Wenn ich so überschlage, pro Jahr habe ich sicherlich um die 500 Kochbücher in der Hand (40 pro Monat, je 20 bei zwei Buchhandels-Besuchen entlang meiner Reiserouten – allemal, eher mehr), vielleicht 25 davon kaufe ich, ein paar weitere ereilen mich als wohlgemeinte Geschenke von Freunden, Gästen (liebe Gäste, schenkt mir keinen Gin und keine Kochbücher, im Zweifel kenne ich beide, und wenn, dann sehr ausgefallene) und rezenions- (ich hadere gerade mit dem Wort „geilen“, wäre „rezensionsgeil“ ein böses Wort? – dieser Bindestrich findet somit keine Fortsetzung, ich will die spendablen Verlage ja nicht ohne Not vergraulen) Verlagen, nach genauerer Betrachtung lege ich mehr als die Hälfte dieser erworbenen Kochbücher auf die Mauer neben unserem Hauseingang, und siehe, am Abend sind sie verschwunden, ich wünsche den Mitnehmern mehr Beziehung zu den Büchern als ich sie entwickeln konnte. OK, ich hätte jetzt auch ganz kurz schreiben können, dass ich schon das eine oder andere Kochbuch gesehen habe, aber auch und gerade Schachtelsätze haben ein Recht auf Existenz. Unter all den gut gemachten Kochbüchern, vor allem unter all dem Schrott, den Werbebüchern zu welchem Behufe auch immer, den verfickten narzisstischen, auto-erotischen, auto-therapeutischen, überflüssigen, schwülstigen – you name it – Ansammlungen bedruckten Papieres finden sich zuweilen auch unerwartete Kleinodien, Kochbücher, die inspirierend, offen, herzerfrischend, neu, interessant sind. Solch ein Kochbuch ist Andrew Bartons „The Myrtlewood Cookbook. Pacific Northwest Home Cooking“. Andrew Barton ist kein Sternekoch, keine alternative Hinterhof-Koch-Ikone, kein grün-faschistoider Weltverbesserer, kein verkaufswütiger Nestlé- & Co.-Sklave, keine bezahlte Testimonial-Hure, keine gelangweilte, selbstverwirklichungs-geile Provinz-Hausfrau, kein Bezahl-Schreiber, der von Pornodrehbüchern über Politikerbiographien bis Kochrezepten alles gegen Geld niederschreibt, kein Produktmanager, der einen vorhandenen, altbewährten Content-Stock mal wieder neu mischt und unter eine neue Headline stellt … Andrew Barton ist … Kindergärtner, oder – wie man im Imperium sagt – „preschool teacher“. Nebenbei betreibt er seit 2010 in Portland einen Supper Club nach kubanischem Vorbild, eine private Location, wo man nur gegen Anmeldung und in der Regel gegen Vorkasse zum opulenten Essen mit fremden Menschen zusammen kommt, ohne genau zu wissen, was einen essenstechnisch und sozial erwartet. 2015 veröffentlichte er erstmalig zusammen mit dem Photographen Peter Schweitzer sein Myrtlewood Cookbook, gespickt mit vielen, sehr persönlichen Anekdoten, etwa über eine Berlin-Reise in jungen Jahren; „Sitting in that warm open kitchen and moving through the smorgasbord of borscht, bread, coffee, glühwein, stolen, and butter, made me feel more connected to my German heritage than ever before.” Ist doch schön, dass selbst ur-russischer Borscht deutsche Gefühle bei einem Ami aufkommen lassen kann, das ist mal echt multi-kulti. Das Kochbuch selber präsentiert keine Schule, keinen Stil, keine Region, keine Tradition … das Kochbuch ist einfach eine sehr subjektive Sammlung von Lieblingsrezepten, von klar strukturierten, einfach nachzukochenden Rezepten, die irgendwo die Waage halten zwischen Omas altbewährten Gerichten, studentischer Experimentierküche, aufgeschnappten und adaptierten internationalen Speisen, regionalen Einflüssen und eigenen kreativen, aber erprobten Erfindungen, ohne dabei in kulinarische Onanie von 7 Tagen fermentierten Dingsdas, 72 Stunden bei 74 Grad sousvidierten Bumsdas und 190 Tagen alten Eiern von der süd-chinesischen Tralala-Henne zu verfallen, eigentlich könnte man fast jedes Gericht für sich in fast jeder beliebigen Studentenküche nachkochen. Barton gliedert sein Buch ungewöhnlich: Nach 20 Seiten über die richtige Ausstattung einer Hobby-Küchen folgen Suppen (etwa Hot Borscht, First Night in Berlin Style oder Oyster Stew), Salate (etwa Celery and Walnut, with Camenbert + Poppyseed Crackers oder Black Radish, with Walnuts and Herbs), Sandwiches (etwa Mushroom Tosties oder Pecorino, Fresco, Pear, and Frisée (sogar mit richtigem Accent aigu!) on Kamut), Dinners (etwa Sushi Bowl (for the Cold Moths) oder Hedgehog Mushroom Risotto), Pastas (etwa Spring Green Lasagne), Beilagen (etwa Winter Pickles oder Romanesco with Leeks and Sage), Breakfast (etwa Old World Corn Cakes with Dried Blueberries oder Smoked Oyster Hash) und schließlich Süßigkeiten (etwa Bitter Chocolate Cake oder Fresh Fig Tart). Dabei halten alle Rezepte eine schöne Balance zwischen Exaktheit und kreativer Offenheit, auch wenn Barton in der Einleitung die Vorzüge einer elektronischen Küchenwage preist, mit Ausnahme von Teigen dominieren Mengenangaben wie „A small handful raw almonds“ oder „Stock of some kind“ Vollends sympathisch ist das das Rezept für besagte „Mushroom taosties: Good mustard / Good bread / Good butter / Good mushrooms / Good cheese“ Die abgebildeten Pizzen in dem Buch sind krumm und schief, wie meine eigenen daheim, und von der Form her alles anders als perfekt, das alles macht das Buch liebenswert, es ist wie eine Einladung in eine ganz persönliche, unprätentiöse, neue Küche, neu, weil sie eben nicht die eintausendfünfhundertzweiundneunzigste wiederholte Kompilation mehr oder minder altbekannter Rezepte ist, sondern ein sehr persönlicher, fast schon intimer Einblick in eine ganz eigene Küche, die sich jedem Stil, jedem Schema verweigert. Das macht Spaß.
Andrew Barton: The Myrtlewood Cookbook: Pacific Northwest Home Cooking. Photos von Peter Schweitzer. Seattle: 2017 (Sasquatch Books). ISBN-10: 1632171414, ISBN-13: 978-1632171412. Preis 25,31 €