Marginalie 5: Von Hungersnöten, Erdbeermarmelade und dem Hamburger Fischmarkt

Einer meiner Lieblings-Comic-Strips stammt von Dik Browne: das erste Bild zeigt eine endlose weiße Winterlandschaft, Schnee, soweit das Auge reicht, zuweilen lugen ein paar Tannenspitzen aus den Schneemassen, und ein gemauerter Schornstein. Aus dem Schornstein kommt eine Sprechblase: „Diese Hungersnot! Diese Hungersnot! Ich halte das nicht mehr aus!“ Zweites Bild: der gemütliche Wohnraum unter dem erwähnten Schornstein, dort steht ein offensichtlich der Verzweiflung naher Wikinger, Hägar der Schreckliche, und sein Eheweib Helga belehrt ihn mit in die Hüften gestemmten, wuchtigen Armen: „Nein Hägar, ich glaube nicht, dass man von einer Hungersnot spricht, wenn Ende März die Erdbeermarmelade zur Neige geht!“

Was will ich damit sagen? Es muss in den Siebziger Jahren des letzten Jahrtausends gewesen sein (also keine 50 Jahre her), da fuhren wir mit der Familie – großes Erlebnis! – Sonntagmorgens gegen 02:00 Uhr in Nordhessen los, um vor 06:00 auf dem „legendären“ Hamburger Fischmarkt zu sein. To make a long story short: es kostete mich all mein kindliches Schöntu- und Bettelvermögen, meine Eltern dazu zu bewegen, mir eine Ananas für 5 DM (sagenhafte 5 DM für eine Frucht, dafür bekam man damals vier Schnitzel, und von denen wurde eine Familie satt!) zu kaufen. Ich trug diese Ananas wie eine Reliquie zurück nach Nordhessen, kein Gedanke daran, dieses Beutestück, diesen veganen Beweis der Weltläufigkeit meiner Familie etwa zu essen; zwei Tage hintereinander nahm ich nämliche Frucht mit in die Schule und sie wurde bestaunt, angefasst, berochen wie ein außerirdisches Wesen, wohl keiner meiner Mitschüler – auch nicht die Lehrer – hatten vorher eine Ananas außerhalb einer Dose (für Toast Hawaii!) in freier Wildbahn gesehen. Obwohl es damals in unserem 3.000-Einwohner Städtchen 5 Tante-Emma-Läden (Supermärkte gab es noch nicht), 4 Metzger, 5 Bäcker, 2 Drogerien und 3 Gemüseläden gab (alle Geschäfte waren natürlich Inhaber-geführt, alle hatten ihr redliches Auskommen und waren angesehene Kaufleute und Bürger), war die Versorgungslage eine gänzlich andere: Orangen gab es nur um Weihnachten herum, Bananen waren selten, Äpfel, Möhren und Kartoffeln von Januar bis Mai verschrumpelt (weil heimisch, weder im Kühlhaus gelagert noch eingeflogen), irgendwann gab es den ersten vertrockneten Schwetzinger Spargel für ein Heidengeld (Mutter kaufte neugierig welchen, schälte ihn aber kaum – bei dem Preis kann man doch nicht noch was wegschneiden! – und so war ich Jahrzehnte lang traumatisiert, was Spargel anbelangt), Zuchtheidelbeeren und so’nen Dreck gab es sowieso nicht zu kaufen, wer Heidelbeeren oder Pilze haben wollte ging in den Wald und pflückte sich welche (gab es reichlich umsonst in der Natur, für sowas brauchte man doch nicht zu zahlen), außerdem hatten die meisten Familien noch einen Garten, in dem Kräuter, Gemüse, Kartoffeln, Blumen und Obst für den Eigenbedarf gezogen wurden (so auch wir, eine meiner Aufgaben war das Ausgraben der Schwarzwurzeln, eine absolute Strafarbeit).

Von den oben aufgezählten Geschäften gibt es heute noch einen Metzger und einen Bäcker, alle anderen haben aufgegeben. Ihre Stelle hat ein anonymer, marktbeherrschender Supermarkt übernommen. Hier gibt es jetzt ganzjährig Ananas und unverschrumpelte Äpfel und Kartoffeln (trotzdem ist die Qualität der Supermarkt-Kartoffeln meist lausig). Meine Kinder, die junge Generation generell – zumindest die sozial gut und besser gestellten –  kennen überhaupt keine andere Angebotslage mehr, als dass fast immer fast alles überall zu haben ist. Und dann kommt es eben zu solchen Hägar-der-Schreckliche-Szenen. Im Kühlregal ist nur Bacon, aber kein Englischer Frühstücksspeck mehr zu haben: Hungersnot! Es gibt nur noch 24 Monate alten Parmesan, keinen 36 Monate alten: Hungersnot! Weit und breit gibt es kein Tannenzäpfle-Bier: Hungersnot! Die extra dicke Peperoni-Salsiccia Tiefkühlpizza mit extra Käserand ist alle: Hungersnot! Usw. Viele von uns wissen, merken gar nicht mehr, wie verdammt gut es uns materiell und von der Versorgungslage her geht, sofern man es sich leisten kann. Es gibt nicht nur alles zu kaufen, es gibt weit mehr, als man jemals kaufen und essen könnte. Und doch schreien die Leute immer wieder wie Hägar der Schreckliche: „Diese Hungersnot! Diese Hungersnot! Ich halte das nicht mehr aus!“

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