In China ist ein Sack Reis umgefallen. Und in Bad Karlshafen macht der einzige Supermarkt zu. Who cares? Bad Karlshafen ist meine Heimatstadt, ein kleines Städtchen im Länderdreieck Hessen – Niedersachsen – Nordrhein-Westfalen, 2.500 Einwohner mit rückläufiger Tendenz, vom Landgrafen Carl zu Hessen-Cassel als barocke Planstadt gegründet, mit evangelischen Hugenotten besiedelt, früher mal durch Kleinindustrie, Handel und Tourismus wohlhabend, heute eine der am höchsten verschuldeten Gemeinden Hessens, heruntergekommenes Stadtbild, verrottende barocke und sonstige Bausubstanz, viel Leerstand, geschlossene Einzelhandelsgeschäfte, immer weniger Gewerbebetriebe, Touristen, Arbeitsplätze, die Jungen gehen weg, mein ehemaliger Sportlehrer gibt dort für die CDU den Bürgermeister, Häuser sind für den berühmten Apfel und das dazugehörige Ei zu haben. Früher einmal – in den 70er Jahren, ich erwähnte es bereits an anderer Stelle – gab es hier 5 Gemischt- oder Kolonialwaren-Läden (Supermärkte kannte man noch nicht), 4 Metzger, 5 Bäcker (die allesamt selbst buken, Backmischungen, Backlinge und Filial-Verkaufsstellen kannte man ebenfalls noch nicht), 2 Drogerien, 3 Gemüseläden, 3 Buchhandlungen, 3 Schreibwarenläden, 4 Schuh- und 3 Bekleidungsgeschäfte, 2 Elektrohändler, 2 Haushaltswarenläden usw. Alle Geschäfte waren natürlich Inhaber-geführt, alle hatten ihr redliches Auskommen und waren angesehene Kaufleute und Bürger. Heute halten sich in der Stadt noch mühsam 2 Fleischer, 1 Bäckerei-Verkaufsstelle, 1 Klamotten-Laden, 1 Zeitschriftenhandel und 1 Elektrohandel-Filiale. Die komplette sonstige Nahversorgung der Gemeinde wird über einen REWE, einen kik und einen Aldi abgewickelt, alle drei nebeneinander auf dem Gelände der alten Weberei gelegen. Nun hat wohl ein schlauer Controller bei REWE berechnet, dass die Ergebnisbeiträge der Filiale in Bad Karlshafen unter den Zielvorgaben des Konzerns liegen und daher wird die Filiale eiskalt geschlossen; ohne den Laufpublikum-Magneten REWE scheinen kik und Aldi auch keine Lust mehr auf Karlshafen zu haben und wollen wohl sich ebenfalls zurückziehen. Das heißt im Klartext, dass in Zukunft 2.500 Menschen keine ausreichende Grundversorgung an Lebensmitteln mehr in Fuß- oder Fahrrad-läufiger Entfernung haben und somit auf den (lausigen) öffentlichen Nahverkehr oder das Auto angewiesen sind. Für die Jüngeren ist das in der Regel kein Problem, aber was macht das berühmte alte Mütterchen (oder – in meinem Fall – das Väterchen), das keine weiteren Strecken mehr fahren kann oder gar kein Auto besitzt?
Das ist kein Karlshafen-spezifisches Problem, das ist ein generelles Problem auf dem Lande in der gesamten Republik, und das wird in Zukunft noch viel schlimmer werden. Fahrende Kaufmannsläden sind ein wieder aufstrebender Wirtschaftszweig, gerade in MckPom scheinen die ganze Landstriche zu versorgen; aber das geht bei Dörfern mit ein paar hundert Seelen, aber reicht kaum für 2.500 Menschen. Internet-Bestellungen sind für die jetzige alte Generation meist keine Option, allein aus Gründen mangelnder Computerkenntnis; ob die Versand-Logistik einmal so gut und wohlfeil werden wird, dass ich mir als alter Mann meinen frischen Salatkopf des Morgens über’s Internet bestelle und zu einem bezahlbaren Preis in einer guten und frischen Qualität vor dem Mittagessen auf der Türschwelle finde, das wage ich einfach mal zu bezweifeln. Will heißen: neue Nahversorgungs-Konzepte braucht das Land. Das …nah und gut-Konzept von Edeka geht dabei zweifelsohne in die richtige Richtung, maximal überschaubare 600 qm Verkaufsfläche (aber auch viel kleiner), bis zu 8.000 Artikel und ggf. regionale Spezialsortimente, betrieben von selbstständigen Kaufleuten. Damit kann man auch eine bestehende Dorfbäckerei oder –metzgerei noch zu einem Nahversorgungszentrum aufpimpen.
Solche Konzepte brauchen wir in Zukunft noch viel mehr. Ich glaube nicht an die flächendecke „virtuelle“ Versorgung über Internet und Monster-Logistik. Und ich glaube, dass wir alle auch in Zukunft reale Orte brauchen, wo wir den Salat, den wir kaufen, tatsächlich vorher anschauen können, aber auch, wo wir uns treffen, Schwätzchen halten, soziale Kontakte pflegen. Eine kleinteilige stationäre Nahversorgung wird immer wichtiger werden. Kleine Kaufmannsläden, wie früher, mit einem schwer arbeitenden, redlichen, angesehenen, gerne auch irgendwann wohlhabenden Kaufmanns-Ehepaar und vielleicht ein paar Angestellten, aber heute vielleicht im Franchise, quer über’s Land in jedem Dorf und Städtchen verstreut, unterstützt im Hintergrund von einer zentralen Einkaufsgenossenschaft (die Volumina und Marktmacht zusammen bringt, auch wenn in Kleinkleckersdorf nur 3 Stück von einem Produkt pro Monat verkauft werden), einem klugen Logistiknetz, das täglich frische Ware nach Kleinkleckersdorf bringt und auch einem hilfreichen Back-Office, das zentral Buchhaltung, Jahresabschlüsse, Vertragswesen, aber auch beratende Hilfe und Unterstützung in Problemsituationen für den Laden in Kleinkleckersdorf übernimmt. Ich würde jeden dieser Läden zweigeteilt aufbauen, auf einer Seite das Geschäft mit Regalen, Kühlregalen, Paletten, in und auf denen die Waren feilgeboten werden, auf der anderen Seite ein(e) kleine(s) Café/Dorfkneipe/Restaurant mit ein paar Tischen und einer Theke, alles so gebaut, dass zu ruhigeren Zeiten (und „ruhigere Zeiten“ gibt es viel, auf dem Lande) beide Ladenteile – Geschäft und Kneipe – von einer Person bedient werden können (das Geschäft vielleicht noch mit ein paar Kameras Diebstahl-sicherer gemacht, auch das muss wohl leider sein). Das Warenangebot ist bewusst reduziert gehalten, es gibt nicht 50 verschiedene Tütensuppen, sondern nur 5, und Gänseleberpastete schon gar nicht, vielleicht auf Bestellung. Der Kneipen-Teil soll kommunikatives Zentrum der Dorfgemeinschaft werden, hier trifft man sich zum Schwatz und Bier, zum Kaffee und zum Schafskopfen; ob das gastronomische Angebot Semmeln und Getränke, ein paar erwärmte Würstel oder ein richtiges Speisenangebot aus einer richtigen Küche umfasst, hängt von vielen Faktoren wie Grundinvestment, Ausbildung, Hygienevorschriften, tatsächlicher Nachfrage usw. ab. Zusätzlich zu diesem Basiskonzept fallen mir noch viele weitere Dinge ein: örtliche Bauern könnten regionale Ware – Eier, Obst, Kartoffeln, Marmelade, Gemüse – in Kommission in dem Laden feilbieten, Morgens kommt der Bauer, bringt frische Eier und Tomaten, rechnet den Verkauf des Vortages mit dem Ladenbetreiber ab; der gute Metzger und der gute Bäcker aus der Nachbarstadt bringen Morgens täglich frische Ware in der Menge, die Kleinkleckersdorf in der Regel braucht; im Laden werden Wäsche zum Waschen, Reinigen und Bügeln, Schuhe zum Reparieren, Apothekenrezepte, … you name it …, angenommen, der Ladenbetreiber fährt einmal täglich in die nächste Stadt, bringt und holt alles zu der / von der Reinigung, Wäscherei, Schusterei, Apotheke und trägt es zurück zu seinen Kunden nach Kleinkleckersdorf; eine Post-, DHL- und eventuell Bank-Filiale könnten in dem Geschäft untergebracht sein; vielleicht sogar ein allgemein- und ein zahnärztlicher Behandlungsraum, und einmal pro Woche kommen die Herren (oder Frauen) Doctores nach Kleinkleckersdorf und behandeln ihre Patienten vor Ort auf dem Dorfe; telephonische Bestellungen älterer Mitbürger können nach der Schule von wackeren Dorfjugendlichen gegen 5 € die Lieferung mit dem Rad ins Haus gebracht werden (habe ich früher auch gemacht, allerdings für 2 DM); schließlich könnte sogar ein Festsaal zum mieten an das Geschäft angegliedert sein, mit Tischen, Stühlen, Geschirr, Tanzboden, Tonanlage, Bühne, vielleicht Kleinkino, und hier könnten sich große Teile des dörflichen Lebens abspielen, Hochzeiten, Geburtstage, auch Leichenschmäuse, Jugendfeten, Kleinkunst, Musikvereine, Tanzvergnügen, … you name it again, das Catering könnte – so eine Küche vorhanden ist – von den Betreibern des Geschäfts übernommen werden, üblicher auf dem Lande dürfte es sein, wenn die Gastgeber selber ein Buffet aufbauen, vielleicht bekommt man für die Organisation von Kultur auf dem Lande sogar noch Zuschüsse. Rund herum um solch einen Nukleus „kleiner Kaufmannsladen auf dem Lande“ mit passender Struktur, bedürfnisorientiertem Angebot und intelligentem Support-Backbone lassen sich dutzende weitere Angebote aufbauen, die alles in allem das Leben und Über-Leben auf dem Dorfe in Zukunft nicht nur sicherstellen, sondern dazu auch noch angenehmer und attraktiver machen; und jeder dieser Kaufmannsläden gäbe einem Paar eine harte, aber sichere Zukunft in einem Umfeld, das Spaß, Eigenverantwortung, Gestaltungsfreiräume und gewiss viel Dankbarkeit bietet und die Chance, irgendwann mal – nach harter gemeinsamer Arbeit – wohlhabend und hoch angesehen zu sein. Wenn ich Bürgermeister verödender Dörfer wäre, ich würde eine kommunale Immobilie (stehen eh‘ leer, die Dinger, und verrotten) kostenlos zur Verfügung stellen, um solche einen Kaufmannsladen in meinem Dorf anzusiedeln, und bei der Gewerbesteuer würde ich nochmals großzügig sein. Und wenn ich Metro oder REWE oder V-Markt wäre, ich würde nicht mehr nur über noch größere, noch perfektere, noch besser organisierte, noch mehr einfältige Vielfalt bietende Riesenmärkte in Ballungsgebieten und Verkehrsknotenpunkten nachdenken, ich würde mich dem sicherlich lukrativen „Markt verödende Dörfer“ zuwenden und hier mit den beschriebenen intelligenten Konzepten kleinteilig, aber großflächig und vielfach Kaufkraft vor Ort abschöpfen, und ich bin mir sicher, auch und gerade da kann man in Zukunft sehr viel Geld verdienen.