Den nächsten Tag verbringe ich nach einem ausführlichen, aber wenig guten Hotelfrühstück im New York-Presbyterian Hospital der Columbia und der Cornell University im nördlichen Manhattan, dort, wo keine Touristen mehr hinkommen, genauer im Edward S. Harkness Eye Institute. Die guten Leute verlangen den Gegenwert eines Kleinwagens als Vorabzahlung, um als Ausländer überhaupt einen Termin dort bei der weltweit führenden Koryphäe der Augenheilkunde zu bekommen. An diesem Vormittag werde ich einige sehr interessante Erfahrungen machen. Die Rezeption des Hospitals ist nicht etwa von Verwaltungs- oder medizinischem Fachpersonal besetzt, sondern von zwei bewaffneten, bulligen, schwarzen Sicherheitskräften, mit denen ich mich ehrlich gesagt nicht anlegen möchte. Aber es wird schon seinen Grund haben, dass Hospitäler hier serienmäßig von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht werden. Nachdem ich mich bei den Rezeptionisten angemeldet habe, telephoniert einer und keine drei Minuten später kommt eine ausgesprochen höfliche und dazu noch ausgesprochen attraktive junge Frau, stellt sich als „Jeanne, my personal assistant for today“ vor und führt mich in die Tiefen des Hospitals in einen Wartebereich, wo sie mich dem dortigen medizinischen Personal übergibt, nicht ohne deutlich zu erwähnen, dass ich ein selbst zahlender ausländischer Patient sei. Sie gibt mir noch ihre Mobilnummer mit der Aufforderung, sie jederzeit anzurufen, wenn ich Hilfe benötigte. Im Vorfeld meines hiesigen Krankenhausbesuchs hatte ich so ziemlich alle persönlichen Informationen – Geburtsort und –datum, Eltern(!), Beruf, detaillierte Vorerkrankungen, Blutwerte, genauer aktueller Medikamentationsplan, behandelnde Ärzte, übersetze Arztbriefe, … – elektronisch in Online-Formularen des Hospitals eingegeben; jetzt werde ich all dies nochmals gefragt und kann Berge von Papier-Formularen erneut von Hand ausfüllen, Informationen, die das Krankenhaus seit Wochen in elektronischer Form bereits haben sollte. Als nächstes fällt mir auf, wie schäbig diese weltberühmte Klinik im Inneren ist, zerschlissene Böden, Wasserflecken an den Decken, nachträglich angebrachte Klimaanlagen, dünne Wände, nicht richtig schließende Türen, Uralt-Möblierung, abgestoßene Wandecken, aber Großbildschirm mit imperialem Deppenfernsehen im Wartebereich; wenn man in Deutschland solche Räume als Flüchtlingsunterkünfte hernähme, gäbe es wahrscheinlich stante pede einen Aufstand guter Menschen mit Lichterkette und gender-gerechter kollektiver Empörung, verbunden mit der nicht-selbstverpflichtenden Forderung, Andere mögen doch sofort etwas mit anderem Geld an diesen Zuständen ändern. Nun denn, es folgen Stunden mit Untersuchungen nach Untersuchungen durch junge Ärzte und -innen, ich weiß bis heute nicht, ob alle Assistenzärzte des Professors an mir wieder und wieder dasselbe übten oder ob das tatsächlich unterschiedliche Examinierungen waren. Einerlei, nach Stunden der Untersuchung werde ich in einen weiteren Raum geführt, ebenfalls schäbig, und nach Kurzem erscheint die Koryphäe, umgeben von einem Pulk Assistenten-innen, alle im weißen Kittel, alle wichtig drein schauend. Die Koryphäe studiert kurz meine ausgefüllten Papiere, die Übersetzungen meiner deutschen Arztbriefe und die Untersuchungsergebnisse ihrer Kollegen, setzt sich vor mich und beginnt nun ihrerseits mir in’s grünelnde Auge zu schauen; dabei macht er smalltalk. Nach vielleicht fünf Minuten Augenschau sagt der Herr Professor Doktor Doktor Doktor profan „Ja, alles richtig, genauso, wie es der deutsche Kollege bereits diagnostiziert hat. Sie haben eine gute Chance, im Alter blind zu werden. Die Medikamente stimmen auch, sonst kann in Ihrem speziellen Fall wenig machen, Operation gibt’s da auch noch keine. Und warum genau sind sie zu mir gekommen?“ Na toll, Kleinwagen futsch, und das für nichts und wieder nichts. But at least I tried. Reichlich desillusioniert über imperiales Koryphäentum verlasse ich das Hospital, die bewaffneten, bulligen, schwarzen Sicherheitsmänner grüßen mich freundlich beim Vorbeigehen, auf der Straße will ich mir ein Yellow Cab herbei winken, wie in NYC so üblich. Denkste Puppe, hier oben in Nord-Manhattan kein Taxi weit und breit. Irgendwann gehe ich zurück zur Rezeption, das habe er mir gleich sagen können, dass es hier keine Taxis auf den Straße gebe, aber er werde mir gerne eines rufen. Dann beginnt eine Odyssee am Telephonhörer zwischen besetzt, Anrufbeantworter, nicht drangehen und Absagen („Sorry, gerade keine freien Wagen.“, „Da oben fahren wir nicht.“ „So in einer Stunde … vielleicht.“) Irgendwann platzt dem bewaffneten, bulligen, schwarzen Sicherheitsmann – er heißt Samuel, ist Irak-Krieg-Veteran und fährt jeden Tag eineinhalb Stunden zu dem Job hier und eineinhalb Stunden zurück, denn bezahlbare Wohnungen in Manhattan oder drüben in New Jersey seien eine Illusion, daher wohnt er in Danbury in Connecticut, soviel hat er zwischenzeitlich in der telephonischen Warteschlange nebenbei erzählt – der Kragen, er greift zu seiner privaten Funke, sucht eine Nummer, wählt und brüllt nach sehr kurzer Zeit in besagte Funke, irgendjemand möge sofort seinen fetten portorikanischen Arsch hierher bewegen oder zumindest umgehend einen Wagen schicken, sonst brauche er sich in Nord-Manhattan und beim Presbyterian gar nicht mehr sehen zu lassen. „Cab will be here in less then ten minutes.“ sagt Samuel sichtlich befriedigt, atmet tief durch und beruhigt sich langsam wieder. Er erklärt mir, er habe gerade die private Mobilnummer des portorikanischen Besitzers eines Taxiunternehmens angerufen und ihm sanft erklärt, dass er sich jedwede Aufträge vom hiesigen Hospital fürderhin abschminken könne, wenn er nicht sofort einen Wagen schicke. Kurze Zeit später sitze ich bei einem sehr reservierten – man könnte auch sagen, sichtlich angepissten – Hispanier, ich vermute einfach mal, Puerto Ricaner im Wagen und wir fahren zurück nach Midtown. Ich treffe Caro in der Dachbar des Archers (erwähnte ich bereits, dass die wirklich nett ist?), plaudern bei recht guten Martinis, blicken auf’s Empire State Building vis-à-vis, das sich gerade auf sein nächtliches Farbenspiel einzustimmen scheint.
Wir beide haben nach dem Tag weder richtigen Appetit noch richtigen Hunger, Caro hat irgendwelche furchtbar wichtigen Leute getroffen, doch spätestens ab den Honorarverhandlungen nahm das Gespräch nicht den Lauf, den sie gerne gehabt hätte, daran konnte dann auch ein gemeinsamer Business-Lunch nichts mehr ändern, so wird wohl nichts aus diesem Mandat, und entsprechend ist ihre Laune, und bei mir sowieso, nach der Diagnose … Irgendwas essen sollte man aber, zumal bei dem Alkoholkonsum. Also gehen wir um die Ecke in einen Asia-Laden, der uns schon mehrfach aufgefallen ist, aufgefallen nicht etwa wegen einer tollen Fassade oder schreierischer Werbung oder Empfehlungen korrupter Concierges, sondern aufgefallen wegen Reihen von Wartenden vor der Tür, Restaurant-Gäste zum Ersten, Selbst-Abholer von telephonisch vorbestelltem Futter zum Zweiten und schließlich Fahrrad- und Moped-Boten, die bestelltes Essen abholen und ausliefern wollen zum Dritten. Ein Restaurant – auch wenn es von außen mehr als unscheinbar und klein ist –, das derart belagert wird, sollte ja nicht wirklich schlecht sein. Wir haben Glück, an diesem Abend stehen nur ein paar Selbst-Abholer wartend in dem kleinen Vorraum, wir kommen ohne zu warten rein und sogar auch gleich einen Platz. Der Laden ist … nunja, wegen des Interieurs stehen die Leute hier gewiss nicht Schlange; Steinfußboden, Wände halbhoch mit Holzimitat vertäfelt, Decke aus Styroporplatten mit großen Lüftungs-Gittern, dazu Ventilatoren, einfache, aber stabile Holzmöbel, vielleicht 15 blanke Vierer-Tische, die Tischplatten mit geätzten Asia-Motiven versehen, wenig Asia-Zierrat an den Wänden, billigstes Geschirr (aber immerhin kein Plastik), alles ist irgendwie fettig-speckig-klebrig, die Speisekarten, die Tischoberflächen, der Boden, aber die Luft ist erträglich, da habe ich schon schlimmeres in NYC gerochen, hinten Durchreiche zur unsichtbaren Küche, rechts ein Schanktresen, an dem auch die bestellten Speisen ausgegeben und abgerechnet werden, dahinter vier asiatische Weibspersonen, Flintenweiber wäre in einer anderen, politisch nicht ganz so korrekten Zeit vielleicht der passende Ausdruck gewesen, bar jeglichen äußeren Liebreizes, aber voller geschäftlichem Elan und Aktivität, ich würde sagen 20, 40, 50 und 70 Jahre, Oma mit zwei Töchtern und einer Enkelin, die scheinen den Laden hier zu schmeißen, das Geld zu kassieren, anderen Anweisungen zu geben, aber auch selber tatkräftig mit anzupacken. Sagen wir mal so, wenn sich einer meiner Söhne bei einer dieser Damen mit Heiratsgedanken trüge, so wäre mein Herz wahrscheinlich schwer; hätte ich aber ein Lokal zu verpachten und diese vier Damen bewürben sich darum, so würde weniger mein Herz, als vielmehr meine Brieftasche jubeln. Die Bedienung ist sowohl flott als auch effizient, alles scheint hier schnell gehen zu müssen, um die Tische optimal auszulasten, es ist weder Zeit zum Verweilen noch für Smalltalk noch für ausführliches Kartenstudium und langwierige Entscheidungen; dafür sind die Wartezeiten auf die Bedienungen und das Essen ebenfalls minimal. In Manhattan ist es wahrscheinlich wirtschaftlich wesentlich sinnvoller, eine weitere Servicekraft einzustellen und zu bezahlen, um rasch und lückenlos bedienen zu können, als Gäste warten und dabei ohne Umsatz einen Platz besetzen zu lassen. Die Speisekarte des Main Noodle House ist eine Tour de Force nicht nur durch die Chinesischen Küchen (die ja angesichts der schieren Größe des Reiches mit unterschiedlichsten Regionen und großen Traditionen bereits extrem vielfältig sind), sondern gleich durch halb Asien mit Gerichten Hong Kong Style, Teriyaki, 10 verschiedenen Nudelsuppen, eigentlich eher japanische Ramen mit einer Auswahl von 6 verschiedenen Nudelarten, Currys, Thai-Gerichte, Peking Ente ohne Vorbestellung, Hummer auf jedwede gewünschte Art, … und so weiter und so fort, gut 250 verschiedene Gerichte habe ich überschlägig auf der Speisekarte gezählt. Das ganze Küchengesülze, mit dem zwischenzeitlich Europäische Speisekarten mehr und mehr gespickt sind – bio, selbstgemacht, hausgemacht, regional, natürlich, Manufaktur, nose-to-tail, öko, artgerecht, zertifiziert, dry aged, wet aged, Vollkorn, … you name it, man kennt es (und glaubt es in den seltensten Fällen) – fehlt hier vollkommen. Hier gibt es chicken. Ob dieses chicken ein glückliches Leben auf einem Öko-Hof in Kentucky verbrachte, bevor ihm der Hals umgedreht wurde, oder ob es in einer Zucht- und Legebatterie auf einer Fläche kleiner als ein DIN A 4 Blatt gehalten, mit Kraftfutter, Hormonen und Antibiotika bei Kunstlicht in Rekordzeit gemästet, maschinell getötet, gerupft, zerlegt, mit Chlor und Salzlösung aufgespritzt, verpackt, tiefgefroren, mit fragwürdiger Kühlkette verschickt, gelagert, verkauft wurde, das interessiert hier niemanden. Chicken ist chicken. Bei der Menge an Gerichten kann eigentlich kaum etwas wirklich frisch und selbst zubereitet werden. Und bei den Preisen – Hauptgerichte zwischen 10 und 20 Dollar – ist es auch mehr als unwahrscheinlich, dass hier sanft zu Tode gekitzeltes glückliches Öko-Huhn serviert wird. Die Leute an den Nachbartischen spachteln, als gäbe es kein Morgen, die Gerichte sehen recht ordentlich aus, und es riecht gut nach leckerem Essen. Also Augen zu und durch. Die Süß-Saure Suppe ist ordentlich; der gebratene Reis mit Huhn ist fettig, groß portioniert, die Tiefkühlerbsen stören, ansonsten ordentlich; das Teriyaki-Rindfleisch ist zart, viel, etwas sehnig, wohlschmecken, der Chinakohl dazu frisch blanchiert, alles zusammen ordentlich; eigentlich hatten wir eine viertel gegrillt Ente bestellt, auf dem Teller kommt eher eine Halbe, das Fleisch ist trocken, aber wohlschmeckend und zart, die Haut nicht (wie sonst so oft) tot frittiert, sondern wirklich frisch gegrillt (keine Ahnung, die wie das so schnell hinkriegen … vielleicht will ich / will man das auch gar nicht wissen), den Chinakohl kennen wir schon vom Rindfleisch, das Sößchen ist richtig lecker, der Bratreis dazu gut, alles zusammen nicht ordentlich, sondern sehr ordentlich; die gebratenen Nudeln Singapore Style sind dünn, reichlich portioniert, mit Biss, gut gewürzt, die Shrimps belanglose Tiefkühlware, das Gemüse nicht knackig, die Huhn-Streifen ok, alles zusammen nicht so ordentlich; die pfannengerührten Nudeln schließlich dick und wabbelig in einer sehr guten Sauce, diesmal wieder knackiges Gemüse und zartes Fleisch, in Summe ordentlich; das chinesische Tsingtao Bier ist eiskalt und für US$ 4,25 für die 0,3 l Flasche nicht wirklich wohlfeil, geht aber ordentlich runter. Fassen wir zusammen: Caro und ich waren lust- und appetitlos kurz über die Straße gegangen, um bei dem kleinen Chinesen an der Ecke, der uns weder sonderlich gefiel noch ein sonderlich reizvolles Angebot hatte, sondern nur aufgrund der zeitweisen Schlangen von Wartenden aufgefallen war, kurz eine Kleinigkeit zu essen, um danach in Ruhe weiter Alkoholmissbrauch betreiben zu können, stattdessen haben wir gemeinsam sechs großzügig portionierte Gerichte ratzefatz komplett zusammen weggeputzt. Was ist passiert? Wahrscheinlich waren es die bösen Asiaten, die mit ihrem ungleich böseren Glutamat einen Fressflash bei uns ausgelöst haben oder so. Keines der Gerichte war verfeinert, exzeptionell, hervorragend, weder von den Zutaten, noch von der Zubereitung, noch von der Würzung, noch von der Präsentation, das war einfache, schnelle, asiatische Massenküche, immerhin alles wirklich frisch zubereitet. Vielleicht ist das ja eines der großen Küchengeheimnisse Asiens, warum es uns bei den Straßenständen in Shanghai und den Imbissbuden in Bombay vor Ort so trefflich schmeckt: das ist Ruck-Zuck-Küche aus dem, was da ist, zubereitet nach Altvätersitte von gekonnter Hand … nicht mehr, vor allem aber auch nicht weniger. Das Essen hat nun wesentlich länger gedauert als geplant, als wir zurück in’s Archers kommen, leert sich die Dachbar schon langsam, es wird kühler und wir finden problemlos einen Platz.
Main Noodle House
1011 6th Ave (between 37th St. and 38th St.)
New York, NY 10018
USA
Tel.: +1 (2 12) 8 69 08 88
Fax: +1 (2 12) 8 69 11 30
Online: www.mainnoodlehouse.com
Hauptgerichte von US$ 7,50 (Hühnchenspieße) bis US$ 21,95 (Teriyaki Lachs), Drei-Gänge-Menue von US$ 14,25 bis US$ 38,55