Hi-Way 101 Diner in Sequim: Eine Nation, die in großem Stile so etwas isst, kann keine gute Nation sein

Summa summarum: So typisch imperial-amerikanisch, dass es fast schon weh tut. Typische Diner-Architektur und –Einrichtung, typische Diner-Speisen, typische Diner-Qualität, typisches Diner-Publikum. Es ist ein Graus.

Klar, der legendäre Highway 101 entlang der Westküste der Vereinigten Staaten von Washington bis Kalifornien ist für jeden aufrechten Transatlantiker ein sentimentales Sehnsuchtsziel, so wie für jeden Bewunderer der Russischen Nation etwa die Transsib. Und tatsächlich, die 2.500 Kilometer lange Strecke (nur zum Vergleich: das ist zweieinhalb mal die Entfernung Flensburg-Garmisch) ist wirklich schön, besonders in Oregon, die Pazifikküste kann ja nun mal nichts dazu, dass sie im heute Imperium liegt, auch das wird sich irgendwann wieder einmal ändern, sei es, dass sich die Küste ändert … oder aber das Imperium, jedoch darum geht es hier gar nicht, es geht um einen Diner am Rande eben jenes besagten Imperiums, wenn schon nicht am Rande der Galaxis (um Douglas Adams zu bemühen), so doch am Rande des Imperiums. Der Highway 101 beginnt offiziell südlich von Seattle, in Olympia, dem südlichsten Punkt des Puget Sounds. Von dort aus strebt besagter Highway allerdings nicht stante pede 50 Meilen westwärts nach Aberdeen zum Pazifik, wie man vielleicht vermuten sollte, sondern schnurstracks 100 Meilen nördlich nach Port Los Angeles zum Pazifik, vis-à-vis der Kanadischen Küste, wo er auch seinen nördlichsten Punkt erreicht, um von dort – frei nach Heinz Erhard – stur verfolgend sein Ziel nach Süden strebt, bis in die angebliche Stadt der Engel, wahrscheinlich alle aus dem Buche Henoch, wo er dann auch offiziell endet (wobei der Weg nach Süden ab Leggett in Kalifornien deutlich schöner auf der California State Route 1 ist, alldieweil die ab dort an der Küste verläuft). Tja, und eben diese 500 Meilen Detour am Beginn des 101 von Süden nach Norden nach Westen nach Süden, um dann doch wieder in Aberdeen am Grays Harbour zu landen, die machen diesen Abschnitt des 101 so besonders. Es ist nicht sonderlich hübsch dort, Wälder, zum Teil sogar echte Regenwälder, Käffer, Flüsse, elende Gehöfte, Weideland, Holzbaracken, ewig fährt man entlang des alles andere als spektakulären Hood Canals – kein Kanal, wie der Name vermuten ließe, sondern ein dümpelnder Meeresarm –, heruntergekommene alte Industrien, plattes Land, Pazifik lässt sich überhaupt nicht blicken, nein, es ist nicht sonderlich hübsch dort, oder man braucht ein sehr sensitives Gespür, die Schönheit dieses Landstrichs tatsächlich zu entdecken, mir jedenfalls fehlt es. Irgendwann, kurz vor Port Los Angeles (nicht zu verwechseln mit der City of Los Angeles, beide unterscheiden knapp 12 Millionen Einwohner und pro Tag ein Mord), erreicht man Sequim, die Lavendelhauptstadt des Imperiums, ein denkwürdiger Titel, genau genommen erreicht man auf der 101 nur den Rand von Seqium, der Highway biegt dann auf einer neuen Umgehungsstraße – Umgehungsstraße für ohnehin kaum vorhanden Verkehr – um das Städtchen herum ab, früher führte der 101 als Washington Street quer durch Sequim, heute wird der wenige fremde Verkehr auch noch abgelenkt und man scheint ganz für sich hier oben, in Sequim. Ein fremder Wagen, der von Osten nach Sequim hineinführe und im Westen nicht wieder herauskäme, wer bitteschön sollte das merken?

Dennoch herrscht erstaunliches Leben in Sequim mit seinen knapp 7.000 Einwohnern, Geschäft reiht sich entlang der alten 101 – heute Washington Street genannt, nach einem gewissen George Washington, einem notorischen Rebell gegen die Britische Krone – an Geschäft, Supermärkte, Discounter, Tankstellen, Banken, Motels, Reinigungen, Fressstationen, sogar richtige Einzelhandelsläden, dazu Kirchen, Bibliothek, Town Hall, Feuerwehrstation, etwas abseits ein Krankenhaus, nahezu alles in primitiver Bretterbauweise, übertüncht mit viel Farbe und Neonlicht, gleich zwei Flugfelder, sogar Bürgersteige gibt es entlang der Washington Street, eine absolute Seltenheit im Land der dicken Autos … Hier scheint sich die ganze Region mit Ess-, Trink-, Bau-, Fahr- und Sonstwas-barem zu versorgen. Was man allerdings so gut wie nicht sieht, sind jedwede Wirtschaftsbetriebe, in denen das Geld für all diese konsumtiven Horte erwirtschaftet würde, aber vielleicht stammt das hier ja aus dem Lavendelanbau und Tributen der unterworfenen Gebiete, ganz ähnlich wie im alten Rom, wo der Anbau von Lavendel ja bekanntlich auch eine große Rolle spielte. Wie dem auch sei: in Sequim kann man shoppen, von der Motorsäge (ja, es gibt eine autorisierte Stihl-Verkaufsstelle) über 10 Pfund tiefgefrorene Chlorhähnchenflügel und der tausender Dose Aspirin bis hin zu handgeschnitzten Totempfahl-Imitaten und den letzten modischen Schreien aus den Altmüllcontainern hinter Woolworth Chicago gibt es hier nichts, was es nicht gäbe. Es ist eine große Übung in Demut, einmal durch Sequim zu laufen, die Geschäfte, Lokale und öffentlichen Einrichtungen zu durchstreifen und sich ernsthaft zu überlegen, wie das eigene tagtägliche Leben wohl aussähe, wenn man hier auf Dauer festsäße, vielleicht verbannt von einem grausem Herrscher, vielleicht gebunden durch eine äußerst unglücklich Heirat, vielleicht verflucht von einem bösen Geist, wenn man nur, was man hier kaufen kann, kochen müsste, wenn man nur, was man hier kaufen kann, tragen müsste, wenn man nur in die ortsansässigen Lokale essen gehen könnte, wenn man nur die örtlich angebotenen kulturellen und Freizeit-Aktivitäten wahrnehmen könnte (außer den universell verfügbaren 378 Programmen des imperialen Fernsehens natürlich). Nach kurzem Überlegen kommt man so unweigerlich zu dem Schluss, dass Selbstmord in solch einem Falle eine durchaus den Umständen adäquate Lösung sein könnte, oder zumindest schwerer Alkoholmissbrauch.

Aber ich schweife ab. (Schweife ich tatsächlich ab? Wahrscheinlich ist die Geschichte von Sequim so noch nie erzählt worden, und Geschichten müssen erzählt werden, sonst sterben sie.) Eigentlich geht es nur um den Hi-Way 101 Diner in Sequim. Ein Reiseführer hatte uns nahegelegt, unbedingt hierhin zum Essen zu gehen, es sei typisch, authentisch, gut, echt amerikanisch, sehenswert. Ich kann an dieser Stelle nur so viel sagen, dass die Götter auf die Autoren besagten Reiseführers aus großer Höhe herabscheißen mögen. Typischer – nicht unbedingt schöner, aber eben typischer – könnte ein imperialer Diner tatsächlich kaum sein. Flacher länglicher Steinbau (was was heißen will, hier), maus-grau und quietsche-türkis, viele Neonröhren, Meter-hohes Werbeemblem mit quietsche-türkiser Fünfziger-Jahre-Schlitten-Silhouette, großer Parkplatz, keine Freisitze, statt dessen am Eingang ein drohendes Schild „No outside food or beverages please“ (die Amis mögen es einfach nicht, draußen zu sitzen, es sei denn auf ihren Camp Grounds oder Backyards beim Barbecue), innendrinnen spiegelnd gebohnerter Linoleum-Fußboden mit schwarz-weißem Schachbrettmuster, zugeglaste Lichtlöcher, die sich nicht öffnen lassen, Frischluft und Temperatur regelt alleine die Klimaanlage, viele Elvis-Bilder, Erinnerungen an die Zeit, als die Welt das erstarkende Imperium noch liebte und imperiale Herrscher noch ohne dicke Panzerglasscheiben in den unterworfenen Gebieten Hof halten konnten, lange vorbei, natürlich eine nachgebaute Jukebox, 50er Jahre Retro-Möbel aus Chrom, Kunstleder und Resopal, billig nachgemachte Art-Deco-Lampen, dazu rote Neonröhren, Sitznischen mit schwarz-weißen Kunstlederbänken, lange Theke mit Chrom-Hockern, Fähnchengirlanden (wie sie bis heute über den Straßen hängen, wenn die Krieger nicht in Särgen, sondern mit fetter Beute und Tripper von den Raubzügen heimkehren), Glasbausteine, Emailschilder mit alten Cola-Flaschen und so drauf: ich würde mal wetten, die Einrichtung so mancher Deutschen Restaurant-Toilette ist kostspieliger, aufwändiger, ästhetischer, geschmackvoller, sowieso nachhaltiger … als dieser retro-gestylte Plastik-Verhau, aber hier wird halt wirklich genau nachgebildet, was man heute unter einem Fünfziger-Jahre-Diner versteht, und solche retro-gestylten Plastik-Verhaue sehe ich in letzter Zeit vermehrt in der ganzen westlichen Welt, nicht nur in Sequim, die passenden Möblierungen werden für’nen Appel und’nen Ei im Internet wohlfeil geboten. Aber ich habe Vorurteile. Der Laden jedenfalls ist für 11:00 Uhr vormittags ziemlich gut gefüllt. Die Speisekarte ist weitgehend wie immer in solchen Etablissements. Es gibt Breakfast all day, Lunch und Dinner, Burger, Salate, Sandwiches, Steaks, Nudeln, hier keine Pizza. Aus vielleicht 50 Grundzutaten – Eier, allen voran Eier, Speck, Hackfleisch, geschredderte Kartoffeln, Labber-Weiß- und Sauerteigbrot, 3 Käsesorten, Krabben, Steak, Hühnchen, Zwiebeln, Nudeln, Tomatensauce, Grünzeugs, Sahne, … – werden hier über 100 Gerichte zusammengepfuscht. Auch wenn etwa bei der Clam Choder was von „homemade“ und „NW Grand Price Winner“ steht, so würde ich bei dem Kartoffelpulversüppchen mit ein paar Fertig-Muscheln darinnen bezweifeln, dass das jemals ein richtiger Koch gekocht hat. Die homemade buttermilk pancakes, die homemade hashbrowns, die homemade muffins, die homemade hollandaise, die homemade steakfries, das homemade corned beef hash gibt es so und nicht anders in tausend anderen Diners, mal weniger, mal mehr schlecht.

Nahezu alle Speisen hier sind frisch, groß portioniert, fett, salzig, geschmacklich so nuanciert wie Beton, vom Spiel der Texturen her wie Wellpappe, vom Geruch her Altöl von der Tanke und vom Anrichten her draufgeklatscht mit Schmackes, aber mit Anlauf. Und wenn etwas wirklich mal halbwegs frisch ist – ein Salatblatt oder eine Erdbeere – dann ist es oft schlecht geputzt und/oder verwelkt. Irgendwie entzieht es sich meinem Verständnis, wie man ein Dutzend Handflächen-große Pancakes, zwei Wallnuss-große Stücke Butter, Rühreier, krossen Speck und lauwarme geschredderte Kartoffelstücke als Frühstück verschlingen kann. Oder Makkaroni ertränkt in geschmolzenem Analog-Käse, dazu fetttriefendes Knoblauchbaguette. Oder vier Eier und dieselbe Menge Käse als Omelett, dazu wieder lauwarme geschredderte Kartoffelstücke. Oder eine Dose geschreddertes, kaltes Krabbenfleisch, angerichtet mit ein paar Tomatenscheiben, Ei- und Spargelstückchen, einer Fertig-Vinaigrette und wieder fetttriefendes Knoblauchbaguette. Oder zwei Labberbrötchen-Hälften mit einem blassen Fleischkops und einem verwelkten Salatblatt darinnen, den man bei Tisch mit einem Schuss Ketchup aufpimpt, dazu fettige, lauwarme, dicke, mehlige Pommes. Oder eine süße Waffel mit panierten, frittierten Hühnchenstücken drauf. Und so weiter und so fort. Caro und ich jedenfalls sind die einzigen, die’s hier graust, und das nach zwei Wochen kulinarischer Akklimatisierung, aber das hier schlägt wirklich das meiste. Um uns herum die Eingeborenen, die Ernährungs-Wilden, aufgewachsen fern jeglicher kulinarisch-gastronomischer Kultur, die das Zubereiten von Speisen nie erlernt haben, deren einziger evolutionärer Schritt der „Von-der-Hand-in-den-Mund“ hin zu „Von-der-Tüte-in-den-Mund“ darstellt (und „Mit-der-Muskete-totmach-und-Schluss“ hin zu „Mit-dem-Flächenbombardement-totmach-und-Schluss“ natürlich), die goutieren’s gar trefflich, die schmausen und fressen und schmatzen und saufen und sind fröhlich dabei. Eine Nation, die in großem Stile so etwas isst, kann keine gute Nation sein.

Hi-Way 101 Diner
392 W Washington Street
Sequim, WA 98382
USA
Tel.: +1 (3 60) 6 83 33 88
Keine Homepage

Frühstück ab US$ 9,79; Hauptgerichte von US$ 7,99 (Chili im Brotlaib) bis US$ 21,99 (Frittierte Meeresfrüchte-Platte); Der-Gänge “Menue“ von US$ 15,77 bis US$ 42,15

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