Es ist neun Uhr abends, recht spät für hiesige Verhältnisse. Der Stammtisch mit kartelnden Einheimischen bricht gerade auf, die müssen früh raus, um Fünf oder Sechs wollen wahrscheinlich die Kühe gemolken werden, fünf bis acht Halbe und ein paar Schnapserl zahlt jeder bei der Bedienung, bevor er sich aufmacht, Weibspersonen sind keine darunter, eine reine Männerrunde. Außer mir sind noch zwei oder drei Tische mit Reisenden besetzt, der Rest sind Leute von hier, die eine einfache Mahlzeit essen und/oder ihr Feierabendbier trinken. Ich habe eine Montafoner Käse-Rahm-Suppe (sehr gewöhnungsbedürftig), einen/eine/ein (?) Schabo Ganz (ein dicker Kartoffeleintopf mit Mehlschwitze, Speck und abgeschmälzten Zwiebeln darüber) (ebenfalls gewöhnungsbedürftig), einen herrlich zarten Zicklein-Braten (hier Gitzibraten geheißen) mit Kartoffeln und zum Abschluss einen/eine/ein (?) Pflutta (ein in guter Butter körnig angerösteter Mais- und Weizengrieß-Brei mit einem Dörrbirnen-Kompott, sehr interessant, aber ungeheuer mächtig für einen Nachtisch) gegessen, viel zu viel bestellt, von jeder Portion nicht einmal die Hälfte geschafft; einerseits schäme ich mich ob der Lebensmittelverschwendung und ob des Affronts für die Küche, andererseits bin ich ja hier, um authentische Küche kennenzulernen, und meine Magenkapazität ist nun mal begrenzt. Ob es mir nicht geschmeckt habe, frag der Wirt, als er den/die/das halb aufgegessenen Pflutta abräumt. „Doch, doch“, entgegne ich, „nur viel zu viel und viel zu mächtig.“ „Wir kochen halt noch richtig, die Leut‘ wollen satt werden, so, wie sie’s kennen, keine Burger und Tofu und Dreck.“ Mir wird warm um’s Herz. Das Essen sei hervorragend gewesen, doch etwas schwer, ob er nicht einen Schnaps hätte, frage ich den Wirt. „Wir brennen Subirer und Husbirer selber, welchen wollen Sie?“ fragt der Wirt. Was denn Subirer und Husbirer seien, frage ich, nach einigen Verständnisproblemen – dem Wirt ist vollkommen klar, was Subirer und Husbirer sind, somit hat er Schwierigkeiten, es einem völlig Unbedarften zu erklären – stellt sich letztendlich heraus, dass beides Brände aus der heimischen Sau- bzw. Weißbirne sind. Beide schmecken vorzüglich, nicht scharf, kein Vor- und kein Nachlauf, runder, klarer Fruchtgeschmack gepaart mit einer hochprozentigen Menge Alkohols. Sowas muss man erstmal destillieren können, und die Rohstoffe dazu muss man auch ranschaffen. Die hauseigene Kupferbrennblase sei noch aus dem 18. Jahrhundert, die Kunst sei ganz einfach, das Holzfeuer unter dem Kessel so zu regulieren, dass was Gescheites rauskäme, ein Scheit zu viel oder zu wenig könne den ganze Durchlauf verhunzen, erklärt mir der Wirt, schenkt sich selber auch einen ein, setzt sich zu mir, und wir plaudern ein wenig, das Übliche halt, wo ich herkäme, was ich so mache, warum ich hier sei; ich meinerseits befrage den Wirt nach seinem Werdegang (nie rausgekommen aus dem Tal), nach seiner Ausbildung (halt bei den Eltern und Großeltern das Wirts- und Kochhandwerk erlernt von Kindesbeinen an, in dieser Gaststube und dieser Küche), nach seinen Plänen (keine, das Wirtshaus, so, wie er erhalten habe, in gutem Zustand an seine Tochter und seinen Schwiegersohn übergeben, schuldenfrei). Dieser Mann ruht ganz in sich selbst, keine zu bedienenden Bankkredite, keine Prostitution auf booking.com & Co., kein modernistisches Trend-Hinterherhecheln, keine Zeitgeistkniefälle, statt dessen solides, traditionelles Handwerk mit sehr, sehr sachter Weiterentwicklung des Tradierten, regionale Lieferanten ohne viel Aufsehens und Zero-Kilometer-Marketing-Gedöns, keine neuen, hippen alten Gemüsesorten, sondern die Zutaten, die das Land hier schon immer geliefert hat, saisonal, kein eingeflogenes Argentinisches Bio-Steak, sondern Fleisch vom Bauern nebenan, bei dem man jeden Tag mit eigenen Augen sehen kann, dass er gut mit seinen Tieren umgeht, … Ob ich etwa auch einer von diesen Schreiberlingen sei, die sich irgendwann heimlich einschlichen, im besten Fall etwas Schlechtes über seinen Gasthof schrieben, das sei harmlos, denn so blieben die gestopften Touristen gewiss weiterhin weg und die Einheimischen würd’s nicht stören, in der Regel würden sie es noch nicht einmal lesen, im schlimmsten Falle aber in Lobgehudel ausbrächen, wie toll und ursprünglich und unverfälscht das Gasthaus sei, das habe dann zur Folge, das Dutzende von weiteren Schreiberlingen und in deren Gefolge Heerscharen von Touristen einfielen, an allem möglichen rumkritisierten („Warum gibt es hier keine frischen Muscheln, ist doch Muschelzeit?!) und – weitaus schlimmer – die einheimischen Stammgäste vergraulten und verdrängten (gastronomische Gentrifizierung, denke ich mir), und wenn der Hype dann vorbei sei, hätte sich der Wirt entweder zur hochverschuldeten Allerwelts-Nobel-Herberge umwandeln müssen, oder die Touristenscharen blieben mit der Zeit weg, die Einheimischen seien dann schon längst weg und würden auch nicht zurückkommen, und was bliebe, sei zuerst ein ruiniertes Wirtshaus und dann irgendwann mal eine Wirtshausruine. Nein, nein, so ein Schreiberling sei ich gewiss nicht, lüge ich dem Wirt frech und beschämt in’s Gesicht, ich sei nur ein einfacher Durchreisender, hoch erfreut über die hiesige Gastfreundschaft und Ursprünglichkeit. Dann sei es ja gut, brummt der Wirt freundlich und gibt noch einen doppelten Husbirer aus. Auch wenn ich den Wirt vielleicht gehörig angelogen habe, so bleibe ich doch meiner Zusage treu: wo dieses famose Gasthaus ist und wie es heißt, verrate ich nicht, diesmal auch keine Bilder, der Wirt wünscht es nicht und er verdient es, dass man seinen Wunsch respektiert.