„Preisliste 2013 für hausfremde Gäste“ hängt im Januar 2016 vor dem Eingang zum SPA-Bereich, und – ungleich besser – „Vor Verlassen des Zimmers Radio und Licht ausschalten“ steht auf einem verblichenen Klebeschild auf der Innenseite der Hotelzimmertür. Das sagt eigentlich schon alles über das Arcadia Sonnenhof in Grafenau aus: 2013 ist seit drei Jahren vorbei und Radios gibt’s in der Flachbildschirmzeit seit zig Jahren nicht mehr separat auf Hotelzimmern, auch nicht im Sonnenhof. Nicht, dass hier die Zeit stehen geblieben wäre, nein, man sieht ihre unbarmherzigen Spuren überall, stehen geblieben sind einzig und allein die Investitionen.
Als das Hamburger Hotel-Tycoon-chen Reinhard Baumhögger im Sommer 2014 das heruntergekommene, ehemalige Vorzeige-Steigenberger seiner Arcadia-Gruppe einverleibte, wurde viel von „Investitionen“, „Anknüpfen an alte Steigenberger-Zeiten“ und „neuem Glanz“ gesprochen, geschehen ist offensichtlich nichts. Die graue Fassade des Siebziger-Jahre-Beton-Kastens ist verwittert, die hölzernen Balkongeländer verrottet, der Beton bröckelig. Zu den Zimmern führen endlose, schmucklose, düstre Gänge, die Möbel auf den Zimmern sind anno tobac (aber Massivholz und unkaputtbar, früher mal sicher hochwertig), die Bäder mit ihren rosa Kacheln und Duschvorhängen in der Badewanne längst nicht mehr zeitgemäß, bei dem Versuch, ein Bad nehmen zu wollen, kamen erstmal 5 Minuten Wasser mit Rost und Metall aus dem Hahn (hier hat seeehr lange niemand mehr gebadet), abblätternde Farbe an den Wänden, abblätterndes Furnier an den Holztüren, Schimmel in den Fugen, durchgelegene Matratze, vier düstre 40-Watt-Funzeln für den ganzen Raum, keine freien Stecker für Funke, Laptop, iPod, Kamera (statt dessen muss man auf dem Boden rumkriechen, die Stecker der vier Funzeln hinter/unter Möbeln und Wollmäusen suchen, ausstecken und seine eigenen mobile devices zum Behufe der Aufladung einstecken), auf dem Balkon steht ein leerer Sixpack Bier, auch nach Reklamation bei der Rezeption steht er am nächsten Mittag noch immer da, Minibar vorhanden, aber leer, um an den Heizungsregler zu kommen, muss man die Heizungsverkleidung abreißen, Fenster zum Öffnen gibt es keines, entweder, man lässt die Balkontür komplett auf (und jeder kann über die durchgehenden Balkone in’s Zimmer), oder man macht sie zu, dann ist jegliche Frischluftzufuhr gekappt, das im Prospekt angepriesene „Free Wifi“ entpuppt sich als verträumte 500 K-Verbindung, die noch nicht mal nicht ausreicht, sich bei GMX einzuloggen, schnelles Internet kostet extra, Voucher gibt’s an der Rezeption, nur funktioniert es leider nicht („Error 404, Server down“), immerhin ein moderner Flachbildschirm (aber eben kein Radio!) auf dem Zimmer. Ganz entsprechend der SPA-Bereich mit Hallenbad und ein paar Saunen: hier wurde seit Jahren nichts mehr erneuert, es riecht eher muffig als nach Chlor, und kühl ist’s auch. Die beiden Restaurants sind riesig (obwohl bereits Teile abgetrennt sind), weitestgehend leer, ebenfalls mit unkaputtbaren Möbeln aus grauer Vorzeit bestückt und so gemütlich wie ne Leichenhalle. Früher einmal, als das Hotel ausgebucht war, mag in der Lobbybar und dem „Dicsco“-genannten fensterlosen Schlauch im Keller das pralle Leben getobt haben, heute erinnern beide mehr an eine verwaiste Gruft.
Bis hierher ist das lediglich ein altes, verlottertes, gerade so am Leben erhaltenes Hotel mit massivem Renovierungsstau. Wirklich schlimm wird es, wenn man vom Essen anfängt. Mario Gessner wurde Ende 2014 mit viel Tam-Tam als Chefkoch in’s Haus geholt, ein Jahr später war er schon wieder weg und Hans Peter Genosko zeichnet seitdem für die Untaten verantwortlich, die die Küche des Sonnenhofes in die großen, meist leeren Speisesäle verlassen. Die Speisekarte ist klein (was ja eigentlich gut ist), und mit Hauptgerichten zwischen 10 und 20 € moderat. Fangen wir an: Spanferkelsülze im Glas mit Meerrettich und Salatbouquet waren trockene Würfelchen toten geschmacklosen Schweinefleischs in absolut geschmackloser Gelatine in einem Einweckgläschen (wie originell!) mit einem Spritzer Sprühsahne mit Tubenmeerrettich versetzt, drum herum ein paar Salatblättchen und geschmacklose Treibhaus-Tomaten-Achtel, bespritzt mit dieser „Balsamico-Creme“ genannten braunen Industrie-Essig-Traubensaft-Zucker-Weiß-der-Geier-was-sonst-noch-Pampe. Die Schwammerlsuppe mit Majoran kam daher als total versalzene dicke Sahne-Mehl-Pampe mit Tiefkühl-Pilz-Teilen drinnen, von Majoran keine Spur. Das Wiener Schnitzel offenbar tatsächlich frisch geklopft (man hörte die Klopfgeräusche aus der Küche – oder jemand hat den Koch verhauen?), keine Spur von knuspriger, abgehobener Panade, die Rändern zu dunkel, die Panade in der Mitte nahezu ungebraten-pappig-weiß, mitten auf dem Schnitzel ein Riesenklecks zuckersüßer Industrie-Preiselbeermarmelade, der Beilagensalat wieder ein paar Salatblätter, darunter alles, was Sauerkonservendosen an eingelegten Bohnen, Möhren, Blumenkohl, Gurken … hergeben, das Ensemble gnädig verdeckt von einem Berg fetter Schmandsauce – – – aber, bleiben wir fair: die Petersilienkartoffeln dazu waren authentisch, gute gekochte Kartoffeln in Butter mit frisch gehackter Petersilie geschwenkt, das bekommt man auch in Wiener Beisln nicht besser. Lassen wir das Thema Hirschgulasch, oder nur so viel: die Dose oder der TK-Beutel ist wahrscheinlich fachgerecht geöffnet worden … Ein nämliches Trauerspiel die Convenience-Topfenknödel mit den blassen „Butterbröseln“ zum Dessert. Decken wir den Mantel des Schweigens darüber. Das Frühstück entspricht vollends dem Dinner: Berge billiger Wurst und billigen Käses, Kaffee in Warmhaltekannen (aber immerhin kein Blümchenkaffee), kein frisches Obst, billige Säfte, hartgekochte Eier und warmgehaltene Rührei-Pampe, à la minute Speisen natürlich Fehlanzeige; um auch hier wieder fair zu sein: gute Brötchen, Brezn und dunkles Brot, alles tatsächlich vom Bäcker und keine Wabbel-Backlinge, wie so oft. Bei dieser Küchenleistung schreibe ich als Küchenchef doch nicht noch meinen Namen auch noch in die Speisekarte, oder ist Hans Peter Genosko in irgendeiner Form eine Art Anagramm für Lucifer, und ich habe es nur noch nicht bemerkt?
Liest man die Gast-Kommentare auf den einschlägigen Reiseportalen zum Arcadia Sonnenhof Grafenau, so ist eine Polarisierung viel stärker als sonst. (Wann macht man sich die Mühe, eine Kritik zu schreiben? Wenn man begeistert, oder wenn man stocksauer ist, dazwischen fehlt die treibende Kraft für die Mühe, es sei denn, man hat – wie wahrscheinlich ich – eine Profilneurose oder einfach Freude am Schreiben.) „Hervorragend – jeder Zeit gerne wieder“ und „Grässlich – nie wieder“ geben sich hier ein trautes Stelldichein auf den Bewertungsportalen. Wie man „Putengulasch mit Früchten an Reis“ als super-leckeres Essen bezeichnen kann, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Und wie man bei einem Hotelzimmer mit Hallenbad für 41 € die Nacht mit Frühstück rummotzen kann, die Möbel seien abgewetzt, verstehe ich ebenfalls nicht. Man muss hier einfach wissen, wo man ist. Vielleicht wurde das Hotel ja mal gekauft in der Erwartung, dass Horden von Skifahrern im tief verschneiten Bayrischen Wald jeden Winter das Haus vier, vielleicht sogar fünf Monate zu fast jedem Preis komplett ausbuchen. Das mit dem „tief verschneit“ war nun ja die letzten Jahre nix, und wird wahrscheinlich auch die nächsten Jahre nix werden. Und nur mit Sommerfrischlern, Tagungsgästen und vereinzelten einheimischen kulinarischen Masochisten wird jede Investitions-Kalkulation wahrscheinlich eng. Da wäre ich als Hoteleigner auch zögerlich mit Investitionen. (Abgesehen von der Tatsache, dass dieser alte Schuppen wahrscheinlich unrenovierbar ist: klar kann man hier und da ein Wenig in Farbe investieren, aber Hotel funktioniert heute anders, und sieht vor allem anders aus, wahrscheinlich wäre abreißen und neu bauen die preiswertere Lösung.) Stattdessen sucht man sich im Arcadia Sonnenhof Grafenau andere Klientele, um zumindest vor weiteren Investitionen schon mal den Kaufpreis wieder reinzubekommen. Dazu zählen offensichtlich vorwiegend Rentner (als 50-Jähriger habe ich den Alters-Durchschnitt signifikant senken können) und italienische Organspender (vulgo: Motorradfahrer, die wirklich massiv vertreten waren). Mit diesem – wenig kritischen, wenig anspruchsvollen – Publikum wird das Haus gerade offensichtlich zu-Tode-amortisiert, man könnte auch sagen, ausgelutscht bis zum Letzten. Man muss wissen, worauf man sich hier einlässt: mit meiner neuen rattenscharfen Flamme würde ich wahrscheinlich nicht in’s Arcadia Sonnenhof Grafenau fahren, auch nicht mit meinen 10 besten Verkäufern als Incentive oder mit meinen Gesellschaftern für eine Gesellschafterversammlung (bei Letzteren: es sei denn, ich wollte radikalen Sparwillen demonstrieren) oder mit dem geliebten Teil meiner Familie für ein tolles Familientreffen. Aber mit meinen Kumpels für ein Wander-Sauf-Wochenende (sofern wir nicht im Arcadia essen müssen), wenn ich wenig Geld hätte und mit meinen Kids ein Fun-Wochenende mit Schwimmbad und Abhängen verbringen wollte, wenn mein Sohn einen Pfadfinder-Leiter-Workshop von mir organisiert und finanziert haben wollte, wenn ich auswärtige Facharbeiter für ein Projekt im Bayrischen Wald unterbringen müsste, da wäre das Arcadia Sonnenhof immer in der engeren Wahl. Ganz ehrlich: Für 40 oder 60 € pro Zimmer und Nacht mit Frühstück und SPA (beide mit allen beschriebenen Mängeln) ist das Arcadia Sonnenhof OK, und bei dem Preis ist es kleinkariert, sich über abgestoßene Möbel aufzuregen. Aber für 16.50 € darf ich ein anständiges Schnitzel erwarten, was die Küche da abliefert, ist jämmerlich. Ich wette, hier lutscht ein Investor eine Immobilie bis zum letzten aus, und er wird sie erst schließen (und als Ruine zurück lassen), bis die Betriebskosten den Cashflow übersteigen. Und ich wette weiter, sollte der Bayrische Wald nicht überraschender und unwahrscheinlicher Weise das letzte Schnee-sichere Gebiet Europas werden, so wird das Arcadia Sonnenhof Grafenau keinen Cent Renovierungs-Investment aus Hamburg zu sehen bekommen, es wird einfach zu Tode amortisiert werden.
Ein PS muss ich noch anfügen: das Personal. Während unserer beiden Aufenthalte war das Personal durch die Bank weg freundlich, kompetent, sehr jung, multi-lingual, zuvorkommend, sowohl an der Rezeption als auch im Service. Und dass die Rezeption einfach mal 10 Minuten nicht besetzt war, weil die einzige Rezeptionistin draußen war, um eine zu rauchen, lassen wir jetzt einfach mal unerwähnt …