Summa summarum: Bemüht zeitgeistiges Mittelklasse-Hotel von der Stange in bester Innenstadtlage, mit Vorauskasse, funktionalen, gewöhnungsbedürftigen Zimmern ohne Wohlfühlfaktor, einer wirklich netten, hippen Bar/Lounge/Terrasse auf dem Dach mit relativ kleiner Getränke- und Speise-Auswahl und mit chronisch duzendem Personal.
Und wieder eines mehr. Jüngst eröffnete das me and all hotel in Ulm. me and all hotels ist eine Marke der Lindner-Hotelgruppe, die ein paar Dutzend Drei- bis Fünf-Sterne Hotels in Europa betreibt, meist unter der Marke Lindner, seit 2016 nun auch sechs Häuser unter der Marke me and all hotels, zwei weitere sind in Bau. Die in Düsseldorf ansässige Lindner-Gruppe beschäftige 2019 1.149 Mitarbeiter, hatte komfortable 14,5 Millionen EURO Eigenkapital und machte bei 117 Millionen EURO Umsatz knapp 10 Millionen EURO Ergebnis, 8% Rendite, nicht schlecht in der Hotelbranche. Während für mich die Lindner Hotels für altbackene, charme- und individualitäts-lose, beliebige, funktionale Groß-Beherbergungsbetriebe stehen, sind die me and all hotels ganz anders, das sind für mich neubackene, charme- und individualitäts-lose, beliebige, funktionale Groß-Beherbergungsbetriebe. Wie bei all den anderen Fußpilz-gleich aus den Poren schießenden neuen Design- und Boutique-Hotelketten – motel one, friends, 25hours, URBAN LOFT, art’otel und wie sie alle heißen mögen – wird hier ein einmal entwickeltes Design- und Lifestyle-Konzept in unterschiedlichen Gebäudehüllen an unterschiedlichen Standorten skalierbar wieder- und wiederverwertet. Ursprünglich einmal waren Design- und Boutique-Hotels individuelle Solitäre, in denen ein Hotelier mit/aus Leidenschaft fehlendes Hallenbad, suboptimale Lage, ältere Bausubstanz usw. mit trefflicher Stilsicherheit, Herzlichkeit, durchaus auch mal minimalistischen Gestaltungsmitteln, aber immer mit ganz viel Herzblut zu kompensieren verstand. Heutige Design- und Boutique-Hotelketten sind einmal am Schreibtisch erdachte integrierte Beherbergungs-, Ausstattungs- und Lifestyle-Konzepte, die nach einer Erprobungsphase dutzend-, schock- und grosweise wieder und wieder reproduziert werden, Individualität und Herzblut würden hier nur stören.
Nun also das me and all hotel in Ulm, direkt vis-à-vis vom Hauptbahnhof, 2 Geh-Minuten in die Fußgängerzone, 8 zum Münster, 10 in’s Fischerviertel, 20 zum Congresszentrum, zentraler geht’s kaum. Das Hotel ist in einem vom Design her beliebigen modernen Gebäude untergebracht, da könnten auch Büros einer Firma oder eines Geheimdienstes drinnen sein. Der größte Teil der Fassade ist mit Metallstreben verkleidet, so dass im ganzen Haus immer irgendwie ein Gefängnis-Gefühl aufkommt, Gitter vor allen Fenstern. Vor dem Hoteleingang ein paar rustikale Blumenkästen auf dem Trottoire zur Begrüßung, die Rezeption im Erdgeschoss ist winzig, ein Counter, ein Sessel, ein Regal mit Hotel-Devotionalien, die man käuflich erwerben kann, drei Lifts, sonst nichts. Klar, das ist eine absolute 1A-Lage, da rechnen sich Shops im Erdgeschoss besser als eine große, repräsentative, vielleicht sogar noch gemütliche Hotelhalle. Der junge Mann hinter dem Counter ist freundlich und flott beim Einchecken … und der duzt mich ganz selbstverständlich, dabei ist mir gar nicht bewusst, dass wir schon Schweine zusammen gehütet hätten, das gesamte Personal im Hotel wird mich die nächsten Tage duzen, sei’s drum, ich bin in den Würgegriff des Zeitgeistes geraten. Beim Einchecken muss man die Rechnung vorab begleichen, und das ausschließlich mit Karte, Bargeld wird im ganzen Hotel nicht akzeptiert, selbst das kleine Wasser an der Bar muss mit Karte gezahlt werden, auch ein Buchen der Rechnung auf’s Zimmer ist nicht möglich. Hotels mit Vorauskasse, das sagt in der Regel viel über das Publikum aus, das in solchen Häusern verkehrt.
Zu den Zimmern in den oberen Stockwerken führen enge, fensterlose, verwinkelte, düstere, schmucklose Gänge, hier möchte ich keine Flucht-Panik mit drängenden, rennenden Menschen, z.B. bei einem Brand miterleben. Das Zimmer selber dann ist … klein. Nur das WC ist separat hinter einer Türe, Waschbecken und Dusche direkt im Zimmer, bei schamhaftem Bedarf abtrennbar mit einem Plastikvorhang, das erinnert nicht an Design, sondern an altbackenes Interieur eines billigen Pensionszimmers in den sechziger und siebziger Jahren; dazu passen auch die an der Decke hängenden Plastikpflanzen (die dringend mal abgestaubt gehörten). Es gibt keinen Kleiderschrank, nur eine Garderobe, aber einen ziemlich großen Flachbildfernseher samt imposanter separater Lautsprecherbox, ein großes, recht gutes Bett mit mäßiger Leinenbettwäsche, dazu nicht sonderlich ordentlich gemacht, einen Kasten mit einer dieser verfluchten Kapsel-Kaffeemaschinen darauf, darinnen ein winzigen Tresor, in den noch nicht einmal ein Laptop passt, eine Minibar mit einer Flasche Bier und ein paar Softdrinks – kostenlos im Zimmerpreis enthalten –, ganz viele Steckdosen und USB-Anschlüsse, sehr gutes, kostenloses Internet … und sonst nix, für mehr wäre auch klein Platz, keinen Sessel, keinen Stuhl und vor allem keinen Tisch oder Schreibtisch, arbeiten könnte man in diesem Zimmer nicht. Es ist zumindest sauber, bis auf die Fenster, die strotzen vor Dreck, davor besagte Metallstreben, Blick auf einen Pennertreff und das Bürohaus gegenüber. Mehr gibt es zu dem Zimmer eigentlich nicht zu sagen. Das also ist (ich zitiere die Hotel-Webpage https://meandallhotels.com/) „Urbanes kiezverliebtes Design, hochwertige Qualität, fabelhafte Details, feinste Technik“. Und jetzt zitiere ich noch aus dem Lied „Der General“ von Reinhard Fendrich: „Na bravo, und warum woll´ ma des?“
Aber mehr als schlafen und duschen soll man in diesen Zimmern wahrscheinlich eh nicht, das eigentlich Hotelleben spielt sich im obersten Stockwerk ab, eine Mischung aus Bar, Restaurant, Lounge, Büro (hier co-working space geheißen), Sitzungszimmer (hier boardroom geheißen), Dachterrasse. Besagte Webpage preist es an als „ein Großstadtwohnzimmer, in dem sich alle gut fühlen. … sie sind immer super gemütlich. Und herzlich direkt. Und jedes auf seine Art authentisch lässig und ganz und gar bodenständig. Sie sind das Lebensgefühl ihrer Stadt.“ In der Tat, hier ist es selbst für einen Oldtimer wie mich irgendwie gemütlich, hier kann man’s aushalten. Zwar sind die jungen, urbanen Entrepreneurs, die an ihrem genialen startup für den nächsten Börsengang co-worken wohl gerade nicht da, auch nicht die hippen, wohlhabenden Studenten, die politische Diskussionen führen und Seminararbeiten schreiben. Das urbane Publikum beschränkt sich heute auf ein paar jüngere Geschäftsleute, eine junge Familie mit Kind und ein paar Ulmer, die einen Drink nehmen. Irgendwie erinnert mich das an Soho-House für Arme auf dem Dorfe, aber das ist böse. Die Bar-Karte ist klein, ein paar einfache, zeitgeistige Cocktails, ein paar Standard-Spirituosen, recht wohlfeil (2 cl Jonny Walker Black Label zu 3,50 EURO ist mehr als fair), ein halbes Dutzend Mode-Gins und ein halbes Dutzend Mode-Tonics, Bier, Wein, Softdrinks, die Speisekarte ist pandemisch verkürzt, es gibt philippinisch-indonesisch-hawaiianische Fusionsküche von einem Foodtruck-Team, ich weiß nicht, ob hier im Hause gekocht wird oder im Truck, das sieht sehr nach Notnagel aus, probiert hab‘ ich’s nicht. Generell werben die me and all hotels damit, dass in ihren Dachbars wechselnde Küchenteams, DJs und Musikanten Events veranstalten, aktuell jedenfalls ist kein Event, sondern eher tote Hose, aber – so sagt die flotte, freundliche, duzende Bedienung – am Wochenende ginge ohne Reservierung oft gar nichts. Wie dem auch sei, abhängen, trinken, reden und auch arbeiten kann man hier oben ganz gut.
Das Frühstück am Morgen findet auch in diesem multifunktionalen Dach-Etablissement statt, bis 11:00 Uhr sogar. Angeblich sollen die meisten Zutaten regional beschafft werden, und die Backwaren haben mich ehrlich begeistert, selten so gute Brötchen im Hotel gegessen, echte handgemachte Bäckerware. Der Rest ist dann eher 08/15, schwitzende, leicht säuerliche, leicht vertrocknete Wurst, mäßiger Käse, wenig Obst, warmgehaltene Eier und Speck und eine kleine, übliche Cerealien-, Aufstriche-, Säfte-, usw. -auswahl, nicht zu loben, nicht zu tadeln.
me and all hotel ulm
Lindner Hotels AG
Bahnhofplatz 7
89073 Ulm
Tel.: +49 (7 31) 7 25 57 10
Email: contact.ulm@meandallhotels.com
Online: https://ulm.meandallhotels.com/
Doppelzimmer Ü/F 95 bis 164 EURO (pro Zimmer, pro Nacht)