuwenden dagegen, auch wenn die dazu verwendeten Geschäftspraktiken fragwürdig sein mögen, aber ich wiederhole mich. Andererseits ist es hoch interessant und zum Teil auch drollig, solche Esskultur-ferne Menschen dann in einem besseren Restaurant zu beobachten. 64,90 EURO kostet der Gutschein für ein Candlelight-Dinner für Zwei, in der goldfarbenen „Erlebnisbox“ zahlt man für denselben Gutschein dann 69,90 EURO, einzulösen in einem von über 100, meist ordentlichen bis sehr ordentlichen Restaurants in ganz Deutschland. Dort erhält man dann ein „romantisches 3-Gänge Candle Light Dinner für Zwei, auf Wunsch auch vegetarisches Essen, 1 Glas Prosecco oder ähnlicher Aperitif nach Hauswahl, alle weiteren Getränke verstehen sich exklusive!“. Machen wir obige Back-of-the-envelope-Rechnung nochmals: bei angenommenen 32,5% Vermittlungsprovision bleiben dem Gastronomen gerade mal 43,81 EURO bzw. 21,90 EURO pro Person für ein dreigängiges Menü, Kerzen und 1 Glas Prosecco oder ähnlicher Aperitif nach Hauswahl noch nicht mit eingerechnet. In der Regel kostet ein Hauptgericht in vielen der teilnehmenden Häuser schon mehr als 21,90 EURO. Entsprechend können die Jochen-Schweizer-Gäste – soweit ich das beobachtet habe – auch nicht aus der normalen Karte auswählen, sondern erhalten ein stark verkürztes Kärtlein mit ein paar Gerichten zur Auswahl; und platziert werden die 21,90 EURO-Gäste meist irgendwo verschämt am Rande, wo man sie unauffällig abarbeiten kann.

Und in vielen Fällen ist diese verschämte, unauffällige Platzierung dringen von Nöten. Generell habe ich vier Typen von Jochen Schweizer Gästen in Restaurants ausmachen können. Zum ersten sind da die unendlich Unsicheren. Tante Hilde mit Gatte, ihres Zeichens Kassiererin bei Aldi, er Lastwagenfahrer, beides ehrbare Berufe, aber ansonsten eher Bildungs- und Kultur-fern, Sportschau und DSDS sind die bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, ich will hier niemanden schlecht reden, ist halt so; und diese Tante Hilde hat nur von ihren Nichten und Neffen gemeinsam einen Jochen Schweizer Gutschein für ein romantisches 3-Gänge Candle Light Dinner für Zwei geschenkt bekommen. Beide haben sich rausgeputzt, sind furchtbar aufgeregt, haben ständig Angst, etwas falsch zu machen, sind irritiert, dass ein gepflegter Mensch im schwarzen Anzug höflich seine ganze Aufmerksamkeit ihnen widmet, verstehen das Küchenkauderwelsch der Menükarte nicht, sind nicht wirklich geübt im korrekten Umgang mit Messer und Gabel, und dass man Weingläser am Stil fasst, hat ihnen auch noch niemand gesagt. Tante Hilde wird sich bei einem Viertel Moselwein über den Abend retten, ihr Gatte wird zwei oder drei Bier – die sind ja in so kleinen Gläsern hier, und das bei den Preisen! – brauchen. Das Essen wird ihnen nicht sonderlich schmecken, alldieweil das so komische Sachen sind, und das Fleisch ist innen blutig, der Fisch quasi roh, von den winzigen Portionen wird man her hungrig als satt, und Schnitzel mit Pommes gibt’s auch keine. Hilde und Gatte sind glücklich, als das Dessert aufgegessen ist und sie wieder Heim können zu Sportschau und DSDS in der Jogginghose auf dem Sofa. Klingt jetzt zwar böse geschrieben von mir, ist aber nicht so gemeint. Tante Hilde und Gatte sind einfach inkompatibel mit gehobener Gastronomie, da macht am besten eine großen Bogen umeinander; das ist kein Makel, sowas gibt’s halt, Sportstadien und ich sind ja auch inkompatibel.

Der zweite Jochen-Schweizer-Gast-Typus in besseren Restaurants sind die jungen Verliebten, das sind vielleicht die schönsten Gäste. Er hat ihr zu ihrem ersten Jahrestag ihres Beisammenseins einen Gutschein geschenkt (oder anders rum), und jetzt gehen sie gemeinsam ganz toll essen. Das Lokal ist Nebensache, der Kellner ist Nebensache, der Tischschmuck ist Nebensache, das Essen ist Nebensache … es geht nur um die beiden Verliebten, die turteln, scherzen, lachen, küssen, sich heimlich unter dem Tisch berühren. Nochmal schöner sind die alten Verliebten, die so vielleicht ihre Silberne Hochzeit feiern. Macht weiter so, meinen Segen habt ihr, Essen ist wichtig, nicht nur für mich, aber es gibt Wichtigeres, also auf …

Der dritte Typus schließlich sind die Neugierigen, die Offenen, sie Probierenden. Ich mag diese Leute sehr. Soziodemographisch kann man sie nicht wirklich verorten, das sind Schüler oder Studenten, die für den Preis einfach mal was Neues ausprobieren wollen, das sind Rentner, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und sich jetzt mal was leisten, das sind der Taxifahrer mit Gattin, der jahrelang Gäste in diesen Schuppen gefahren hat und sich jetzt angesichts des Jochen-Schweizer-Angebots dazu entschlossen hat, zu überschaubaren Kosten mal selber dort reinzuschauen, das sind die Mädels aus dem Friseursalon, die ihre Trinkgeld-Kasse gemeinsam schlachten, das sind … you name it. Es macht Spaß, diesen Leuten zuzusehen. Klar, sie sind etwas unsicher, aber im Gegensatz zu den Beschenkten sind sie ja freiwillig hier. Sie schauen mit offenen Augen, lassen sich die Karte erklären, wo sie es nicht verstehen, ringen sich nach einem vorsichtigen Blick in die Weinkarte vielleicht sogar zu einem wohlfeilen Fläschchen Wein durch, schauen angestrengt auf die Nachbartische, wie sich die anderen benehmen, welches Besteckt und welches Glas wie genutzt wird, tuscheln dabei unaufhörlich, tauschen ihre Beobachtungen und Eindrücke aus, riechen am Teller, wenn die Gerichte serviert werden, studieren sie intensiv, bevor sie zum Besteck greifen, reden über die Speisen, was gut, was ihrer Meinung nicht gut ist, sind bemüht, beim Essen alles „richtig“ zu machen, ohne sich vor Verkrampfung den Spaß und die Freude zu verderben, … Da kann ich nur sagen „Herzlich willkommen, ich hoffe, es gefällt Euch hier, und Ihr kommt in Zukunft öfter!“

Tja, und der vierte Typus sitzt heute Abend am Tisch schräg gegenüber von uns, und ich bin kurz davor, dem Arsch in die Fresse zu schlagen. 40 Jahre schätze ich, Blazer von C&A, das Schildchen mit der Marke noch am Arm angenäht, schlecht gebügeltes Synthetik-Hemd, Deichmann-Plastik-Schuhe, überdimensionierte Uhr, wahrscheinlich aus dem Kaugummiautomaten, seine vielleicht 30-jährige Begleiterin hat sich in ein Kleines Schwarzes mit Rüschen von H&M gezwängt und sieht ein wenig aus wie eine Presswurst, er hat zwei Funken vor sich auf dem Tisch, sie nur eine, aber in einer mit Swarovski-Steinen  verzierten Hülle. Wenn man nicht zu negativ über die beiden sprechen will, könnte man vielleicht sagen, billig aufgetakelte Voll-Prolls. Die Schaumkrone des Weißbiers sei zusammengefallen, und das sei er so ja gar nicht gewöhnt, und schon gar nicht in solch einem Lokal, mault der Kerl den Kellner an, als dieser das Bier bringt, an dem sich Kerl den ganzen Abend in einem Weinlokal gütlich tun wird. Das sei doch wohl nicht die Vorspeise zu dem romantisches 3-Gänge Candle Light Dinner für Zwei mault der Kerl weiter, als der Kellner eine kleine Fischterrine mit Auberginenkaviar serviert; nein, entgegnet der Keller höflich, das sei ein Amuse Gueule, ein Gruß aus der Küche. Er wisse selber, was ein Amuse Gueule sei, mault der Kerl zurück. Der Kellner lächelt und geht, wahrscheinlich fällt die Indignation in seinem Lächeln nur mir auf, dem Kerl ganz sicher nicht. Seine Begleiterin schmiert sich ein Bütterchen mit dem Fleischmesser und legt die Brotschnitte nicht auf den Brotteller, sondern auf den Rand des Platztellers. Der Kerl spricht angeregt mit vollem Maule mit seiner Schnitte, dann und wann meine ich, auch einen Krümel oder Speisefetzen aus der Fresse fliegen zu sehen, hoffentlich der Tusse mitten in den Ausschnitt, dazu fuchtelt er mit Messer und Gabel umher, als gelte es, Luft-Dämonen vom Teller zu vertreiben, sowieso, eingedeckt sind Vorspeisen-, Fleisch- und Dessertbesteckt, das Amuse Gueuele kam mit einem kleinen Gäbelchen auf dem Teller, dieser Mann von Welt griff allerdings zielgerichtet gleich zum großen Fleischbesteck, um die kleine Fischterrine niederzumachen und um sich Butterbrote dazu zu schmieren, obwohl Brotteller und –messer direkt vor seiner Nase auf dem Tisch stehen. Das Lamm sei noch roh, mault er später den Kellner an, ich kann das Fleisch gut sehen, Lammlachs unter einer Kräuter-Brot-Kruste, Caro hat das gleiche, perfekt auf den Punkt gebratenes rosa Fleisch, aber nein, der Kerl sagt, dass sei so noch roh. Der Kellner versucht höflich einzuwenden, dass Lamm hier immer so serviert werde, nichts da, roh sagt der Kerl. Seufzend nimmt der Kellner den Teller wieder mit und trägt ihn zurück in die Küche. Ob ihr Fisch denn ok sei, fragt der Kerl seine Presswurst vis-à-vis, ja, ja ganz ok, antwortet sie, nein, der sei doch auch noch roh und sicherlich noch kalt, ob er ihn auch zurückgehen lassen solle, das sowas sich Spitzenlokal nennen dürfe, sei ja wohl ungeheuerlich, dem Weib wird’s langsam ungemütlich, ihr Fisch sei wirklich in Ordnung und er solle doch jetzt mal bitte runterkommen und sich beruhigen, angesichts dieser weiblichen Maßregelung läuft das verhinderte Alpha-Männchen im C&A-Westentaschen-Format erst Recht zur Höchstform auf und nörgelt an allem und jedem rum. Unvermittelt wendet sich Caro zu dem Zeternden und sagt laut, aber in ihrer liebenswürdigsten und höflichsten Stimmlage: „Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie so freundlich sein und Ihr dämliches Schandmaul halten und aufhören über Dinge zu reden, von denen Sie absolut keine Ahnung haben. Ist ja widerlich, was Sie hier rausrotzen!“ Mir stockt der Atem, ich sehe vor meinem geistigen Auge schon, wie ich mich für Caro mit dem Kerl prügeln muss, und der Kerl sieht nicht schwächlich aus. Aber nichts dergleichen, der Kerl mault noch irgendwas von unverschämt und Konsequenzen und nicht gefallen lassen müssen, schnappt sich sodann seine Kippen, Funken und seine Schnitte und verschwindet zum Rauchen nach draußen, die Frau muss ihren Fisch halb aufgegessen stehen lassen. Der Kellner will das nun durch- und totgebratene Lamm zurück bringen, findet den Tisch verwaist und stellt das Lamm unter die Warmhalte-Lampe, den halb aufgegessenen Fisch nimmt er ebenso mit und stellt ihn daneben. Irgendwann kommen der Kerl und seine Begleitung zurück, wortlos stellt der arme Kellner ihre Gerichte aus der Warmhalte vor sie, triumphierend – aber mit leiser Stimme, Caros Anraunzer wirkt Wunder – sagt er, so müsse Fleisch gebraten sein, gräulich-tot, außerdem wolle er noch mehr Polenta und Sauce haben, der Kellner geht wortlos weg, überhört den Wunsch einfach und ignoriert den Kerl, ich kann ihn so gut verstehen. Nach dem Dessert mault der Kerl nochmal, das sei doch kein Vanilleeis gewesen, sondern Nuss, nein, nein, fällt seine Schnitte ein, Orangeneis sei es gewesen, da hätte die Küche doch gewiss was beim Anrichten verwechselt. Man habe nur eine Sorte Eis im Haus, und das sei das am Morgen frisch zubereitete Vanilleeis, eine Verwechslung sei da nicht möglich, und er habe selber schon von dem Eis gegessen, und das sei sehr leckeres Vanilleeis, entgegnet der Kellner kurz und bestimmt, räumt die Teller ab und geht. Ohne zu fragen, ob die beiden vielleicht noch einen Kaffee oder Digestiv haben wollen legt der Kellner wortlos die Rechnung auf den Tisch und geht erneut. Der Kerl zupft seine Börse aus der Gesäßtasche, legt einen Zehner für ein Weißbier und ein Viertel Wein – die einzige Extra-Zeche, die die beiden zusätzlich zu ihrem Gutschein gemacht haben – auf den Teller und beginnt, seine Sachen zusammenzusammeln. Rasch kommt der Kellner, legt wortlos das Wechselgeld auf den Tisch und verschwindet grußlos. Der Kerl wirft uns, eigentlich Caro noch einen bösen Blick zu, seine Schnitte drängt rasch und sichtlich peinlich berührt zur Tür, er versucht noch einen macho-mäßigen Abgang mit ausladenden Schritten und breit gemachten Schultern, sieht dabei aber nur lächerlich aus. Ich frage mich, ob die beiden in dieser Nacht wohl noch Sex haben werden, ob die Tusse beeindruckt ist von dem Gehabe ihres Alpha-Männchen im C&A-Westentaschen-Format oder eher angewidert. Ich tippe auf letzteres und wünsche dem Kerl von Herzen endlose lustfreie Stunden. Strafe muss sein.

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