Tag 4: Celle – Hamburg, 130 Kilometer, 2,5 Stunden Fahrtzeit, Übernachtung im Atlantic Kempinski, Mittagsimbiss in Gretchens Villa, Abendessen im Opitz
Einmal in Hamburg muss Caro natürlich shoppen gehen, nicht irgendwie H&M oder Hermès oder von mir aus auch Ethel Vaughn oder Tanja Glissmann, nein, sie hat ein paar ganz spezielle Vintage Shops auf ihrer Liste, die es so nur in Hamburg gebe, und wo sie jetzt unbedingt hin muss, um verwaschene Levis Jeansjacken und alte Adidas Turnschuhe aus den 70ern und 80ern gebraucht für ein Heidengeld zu erstehen. Die Läden liegen irgendwo furchtbar angesagt zwischen Karolinenviertel und Reeperbahn, und vorher muss sie einen kleinen Nachmittagssnack bei Stefanie Herbst in Gretchens Villa an der Marktstraße nehmen, es gibt kaum eine ausgebildete Verlagskauffrau, die in den letzten zehn Jahren von Frauenzeitschrift zu Frauenzeitschrift so oft als kulinarische Miniatur-Ikone, Parade-Selbstverwirklicherin, toughe Geschäftsfrau und gute Menschin weitergereicht und publizistisch durchgenudelt wurde. Wenn man hinter der Hamburger Messe in die Marktstraße geht, wähnt man sich plötzlich in einer gänzlich anderen Welt, das geschäftige Treiben der Hansestadt entschleunigt sich unvermittelt. Die Straßen werden eng, die Trottoires bleiben zum Teil großzügig, alte Wohnhäuser, kleine Balkone liebevoll mit Blumen, Sonnenschirmen und Stühlchen gestaltet, unerreichbare, verwunschene Hinterhöfe, winzige Geschäfte und Boutiquen, nicht der übliche, überteuerte, industrielle Glaskugel-Postkarten-Regionalia-Kitsch für blödes Massentouristen-Melkvolk, sondern Modedesigner, Musikalienhändler, Einrichtungsläden, Plattengeschäfte, noch mit richtigem Vinyl, Weinhandlungen, kleine Kneipen und alternative Friseure, die Graffitis an den Wänden hier zeugen nicht nur von Zerstörungswut, unbändigem Hass auf das System, das die Farben letztendlich bezahlt und grenzenloser Blödheit, sondern zuweilen sind sogar Ansätze von unbeholfenem Gestaltungswillen zu erkennen, dazu Dreck in allen Ecken, wo die Stadtreinigung nicht hinkommt, junge wohlhabende Menschen neben Junkies und lärmenden heimatlosen Kindern, eine Stadtstreicherin sitzt neben ihrem Erbrochenen auf dem Gehsteig an eine Hauswand gelehnt, keine 30 Meter weiter schlürfen junge Damen in zeitgeistpassgerechten Kleidchen ihren Cappu, wenn Mann hier fünfzig ist, trägt man keine Krawatte und fährt Mercedes, die fünfzigjährigen Männer hier tragen Zopf und fahren Fahrrad, es scheint eine eigene Welt zu sein. Caro nimmt rasch ihre Cartier-Uhr ab und verstaut sie in der Innentasche ihrer Jacke, aber auch ohne Cartier-Uhr erkennt jeder der Einheimischen, dass sie hier nun wahrlich nicht hergehört, aber man lässt sie passieren, zumindest tagsüber, man ist ja tolerant und weltoffen hier.
Einer dieser kleinen Läden im Karolinenviertel ist dann Gretchens Villa, ein kleines, heimeliges Café, gleich nebenan gibt es Gretchens Zuckerbude, eine kleine heimelige Backstube. Türkis-Töne ziehen sich als CD quer durch das ganze Café, vor dem Haus ein paar Tische auf dem Bürgersteig, innendrin eine türkise Tapete mit Goldornamenten, die außerhalb französischer Loire-Schlösser dazu angetan ist, Augenkrebs auszulösen, kein Dutzend blanke Holztische mit weiß lackierten Beinen, weiße einfache Holzstühle, türkis bezogene Sitzbänke an den Wänden, alte oder auf alte gemachte Kronleuchter an der Decke und Lüster an den Wänden, eine schöne alte blubbernde Vibiemme Siebträgermaschine, wenig Dekokitsch, große beleuchtete Kuchentheke mit offenbar / angeblich selbst gebackenen Köstlichkeiten, alles sieht irgendwie improvisiert-historisch gewachsen aus, und doch ist das alles durchgestylt bis auf den letzten Handkantenschlag ins türkisfarbene Kissen, es ist heimelig hier, es riecht förmlich nach Biedermeier, nach Spießigkeit, der Sehnsucht nach Harmonie und Sorgenfreiheit, heiler Welt, die Unbill draußen lassen und verdrängen, Engstirnigkeit und Borniertheit, Ludwig Pfau kommt mir unvermittelt in den Sinn „Schau, dort spaziert Herr Biedermeier / und seine Frau, den Sohn am Arm; / sein Tritt ist sachte wie auf Eier, / sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm.“ So sind auch hier die Leute, Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder, in anderen Gewändern und doch immer und immer gleich. Und ein jeder dort wird mich einen Hundsfott heißen, dass ich dererlei zu schreiben wage. Es geht familiär-urban-gediegen zu in Gretchens Villa, das Publikum ist zu vielleicht zwei Dritteln weiblich und unter vierzig, am Hungertuch nagen tut hier niemand. Obwohl die Besitzerin doch Stefanie heißt, spielt die Speisekarte intensiv mit dem Namen der Kindsmörderin: „Gretchens Schlemmer Frühstück“ oder „Gretchen isst vegan“, „Zickiges Gretchen“, „Mauliges Gretchen“, „Gretchen backt so gerne!“, „Gretchen braucht Koffein!“, sogar „Gretchens hart gekochtes Bio-Ei“ gibt es. Die diversen Frühstücke klingen ganz gut, sonst gibt es allerlei Kuchen und herzhafte Kleinigkeiten, belegte Fladenbrote, Salate, gegrillte Foccacias, täglich wechselnde Nudeln, Currys, das ist sehr übersichtlich. Die leicht gegrillte Foccacia mit Ziegenkäse, Tomaten, Rauke und Feigensenf ist sättigend, der Ziegenkäse reichlich und fett und säuerlich, Tomaten und Rauke spärlich, Feigensenf vergessen oder geschmacklich untergegangen; das leicht gegrillt Fladenbrot mit Avocadomus ebenfalls sättigend und ok. Die frisch gemachte Waffel als Nachtisch zuerst von der Bedienung vergessen, dann hart und penetrant nach Vanillin schmeckend, das Eis industrielle Massenware, der Rüblikuchen gewiss kein Ruhmesblatt eines jeden Backenden. Mich erinnert das Ganze ein wenig an schnelle, gut gemeinte, unbedarfte, zum Sparen gezwungene, sich trotzig von Mutters Küche daheim absetzende WG-Küche. Aber man sitzt nett, kann dem Treiben auf der Straße zuschauen, sich an den positiven mentalen Schwingungen der Anwesenden delektieren und sich als guter Mensch fühlen, nur irgendwer sollte der Stadtstreicherin, die drüben neben ihrem Erbrochenen auf dem Gehsteig an die Hauswand gelehnt sitzt, mal helfen, sowas stört doch das ganze Tableau.
Missmutig überlasse ich sodann Caro ihrem Kaufrausch und schlendere die Reeperbahn zurück Richtung Hotel. Was früher verrucht bis ins Mark war – ich kannte noch das Salambo in den Räumen des ehemaligen Star-Clubs, Jessas-Maria! – ist heute verkommen zu einer beliebigen Feiermeile, wo früher Seeleute aus aller Welt ihre Heuer für unsagbare Entladungen ihrer angestaute Notdurft ausgaben, begehen heute Automechaniker mit Bausparvertrag und Gluten-Unverträglichkeit aus Wanne-Eickel einen schlüpfrigen, maßvollen Herrenausflug, wo früher ein paar Luden ihre dreckigen Geschäfte machten, prügeln heute Gangs aus Weißdergeierwoher (man darf ja nicht schreiben, woher, das wäre ja rassistisch) verschleppte junge Mädel in die Zwangsprostitution, verdienen aber ungleich mehr Geld mit legalen Abzockkneipen und illegalen Drogen, was früher in schmuddeligen Sexshops hinter dick verhangenen Türen verkauft wurde, wird heute frank und frei in der Fernsehwerbung im Vorabend-Programm angeboten, und was früher in versifften Kinos auf der Leinwand gezeigt wurde, gibt’s heute for free und ungleich härter im Internet, und ein Olivia Jones ist eben kein René Durand, und ein Gottlieb Wendehals kein Hans Albers, man könnte von einer Ballermannisierung der Reeperbahn sprechen. Der Drink im zur provisorischen Bar umfunktionierten Alstersalon in der Atlantic-Baustelle bessert meine Laune auch nicht.
Gretchens Villa
Steinbach & Steinbach GbR
Vertretungsberechtigte Gesellschafter: Linh Chi Steinbach, Jannis Steinbach
Marktstraße 142
D-20357 Hamburg
Tel: +49 (40) 76 97 24 34
Mail: info@gretchens-villa.de
Online: http://www.gretchens-villa.de/
Frühstück 3,10 € bis 12,90 €, kleine Gerichte 3,90 € bis 9,80 €