Nördlich vom Bieler und vom Neuchâteler See, da liegen Belfort und Besançon, die alten französischen Festungsstädte, hatten die Schweizer Freude gefrozzelt, wohl wissend, dass dazwischen noch der Schweizer Jura liegt, ein ursprüngliches, weithin touristisch und auch wirtschaftlich unerschlossenes Mittelgebirge (das immerhin bis auf 1.600 Meter hoch geht) an der Grenze zu Frankreich, landschaftlich wunderschön, und doch verschlägt es kaum einen Zürcher je dorthin. Und genau dort will ich nun, nachdem ich am Freitagabend bis spät in Zürich gearbeitet habe, hernach in der neuen Widder-Bar trefflich abgestürzt bin (s.d.) und am Montagmorgen früh schon wieder zu den nächsten Meetings in Lausanne erwartet werde, für das Wochenende hin, zwei Tage Ruhe vom Großstadttrubel. Auf Google Maps habe ich mir den Doubs als Ziel ausgesucht, der Grenzfluss, Flüsschen wäre die treffendere Diktion, zwischen der Schweiz und Frankreich, einfach so, weil er so abgelegen liegt, in einem tiefen Tal zwischen zwei Hochplateaus links und rechts, oft ohne Uferstraßen, sich verweigernd, geheim gebend, und doch hier und da ein kleines Gasthaus direkt am Wasser, nicht etwa Hotel, nein, Landgasthaus, nicht mehr und auch nicht weniger.
Von Zürich fahre ich am frühen Morgen im Nebel nach Norden, zur Habsburg im Kanton Aarau, nur um den eroberten und verwaisten Stammsitz der Habsburger mal gesehen zu haben, aber gänzlich unspektakulär, als Habsburger wäre ich auch lieber nach Wien gegangen, außerdem ist der Wein dort besser (s.d.). Von dort folge ich stur nach Kompass immer in Richtung Westen, touchiere dann und wann die französische Grenze, korrigiere die Route leicht nach Süden und lande tatsächlich im Parc naturel régional du Doubs. Hügel, Wälder, Weiden, Kühe, unglaublich viele Rindviecher, damit könnte man sämtliche Parlamente der Welt bestücken und es wären immer noch mehr als genug für den Jura übrig. Hier kommt also die Milch für Käse und Schokolade her, lecker. Allein stehende, stattliche Bauerngehöfte, kleine Dörfer, ein paar unaufgeregte, bescheide Städtchen, ein Bahnlinie, Chemin de fer du Jura, die sich, gelegentlich von einem Bummelzug befahren, von Ost nach West durch die Hügellandschaft schlängelt, große Pferdeherden, ein paar kleine Seen, sehr schön und wildromantisch der Étang de la Gruère, alle Grüntöne vom dunklen Fichtengrün bis hin zum zarten Grasgrün mischen sich mit der bunten herbstlichen Farbenpracht der Bäume.
Zum Doubs gelangt man tatsächlich nur an einigen Stellen, nachdem man auf engen kurvigen Sträßchen Steilhänge hinabgefahren ist, das Flüsschen selber eher träge, kein wilder Gebirgsfluss, aber ungestaut, naturbelassen, hier und dort verbreitert, langsam fließend, nicht schiffbar, aber zuweilen sieht man Ruderboote. Das Flussufer ist alles andere als zugebaut, kaum ein Haus gibt es hier, und wenn, dann oft verfallen oder zumindest heruntergekommen. Auch die wenigen Gasthäuser sind eher schlichterer Natur, die auf der französischen Seite sehen zuweilen einladender aus, aber da will ich ja nicht hin, ich will in den Schweizer Jura. Dennoch, die paar Gasthöfe, die ich finde, sind entweder ausgebucht, schon in der Winterpause oder ganz geschlossen.
Also wieder die Serpentinen auf die Hochebene des Jura hinauf. Mehr der Not denn dem eignen Triebe gehorchend, vielleicht auch als alter Verbundenheit, beziehungsweise weil es das einzige Etablissement ist, das ich hier im weiten Umkreis kenne, fahre ich bei Georges und Andrea Wenger vorbei, aber ich habe jetzt weder Lust, für einen Vorspeisensalat 68 CHF zu zahlen noch 450 CHF für eine Übernachtung in einem nicht unbedingt stilsicher eingerichteten Zimmer in einem verwinkelten, zu groß geratenen Mehrfamilien-Wohnhaus aus der vorletzten Jahrhundertwende direkt am Bahnhof eines kleines Städtchens. Missmutig wende ich mich von der Speisekarte ab, die Sonne neigt sich bereits bedenklich, als ich eine Einheimische anspreche, ob sie denn nicht ein einfaches, aber gutes Gasthaus hier in der Gegend kennen würde. Die Wegners, so antwortet mir die ältere Dame in einem ganz eigentümlichen Idiom mit Einschlägen ins Französische und ins Schweizer-Deutsch, hätten doch ein Rad ab (drückt sie tatsächlich so aus), da ginge keiner „von uns“ (sie meint wohl sich und die anderen Einheimischen hier) hin, sondern nur die „Leute aus der Stadt, die am Wochenende die Berge hochkommen“; die Nummernschilder der Autos auf dem Hotelparkplatz geben der Dame eindeutig recht. Ich solle es doch mal bei Gabriela Haas im Hôtel de la Chaux-d’Abel versuchen, 10 Minuten die 18 nach Südwesten in Richtung La Chaux-de-Fonds fahren, kurz vor La Ferrière, direkt hinter der Grenze zwischen Bern und Jura links Richtung Les Breuleux abbiegen und nach zwei Minuten rechts den Feldweg zum Gasthof nehmen.
Nach 15 Minuten gemächlicher Fahrt vorbei an unendlich vielen Kühen und Pferden auf satten Weiden erreiche ich tatsächlich den kleinen Hügel, auf dem das Hôtel de la Chaux-d’Abel liegt, 1857 als herrschaftliches Guts- und Familienwohnhaus erbaut, später wurde es erweitert und umgebaut, zuerst als Kurhaus, jedoch ohne Erfolg, dann als sehr geräumiges Wochenendhaus, der Schokoladenfabrikanten Richard Sprüngli, der hier oben seiner Passion des Reitens nachging, war wohl der bekannteste Besitzer, seit den 40er Jahren fungiert es dann wieder zuerst als Pension, später als Hotel mit wechselnden Besitzern, aber offensichtlich ohne je seinen Charme und seine Identität zu verlieren: „Alles hier ist simpel und authentisch. Das ist unser Credo.“ fasste es 2009 die ehemalige Besitzerin Agnès Frochaux. zusammen. 2012 kaufte Gabriela Haas das Anwesen und führt die Tradition des Hauses erfolgreich mit ihrem meist weiblichen Team erfolgreich und stilvoll weiter.
Das Lauteste hier sind die Kuhglocken, vor dem Haus eine große, sonnige Terrasse, davor eine Art Garten – Park wäre zu viel gesagt – mit Rasen, Büschen, schattigen Bäumen, einer Boule-Bahn, Liegestühlen, einigen Tischen, versteckten Sitzecken, an den Rändern barrierefrei in die umliegende Natur übergehend, eigener Kräuter- und Gemüsegarten am Haus, aus dem auch gekocht wird (frittierte Federkohlblätter – ein Verwandter des Grünkohls, wie ich aufgeklärt werde, nur feiner – zu einer formidablen Quiche). Die 21 Zimmer haben keine Zimmernummern, sondern Namen, „Le Petit Prince“, „Les poètes“ oder „Les fleurs“ etwa, nur vier der Zimmer verfügen über ein eigenes Bad, seit gefühlten 200 Jahren hatte ich kein Hotelzimmer mit Bad über’n Flur mehr, aber auch das geht, einige Zimmer sind aufwändiger renoviert und möbliert, andere gleichen eher einer Klosterzelle, Betten eher durchgelegen, Möbel zuweilen hart zwischen historisch und Sperrmüll, weder Radio noch Fernsehen auf den Zimmern, ein unglaublich langsames WLAN, das mal zaghaft da, meistens aber weg ist , kein Aufzug, kein Fitnessraum, kein Schwimmbad, kein SPA (und das ist gut so), aber ein reichlich ausgestattetes Spielzimmer für Kinder gibt es, knarzende Dielen, Intarsien-Parkett, das irgendwann einmal wohl sehr wertvoll war, ein Salon mit prasselndem Kaminfeuer wie aus einem Dostojewski-Roman mit einer Runde Karten spielender alter Damen beim Absinth, offene Küche, man hat hier nichts zu verbergen, ok, der freundliche Hofhund ist dann und wann in der Küche, das würde die guten Leute wahrscheinlich die Lizenz kosten, but who cares.
Als Hausgast nimmt man vor dem Dinner, zu dem man zwischen 19:00 und 20:00 Uhr zu erscheinen hat, einen sundowner auf der Terrasse in der letzten Abendsonne, oder man liest bei einem Drink im Salon ein Buch und schaut den alten Damen beim Karten spielen zu. À la carte-Restaurant für Nicht-Hausgäste gibt es sowieso keines, alles ist familiär, keinerlei Laufpublikum, man grüßt und – nach kurzer Zeit – man kennt sich als Hausgast, des Abends gibt es für Hausgäste gemeinsam ein grobschlächtiges, bodenständiges einheitliches dreigängiges Menue + Käse, in dem ebenfalls heimeligen Speiseraum, auf den Tischen kleine, einfache, gefällig-unaufdringliche Arrangements aus Wiesenblumen, keine Karte, keine Auswahl, take it or leave it, Allergien und Unverträglichkeiten können direkt mit Frau Haas, die zugleich Küchenchefin ist, ausgehandelt werden, sie findet dann eine individuelle Lösung. Nach besagter Quiche gibt es drei mächtige Scheiben eines mürben Rinderbratens mit einer dicken, fast schon breiigen Sauce, gebunden wohl mit dem passierten Schmorgemüse, aber dazu frischen, fluffigen, sahnig-buttrigen Kartoffelbrei (der gewiss nicht aus der Convenience-Tüte kommt) und zum einen frisches Rote-Bete-Gemüse, zum zweiten frisches, unglaublich schmackhaftes Mangold-Gemüse, beides frisch aus besagtem eigenen Garten und als Nachtisch eine Tarte Tatin, die sich selbst in Paris nicht verstecken müsste. Das Frühstück ist nicht opulent-europäisch, aber der Kaffee ist gut, das Brot frisch, Käse und Butter exzellent, Joghurt, Konfitüren und Honig selbst gemacht, die köstlichen Renekloden kommen direkt vom eigenen Baum im Garten, da stört es nicht, dass es weder Schinken, Wurst noch Eier zum Frühstück gibt.
Zu alle dem sind die Menschen hier herzlich, ehrlich herzlich. Das sind keine dressierten Hotel-Maschinen, die ihr gelerntes und vorgeschriebenes Programm abspulen, das hier sind echt herzliche Menschen, längst nicht perfekt in Service, Kochkunst, Abläufen, Getränkekunde usw., aber echt und ehrlich, und genau das macht das Hôtel de la Chaux-d’Abel so unglaublich liebenswert. Hier werde ich bestimmt mal wieder zum Entschleunigen hinfahren.
Hôtel de la Chaux-d’Abel
Gabriela Haas
La Chaux-d’Abel 88
CH – 2333 La Ferrière
Tel. +41 (32) 9 61 11 52
Fax +41 (32) 8 53 43 44
Mobile +41 (78) 7 88 00 25
Mail: infos@hotellachauxdabel.ch
Online: www.hotellachauxdabel.ch
Doppelzimmer mit Frühstück 120 bis 160 CHF (pro Zimmer), Halbpension 37 CHF (pro Person)