Lotters Wirtschaft im Hotel Blauer Engel in Aue

Summa summarum: Einfaches Hotel in der Stadtmitte, unverständlich, woher die 4 Dehoga-Sterne kommen, urige Brauereigaststätte der hauseigenen Micro-Brewery mit prallem, unverfälschtem, einheimischem Leben, leckerem Bier und grausamem Essen, die hochgelobten Premium-Restaurants des Hauses haben wir (noch) nicht ausprobiert.

„Wir haben überhaupt kein Convenience! Bei uns wird alles frisch und selber gemacht!“ giftet uns die Chefin am Morgen beim Auschecken an, nachdem sie gefragt hatte, ob alles zu unserer Zufriedenheit gewesen sei und ich ehrlich geantwortet hatte, das Essen in Lotters Wirtschaft sei für unseren Geschmack weithin aufgewärmter Convenience-Fraß. Als ich zurückfrage, ob die Chicken Wings, Mozzarella Sticks, Frühlingsrollen, Käsepoppers, gebackene Schrimps, Quessadilla Rolls und Sesam Wan Tans auf der Speisekarte hier tatsächlich frisch und selber gemacht würden, murmelt die ältere Frau etwas, das nach Caros Meinung arg nach Beleidigungsklagen-Potential klingt und knallt wortlos die Rechnung auf den Tresen.

Dabei hatte alles so schön angefangen. Für die Überlandfahrt Richtung Dresden hatte ich auf halber Strecke eine Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Da vermeldet der Gusto, in Aue koche der Spross der Gastwirtsfamilie vom Blauen Engel, Benjamin Unger auf 7-Pfannen-Niveau, der Gault Millau vergibt gar 17 Punkte, der Varta-Guide 3 Diamanten, der Schlemmer Atalas 3 ½ Bestecke, der Michelin zwar nur einen Bib Gourmand, aber immerhin, solche massenweise Auszeichnungen sind bis heute rar im ehemaligen Osten. Das Hotel selber noch Mitglied in der eigentlich recht renommierten Jeunes Restaurateurs Vermarktungsgesellschaft für gehobene Restaurants und Hotels, was lag da näher, als Station in Aue zu machen.

Das Örtchen Aue selber knabbert noch immer wacker an der städtebaulichen Aufarbeitung von 40 Jahren Real Existierendem Sozialismus, mittendrinnen liegt das Hotel Blauer Engel, ein wuchtiges, dreigeschossiges, ordentlich renoviertes Eckhaus direkt am Altmarkt. Aber bereits hinter dem Gebäude beginnt schon der Verfall, die Hotelparkplätze grenzen an Abbruchhäuser und sind halb vollgestellt mit Baumaschinen, die Parkbuchten selber maximal auf Trabbis ausgelegt. Dabei könnte dieser Platz direkt an der Zwickauer Mulde ein Traum von Biergarten-Refugium sein, ist aber nicht. Die Rezeption ist um 18:00 Uhr nicht besetzt, stattdessen wird man aufgefordert, eine Telephonnummer zu wählen, um eingecheckt zu werden. Es dauert exakt 12 Minuten, bis besagte ältere Dame erscheint und uns gnädig und gemächlich eincheckt. Die Hotelzimmer sind ok, unspektakulär, ohne Atmosphäre, ohne persönliche Note, lieblos-funktional, fensterloses Bad, dünne Frottetücher, Seifenspender klausicher an der Wand festgeschraubt, halbwegs neue Gastronomie-Systemmöbel, um an das winzige Dachfensterchen zu gelangen, muss man das Tischchen davor im engen Durchgang zwischen Bett und Dachschräge beiseiteschieben, kein Schreibtisch, kein Tresor, keine Minibar, kein Hinweis auf Roomservice, halbwegs sauberer Teppichboden (wobei die Betonung auf halbwegs liegt, nicht auf sauber), funzeliges Licht, zu weiche Matratze, in sowas nächtigt man notgedrungen, wohlfühlen tut man sich da nicht. Auch wenn es irgendwo im Haus einen SPA-Bereich mit Sauna und Whirlpool geben soll und ein paar Konferenzräume / Festsäle, so fragt sich der unbedarfte Reisende schon recht massiv, wie solch eine Herberge 4 Dehoga-Sterne bekommen und Mitglied bei Jeunes Restaurateurs werden kann. (Nur am Rande, das Bülow Palais in Dresden, nächste Station auf dieser Reise, ist ebenfalls Mitglied bei Jeunes Restaurateurs, und eines von beiden Häusern ist da ganz gewiss fehl am Platze.

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Zum Dinner haben wir dann die Wahl zwischen hochgelobtem Nobelfresschen im St. Andreas bzw. der Tausendgüldenstube in einem der verwinkelten, düsteren, teils fensterlosen Gasträume im Inneren des Anwesens oder aber Brauereigaststätten-Essen (der Blaue Engel betreibt eine eigene Micro-Brewery im Haus) in Lotters Wirtschaft auf der Hotelterrasse am Altmarkt im Freien. Angesichts des wunderschönen Abends, auch angesichts der Tatsache, dass die Brauereigaststättenkarte mit Grünen Fratzen lockt, entscheiden wir uns spontan gegen Nobelfresschen und für Terrasse. Fehler. Die Karte ist eines von diesen witzig-informativ gemeinten Machwerken, die wie eine Hauszeitung aussehen sollen, zwischen allerlei mehr und meist weniger Lesenswertem und alten Bildern findet man dann Speisen und Getränke. 133 Gerichte bietet diese Speisekarte an, Caro hat während den teils endlos scheinenden Wartezeiten nachgezählt. Darunter sind DDR-Klassiker wie Spirelli mit Jagdwurst, Tomatensauce und geriebenem Käse, Kohlrouladen mit Kartoffelbrei oder Würzfleisch über Linseneintopf, allerlei Salate, Schweinshaxen, Seelachsfilets oder frischen Hackepeter bis hin zum Kalbsfiletsteak. Und natürlich Grüne Fratzen, eine erzgebirgische Spezialität, gebackener Kartoffelteig aus halb rohen, halb gekochten Kartoffeln, auf der südlichen Seite des Gebirges, im Sudetenland bei meiner Großmutter auch Grüne Klitscher genannt. Eine Küche, die eine solch Fülle von unterschiedlichsten Speisen frisch zubereiten kann, muss wahrlich von einem Genie und Großmeister der Küchenkunst geleitet werden. Oder aber recht viel fertig im Schrank haben.

Nun dann. Sächsische Kartoffelsuppe: lauwarm, nicht säuerlich, sondern richtig sauer, Gemüsestückchen darinnen niemals frisch, darauf ein paar Stücklein kreuzweise aufgeschnittener Wiener Würstchen in der Mikrowelle trocken-zäh-dunkelbraun geröstet. Hackepeter: sehr fett, sein Geruch lässt eine Verkostung als unangemessen erscheinen, Kommentar der Bedienung: „Aber berechnen muss ich den schon.“ Statt dessen eine Portion frischer Spargel: breiig-zerkocht, lauwarm, niemals frisch zubereitet, Hollandaise aus der Tüte. Schnitzel: dick, zähes Fleisch, wohl tatsächlich in der Pfanne gebacken, Bratkartoffeln dazu einmal durch lauwarmes Fett geschwenkte Kartoffelscheiben, wahrscheinlich aus dem Plastiksack, Salat verwelkt und ölig. Zart Rosa gebratenes Lammrückensteak einfach totgebratenes, gräuliches, hartes Fleisch, Kartoffelbällchen, Speckbohnenbündchen und Kräuterbutter dazu Convenience. Dann schließlich die Grünen Fratzen, wie gesagt ein Leibgericht aus meiner Kindheit: hier kommen sie daher als knapp Handteller-große Flatschen von labbrigem Kartoffelteig, die kurz in Fett angebraten wurden, ohne dabei wirklich warm, geschweige denn kross zu werden, die Original Erzgebirgische Schwammerbrüh dazu ein dünnes braunes Sößchen (selbst gemacht? Ich hoffe nicht, damit man die mangelnde Qualität wenigstens auf den Convenience-Hersteller schieben kann.) mit zerkochten, breiigen braun-gräulichen Pilzstückchen darinnen, einem Klecks Marmelade und Sahne darauf. Ich spüre förmlich, wie meine Großmutter, Gott hab‘ sie selig, in ihrem Grabe rotiert.

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Tja, das ist jetzt Caros und meine Sichtweise der Dinge. Die Eingeborenen in Aue haben offensichtlich eine ganz andere Sichtweise der Dinge. Während beim abendlichen Stadtrundgang andere örtliche Restaurants eher verhalten besucht sind, brummt Lotters Wirtschaft volle Möhre. Alle Tische draußen und drinnen sind voll besetzt, Gäste ohne Reservierung müssen reihenweise wieder weggeschickt werden. Man isst, man trinkt, man redet, man lacht, man flirtet, man singt sogar zuweilen, zumindest bis des Abends ein DJ genannter Tontechniker damit beginnt, die Gasträume mit mehr oder minder dezenten Wummergeräuschen zu beschallen, hier tobt das pralle Leben, und wer 40 Jahre DDR überstanden hat übersteht diese Küche gewiss ebenfalls. Das hauseigene Bier dazu ist süffig, da beißt die Maus keinen Faden ab, die Schnäpse wohlfeil, das Stamperl Nordhäuser Doppelkorn zu 2,50 EURO. Die Bedienungen dazu freundlich, bemüht, oft unkoordiniert, zum Teil nicht wirklich mit der Speisekarte und dem Kellner-Handwerk vertraut und schlichtweg überfordert, aber fast immer bemüht.

Das Frühstück schließlich nach schweißgebadeter Nacht unter’m Dache ambivalent: frisches Obst und frische Bäckersemmeln, keine Backlinge, da bin ich ja schon fast zufrieden, dazu aber Croissants, die noch von Honeckers letztem Frühstück im ZK stammen müssen, fischiger Fisch, Pressschinken, dünner Kaffee und eine Kaltmamsell, die sich meist nicht blicken lässt.

Hotel Blauer Engel
Geschäftsleitung Herr Benjamin Unger
Altmarkt 1
08280 Aue
Tel.: +49 (37 71) 59 20
Fax:+49 (37 71) 2 31 73
Email: info@hotel-blauerengel.de
Online: www.hotel-blauerengel.de

Hauptgerichte in Lotters Wirtschaft von 9,50 € (Kohlroulade mit Kartoffelbrei) bis 30 € (Filetsteak mit Beilagen), Drei-Gänge-Menue von 18,50 € bis 44,50

Degustations-Menue im Restaurant St. Andreas 3 Gänge 85,50 € bis 7 Gänge 135 €

DZ Ü/F 123 € bis 193 € (pro Zimmer, pro Nacht)

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