Lauschiger Gastgarten am Fluss in Nordhessen, rustikales Landgasthaus mit grausamem Convenience-Futter für Fahrrad-Touristen, die Bedienungen sind Schülerinnen oder Studentinnen, jedenfalls keine gelernten Service-Kräfte, aber flott und sehr freundlich, ohne jeden Tadel. Am Nachbartisch sitzen zwei alte Damen, geschätzt 80+, gut gekleidet, sehr runzelig, schlohweißes, dünnes, onduliertes Haar, feines Benehmen. Die eine trinkt doppelte Brandy, serviert in traditionellen, bauchigen, großen Cognac-Schwenkern, vielleicht zu einem Zehntel mit 4 cl Brandy gefüllt; die andere trinkt doppelte Obstler, ebenfalls traditionell serviert in bis an den Rand gefüllten Schnaps-Stamperln. Während die eine ihren Schwenker souverän zum Munde führt, zittert die andere mit ihrem übervollen Stamperl und verschüttet beim ersten Schluck auf dem Weg zum Munde die Hälfte. Das geht zwei Stamperl lang so. Beim dritten Obstler serviert die Bedienung den Schnaps ebenfalls in einem Cognac-Schwenker und entschuldigt sich, die Stamperl seien gerade aus. Den moderat mit Obstler gefüllten Cognac-Schwenker bekommt die alte Dame dann auch ohne Verschütten sicher zum Mund. Überraschenderweise gibt es an den umliegenden Tischen weiterhin ohne Probleme Schnaps in Stamperln, die ja offiziell gerade aus sind. Es geht um folgendes: die Kellnerin hatte bemerkt, dass es der alten Dame peinlich war, ihren Schnaps wegen ihres altersbedingten Zitterns zu verschütten, also servierte sie den nächsten Obstler in einem verschütt-sicheren, großen Glas, begleitet von einer zeihlichen Not-Lüge. Damit hatte sie der alten Dame weitere Peinlichkeiten erspart (und auch die unnötige Schnaps-Verschwendung), man könnte auch sagen, sie hat ihr ihre Würde gelassen. Und das Alles einfach so, ohne Service-Ausbildung (wahrscheinlich lernt man so etwas ohnehin nicht dabei), einfach nur durch Aufmerksamkeit für die Gäste, Menschenkenntnis und Takt. Bitte nachmachen, es gibt tagtäglich tausende solcher Situationen …