Summa summarum: sehr ordentliches, gemütliches, gutbürgerliches Landgasthaus mit einigen Tiefen in der Küche, die von Höhen jedoch allemal wettgemacht werden, freundlichen Menschen, beschaulichem Ambiente, ordentlichem Gasthaus-Schlafkomfort.
Links die Dorfkirche, rechts die Dorfwirtschaft samt Metzgerei, dazwischen ein für ein Dorf recht großer Parkplatz, aufgelockert durch kleine Blumenbeete zwischen den Parkreihen, rappelvoll an einem späten Freitagnachmittag, kreuz und quer geparkt, viele Autos stehen auf zwei Parkplätzen, müssen alles Piloten sein, die die Linie zur Abgrenzung der Parkplätze als Führungslinie zur Parkposition missverstanden haben müssen, mir als Städter schwillt der Kamm ob dieser Verschwendung der – in der Stadt knappen – Ressource Parkraum, aber hier auf dem Lande ist das offensichtlich kein Problem, da scheint man das alles wesentlich lockerer zu sehen, ansonsten ist ja genügend Platz da, nur just gerade jetzt nicht auf diesem Parkplatz, dreimal fahre ich im Kreis, bis ich ein Parknischlein finde. Fängt ja schon mal gut an, denke ich mir.
Über die Hintertüre betrete ich das Untergeschoss des Landgasthofs zum Hirsch in Ostrach, eines dieser ganz typischen alten, organisch gewachsenen Gasthäuser, hier ein Anbau, dort eine Renovierung, selbst einen Lift mitten durch das Haus gibt es, Erinnerungsstücke, Photos, Tinnef an den Wänden, alles entstanden über Jahrhunderte. Da kommt das von einem Star- oder Provinz-Innenarchitekten durchgestylte, vom Konzept her stimmige, mit edelsten Materialien ausgestattete, der natürlichen Umgebung nachempfundene, historische Reminiszenzen thematisch aufnehmende, modernsten Ansprüchen genügende, Elemente des Zen berücksichtigende, aufwändig gestaltete – you name it, was da sonst noch an Werbe-Sprech über moderne Gastro-Architektur geschwafelt wird – neu eröffnete Restaurant einfach nicht mit: hier ist’s einfach authentisch-heimelig. Im Erdgeschoss eine kleine Diele mit winziger Rezeption, dahinter ein Durchbruch zu Gastraum und Küche, die Gaststube mit altem, wuchtigen Kachelofen an einem späten Freitagnachmittag rappelvoll; wäre es Sommer, so könnte man auch noch in den recht idyllischen Gastgarten hinter dem Haus ausweichen und den – fast schon berühmten – Störchen in ihrem Nest auf dem Hausdach zuschauen. Einchecken freundlich und problemlos beim Chef persönlich, einfache telephonische Reservierung mit Bestätigungsmail vom Wirt hat geklappt, zum Zimmerbuchen braucht man hier kein HRS und Booking.com, die dem Wirt erstmal 15% Provision abknöpfen. Im ersten Stock geht’s rechts zu den Gästezimmern, links ist offenbar der Eingang zur Privatwohnung der Wirtsleute, Schuhe, viele Kinderschuhe darunter, stehen vor der Tür auf dem kleinen Vorplatz, Kinderspielzeug, Regencapes an einem Ständer, eine kleine Sitzgruppe mit abgegriffenen Zeitschriften … nichts, worüber ich mich in einem Drei-Sterne-Dorfwirtshaus aufregen würde, hier menschelt’s halt, hier leben richtige Menschen, nicht Lohn-Personal, das das Haus um 23:00 Uhr verlässt, versperrt und verwaist zurück lässt, um erst am nächsten Morgen wieder zur Schicht zu erscheinen, hier leben und arbeiten vielmehr Menschen in mehreren Generationen an einem Ort. Schön das.
Das Gästezimmer wie tausend andere vorher, klein, sauber, leider Teppichboden, gute Matratze, ordentliche Leinenbezüge, Buchen-Einbaumöbel ohne Schrammen, genügend Stecker am kleinen Schreibtisch, Lampen etwas düster, Fenster zum Hof, keine spektakuläre Aussicht, aber ruhig, kleines, gefliestes, sauberes Bad, Dusche … passt alles für diese Kategorie. Etwas allerdings ist anders als sonst. Neben der Toilette hängt eine kleine, flache, weiße, ausgesprochen stylische Fernbedienung an einem Magnethalter, ein großer runder Knopf, darunter zwei Paar kleine Knöpfe mit Links-Rechts-Pfeilen und Plus-Minus-Zeichen. Neugierige Eisente, die ich bin, nehme ich das Teil, inspiziere es, keinerlei weiteren Hinweise auf die Funktion oder den Zweck, also drücke ich den großen runden Knopf, um den sodann ein – ebenfalls stylischer – blass-blauer Lichterkranz aufleuchtet. Während ich noch gespannt auf den Lichterkranz auf der Fernbedienung starre fährt sich mit einem ganz leichten Surren ein kleines, im vielleicht 30-Grad-Winkel gebogenes Röhrchen, etwas dicker als eine Zigarette, aus seiner unisichtbaren – und vor Besudelung sicheren, wie ich erst später verstehen werde – Parkposition unter dem inneren Toilettenrand aus, richtet seine Öffnung von unten auf die Mitte der Klobrille – wo sich bei ordnungsgemäßem Gebrauch jetzt ein schmutziger Popo zu befinden hätte – und fängt munter das Spritzen Richtung nicht vorhandenen Popos an. Ich bin beeindruckt, klar, ich kenne Bidets, das letzte Mal im Soho House im Istanbul gab es auch statisch eingebaute Popo-Wäschen in den Toiletten, aber solch eine fernbediente High-Tech-Apparatur ist mir neu. Begeistert stelle ich fest, dass das sprudelnde Röhrchen sich sacht nach links und rechts neigt, wenn man die Pfeiltasten drückt, und durch Drücken der Plus- und Minus-Tasten lässt sich die Stärke des Wasserstrahles regulieren. Neugierig spiele ich an den Tasten herum, während ich – ohne es wirklich zu merken – das Bad unter Wasser setze, da der allseits steuerbare Wasserstrahl sich mangels eines darüber befindlichen Popos munter in hohem Boden über die Klobrille in das Bad ergießt. Und ich muss sagen, während ich das Bad wieder trocken putze, ich bin wirklich beeindruckt ob dieser Technik.
In der Gaststube sind am Nachmittag fast alle Tische besetzt mit dunkel gekleideten Menschen jeden Alters, bunt gemischt vom Kleinkind bis zum Greis. Es scheint Kuchen gegeben zu haben, jetzt trinkt man Kaffee, Bier, Säfte, auf einigen Tischen stehen Weinflaschen. Die Lautstärke ist gedämpft, die Leute reden anfänglich leise, aber angeregt miteinander, zuweilen schreit ein Kind, wird aber rasch von eine Großmutter oder einem Vater wieder beruhigt. Die Wirtin erklärt mir, dies sei eine Beerdigungsgesellschaft, es sei Sitte im Dorf, dass man nach Kirche und Friedhof hierher in’s Wirtshaus käme zum Leichenschmaus, aber zum Abendgeschäft sei das alles wieder vorbei. Am späteren Nachmittag werden die Gespräche dann lauter, die Kaffeetassen weichen zusehend Wein- und Bier- und auch Schnapsgläsern, zuerst nur vereinzeltes Lachen hier und da, dann immer mehr, die Gesellschaft wird zusehends ausgelassener, die feste Sitzordnung löst sich auf, Grüppchen bilden sich, eine Traube junger Mädels, wohl über Mädelsdinge redend, aus einer von Männern dominierten Runde klingt Fußballvokabular, alte Weiber hocken schwatzend beieinander, dabei wird allseits viel gelacht. Am späteren Nachmittag werden noch Platten voller Bratwürste und Schüsseln mit Kartoffelsalat gereicht und alle schmausen auf’s Trefflichste. Jungs, so wünsche ich mir auch meine Beerdigung, ihr sollt nicht wie bedröppertes Sauerbier beieinander hocken, redet, lacht, esst, trinkt, lasst Musik aufspielen, mich wird es gewiss nicht stören, und ich will niemandem mit meinem Ableben und Verscharren nicht die gute Laune oder gar den Appetit verderben.
Apropos Appetit, ordentlich Essen kann man im Hirschen in Ostrach ebenfalls. Für die Küche zeichnet seit 2013 Johannes Ermler verantwortlich, Vater Josef Ermler steht ihm zwar nach wie vor tatkräftig zur Seite, aber man merkt die Veränderungen in den letzten vier Jahren, hin zu einer experimentierfreudigeren, zeitgemäßeren, aber immer noch durch und durch schwäbischen Küche (durchaus mit badischem Einschlag, aber das ist ja nichts Schlechtes). Das Rindertatar wird nicht gewolft, sondern frisch geschnitten; es wird auch nicht nordeuropäisch mit Eigelb, Kapern, Cornichons, Schalotten usw. angemacht, aber auch nicht südeuropäisch mit einer frisch aufgeschlagenen Olivenöl-Mayonnaise, sondern nur mit Olivenöl und Wachtelspiegelei, dazu gibt’s eine wirklich interessante Zwiebel-Sahne-Espuma und irgendwelches zerrupftes, verwelktes, recht suspektes Grünzeugs. Sowohl geschmacklich als auch von der Textur her ein durchaus interessantes Gericht, bei dem die Qualität des rohe Rindfleischs wirklich zur Geltung kommt. Die Rinderbrühe ist tadellos, die Maultaschen darinnen geschmacklich vollkommen belanglos. Die Sauren Linsen – ein, wenn nicht das schwäbische „National“-Gericht – sind für meinen Geschmack verhundst. Statt ganz normaler Tellerlinsen müssen hier kleine, bissfestere, nussige Berg- oder Alblinsen herhalten, eigentlich sehr leckere Linsensorten, nur völlig ungeeignet für schwäbische Saure Linsen, die ihre typische Sämigkeit durch eine Einbrenne erhalten, die hier völlig fehlt. Statt dessen hat der Koch wohl zum industriellen Balsamico-Creme-Kanister gegriffen und die Linsen damit süß-sauer gemacht, ganz ein kurioser Geschmack, zusammen mit der knackigen Textur der Linsen eher in Richtung Linsensalat gehend denn in Richtung Saure Linsen. Wie dem auch sei, die Spätzle dazu beste vom Brett geschabte Spätzle, richtig gut, richtig gut ebenfalls die Saiten dazu. Die hausgemachten Maultaschen im Eimantel gebraten sind von nämlicher Qualität wie die in der Suppe, auch die Tatsache, dass sie jetzt zusammen mit Rührei und mäßigem, matschig-saurem Schwäbischen Kartoffelsalat daher kommen, verbessert ihre Qualität nicht. Tadellos bis gut dann wieder der perfekt rosane Zwiebelrostbraten, die kräftige Rotweinsauce etwas schwach auf der Brust, die Gemüse frisch blanchiert und knackig, die Spätzle wiederum hervorragend. Der „Eisbecher Parkhotel Wehrle“ zum Dessert richtig enttäuschend, industrielles Speiseeis, industriell eingemachte Schattenmorellen, Sprühsahne, da kann selbst das doppelte Kirschwasser, das ich dazu bestellt hatte, irgendetwas retten.
Zusammen mit den stets freundlichen, stets aufmerksamen, stets flinken Bedienungen und einer kleinen, aber klugen Weinkarte mit den Schwerpunkten Bodensee und Baden ist der Hirsch in Ostrach ein sehr gutes, gemütliches, gastfreundliches schwäbisches Landgasthaus mit Tiefen, die dann auch wieder durch Höhen wettgemacht werden.
Landhotel Gasthof zum Hirsch
Johannes Ermler
Hauptstraße 27
D – 88356 Ostrach
Tel.: +49 (75 85) 9 24 90
Fax: +49 (75 85) 92 49 49
E-Mail: ermler@landhotel-hirsch.de
Internet: www.landhotel-hirsch.de
Hauptgerichte von 14,50 € (Maultaschen mit Kartoffelsalat) bis 23,00 € (Zwiebelrostbraten), Drei-Gänge-Menue von 25,80 € bis 42,50 €
DZ Ü/F 90,00 € bis 108,00 € (pro Zimmer, pro Nacht)
Das sagen die Anderen:
- Dehoga-Klassifizierung: 3 Sterne superior
- Guide Michelin Inspektoren: Bib Gourmand
- Guide Michelin Gästebewertungen: 4,9 von 5 Punkten (bei 8 Bewertungen)
- Gault Millau: n.a.
- Gusto: 5 von 10 Pfannen (Küchenleistung); 2 von 5 Bestecken (Service, Ambiente)
- Schlemmer Atlas: 2 von 5 Kochlöffeln
- Feinschmecker: n.a.
- Varta: 1 von 5 Diamanten (Restaurant); 1 von 5 Diamanten (Übernachtung)
- HRS-Klassifizierung: 3 von 5 Sternen; HRS-Kundenbewertung: 9,0 von 10 (bei 88 Bewertungen)
- Booking.com-Klassifizierung: 3 von 5 Sternen; Booking.com-Kundenbewertung: 9,0 von 10 (bei 137 Bewertungen)
- Holidaycheck: 5,6 von 6 Sternen (bei 9 Bewertungen)
- Yelp: 4,5 von 5 Sternen (bei 5 Bewertungen)
- Tripadvisor: 4,5 von 5 Punkten (bei 29 Bewertungen)