Geheimes Leben: gespenstisch

Nehmen wir z.B. einfach mal Syrakus, oder Genua, oder Murano, von  mir aus auch Split, Istanbul, Valetta, Estepona oder Algier, überall in diesen mediterranen Städten gibt es die scheinbar verkommenen, engen, meist noch nicht einmal für Autos passierbaren Altstadtgassen, ganz in der Nähe der touristischen Idiotenrennbahnen mit den obligatorischen griechischen Säulen, römischen Theaterruinen, sarazenischen Festungen, venezianischen Häfen, barocken Kirchen und weiß der Geier was, vor allem aber mit ihren landestypischen Restaurants mit landetypischen Gerichten wie Gyros-Pizza, Phoenizier-Burger und Wiener Schnitzel von der Pute, mit ihren Kitsch-, Ramsch und Souvenirläden, mehrsprachigen internationalen Apotheken, Swarovski-, Benetton-, Gucci-, H&M- und Rolex-Filialen, dazwischen kriminelle Landnehmer die alles, was gefälscht werden kann, auf der Straße an unbedarfte Idioten verhökern (denn ohne Shoppen wäre dieser ganze historische Zinnober doch langweilig), dann dicht an dicht Bettler, Diebe, Musikanten, Touristenherbergen, doch etwas im Abseits, geradezu im offensichtlich Verborgenen gelegen (und wieder hat Antonin Artaud recht, das wahre Geheimnis ist nicht geheim, es ist vielmehr offenbar und wird dadurch nicht wirklich als Geheimnis wahrgenommen), nur um drei Häuserecken entfernt, aber da sind keine Geschäfte und Kneipen mehr, und daher geht hier kein Tourist mehr weiter, da findet plötzlich echtes Leben, einheimisches Leben, unverfälschtes Leben jenseits des Touri-Rummels statt.

Syrakus, Genua, Murano, Split, Istanbul, Valetta, Estepona, Algier, Mittelmeer, Tourismus, Massentourismus, Altstadt

Wahrscheinlich. Denn das Leben findet unsichtbar statt. Die Gassen sind eng, die Häuser oft heruntergekommen, Putz bröckelt, Balkone – oder das, was noch davon übrig ist – hängen schief und beängstigend, Elektroleitungen unverputzt an den Mauern, teilweise abgerissen herabhängend, abenteuerliche Wasser- und Abwasser-Rohrkonstruktionen offen an den Wänden, viele Türen verrammelt und vernagelt und offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet, oft noch Einschusslöcher aus irgendwelchen Kriegen oder örtlichen Scharmützeln im Mauerwerk, keine oder nur spärliche Straßenbeleuchtung, kein Geschäft, keine Kneipe, keine offene Türe, alles verbarrikadiert und verrammelt, und vor allem, kein oder kaum ein Mensch auf der Gasse zu sehen, auch nicht des Nachts, das ist keine Frage der Tageszeit, dass die Eingeborenen etwa nach Sonnenuntergang Vampir-gleich auf die Gassen strömten, alles scheint allzeit tot, verlassen, ausgestorben, auf den ersten Blick … und doch …

Palermo, Sizilien

Manchmal stehen grüne Pflanzenkübel unvermittelt da, die Gassen sind trotz ihrer scheinbaren Verlassenheit gut gefegt (und hier passt keine städtische Kehrmaschine durch!), man hört Stimmen, Kinder schreien, es riecht nach Essen, verhaltener Baulärm, der Geruch nach frischem Zement oder gehobeltem Holz, ein Radiogerät schmettert landestypische Weisen aus dem Off, wahrscheinlich für einen schwerhörigen Rentner, Wäsche hängt im ersten Stock aus dem Fenster, ein Pärchen streitet lautstark … aber man sieht keine Menschen, nur zuweilen eilt jemand mit einer Einkaufstasche aus einer rasch wieder sorgfältig verschlossenen Haustüre auf die Gasse und verschwindet schnell im Gewirr, ein Moped rast mit absolut unangemessener Geschwindigkeit laut knatternd über’s Pflaster (und verschwindet ebenfalls schnell im Gewirr), hinter einer Gardine meint man, die Schemen einer alten Frau wahrzunehmen, die gelangweilt vom Alt- und Alleinsein die Gasse und das nicht vorhandene Treiben beobachtet. Ansonsten hört, sieht, spürt man die Menschen, die hier wohnen, sieht sie aber nicht, und das ist, mit Verlaub  gesprochen, gespenstisch. Hier wird das noli me tangere des Johannesevangeliums wieder lebendige Wirklichkeit, dieses einheimische Leben will nichts mit dem gaffenden Touristenvolk zu schaffen haben, auch wenn sich mit noch einer Kneipe oder einem Kitschladen unten im Hause immer etwas dazuverdienen ließe.  Lieber nageln sie hier ihre Türen kollektiv zu. Bei manchen der Häuser kann man sich gar nicht vorstellen, wie die Logistik hier funktionieren soll, so komplett verrammelt sie im Erdgeschoss sind, und doch herrscht Leben hinter den blinden Scheiben, und im Obergeschoss sind die Fenster gar geöffnet und Wäsche flattert lustig im Wind. Nur wie gelangen die Menschen dorthin? Ob es etwa geheime Hintereingänge gibt, oder sind alle Gebäude hier mit unterirdischen Kellern und Felsengängen verbunden? Man weiß es nicht. Fakt jedenfalls ist a) hier herrscht Leben, b) man sieht es nicht und c) der Fremde kann nicht daran partizipieren. Gespenstisch.

Palermo, Sizilien

Wenn man aber lang und kontemplativ genug mit offenen Sinnen durch diese Gassen schleicht – vielleicht ist „treibt“ hier das bessere Wort, bzw. sogar passivisch „sich treiben lässt“ – , so kann man manchmal einen Blick in das Innere hinter den Fenstern und Türen im Erdgeschoss erhaschen. Meist sind dort relativ große, primitive Wohnküchen mit billigen Möbeln, einem großen Herd, einem großem Kühlschrank, einem großen Familientisch und ein paar Weibspersonen bei der Hausarbeit untergebracht, schön und romantisch jedenfalls geht anders. Zuweilen entdeckt man kleine Holz-, Metall-, Glas-, Motor-, Elektrowerkstätten, wo ein alter Meister alleine oder mit jungen Lehrlingen werkelt. Aber ich habe auch winzige Ein-Zimmerwohnungen gesehen mit Küche, Bett, Schrank, Tisch auf keinen 15 qm, und besagter alten Frau zum Fenster herausschauend, schicke Studentenappartements, hinter schäbigen Türen verborgene luxuriöse Eingänge zu offensichtlichen Palästen oder zumindest sehr reichen Häusern, … all das habe ich nicht bei einem Spaziergang durch solche Gassen gesehen, sondern über Jahre und Jahrzehnte hinweg, immer wieder mal, denn eigentlich sind hier Fenster und Türen verschlossen und das Leben verborgen.

Palermo, Sizilien

Und wenn ich mal ganz viel Zeit und Geld habe, dann bitte ich einen Tourismus- oder Kommunikationschef einer dieser mediterranen Orte mit den besagten Gässchen, für mich eine Reportage-Tour vorzubereiten und vielleicht 20 seiner Mitbürger dazu zu bewegen, mir die Türen ihrer Altstadthäuser zum unsichtbaren Leben zu öffnen. Ich wäre gespannt …

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