Die Luft ist noch immer kühl, es nieselt, der Regen fühlt sich eiskalt an, aber nach dieser Räucher-Sauna tut Ausdampfen in der frischen Kälte regelrecht gut. Wir haben Glück, durch die Josefstädter schleicht ein Taxi auf der Suche nach Beute, willig geben wir uns dem Droschkenkutscher hin, zwängen uns in den alten C-Klasse Benz … und schauen uns verblüfft an, denn vor lauter Fluchtinstinkt und Frischluft-Flash haben wir völlig vergessen, darüber zu sprechen, wo wir denn jetzt hinwollen. „First American?“, frage ich, „First American!“ schallt es einhellig von den drei Weibspersonen zurück. „In die First American Bar in die Schulerstraße bitte.“, dirigiere ich den Taxler. Die Schulerstraße ist seit Ewigkeiten Einbahnstraße, seit sie anfingen, den 1. Bezirk quasi undurch- und sogar –befahrbar zu machen, also müssen wir im Halbkreis um die ganze Innenstadt herumfahren. Als wir dort ankommen verlassen gerade die letzten Gäste das Lokal, Baba – einer der Barkeeper, und zwar in richtig-richtig guter – sperrt das markante Eingangs-Portal, das weiland Hans Hollein für Peter Noever designte, von innen zu. Aus die Maus. Schade eigentlich, aber es ist tatsächlich schon 03:00 Uhr morgens. „Und nun?“, frage ich etwas ratlos. „Zu mir?“, fragt Siegrid zurück. Alle nicken, also zu Siegrid nach Hause in den 2. Bezirk, beim Karmelitermarkt.
Siegrid ist die einzige von uns, die noch im selben Haus wie zu Studentenzeiten wohnt, nicht nur im selben Haus, sondern sogar noch im selben Zimmer, irgendwie zumindest. Während ihres Studiums lebte Siegrid in einer WG in einer Dachgeschosswohnung in einem der Gründerzeit-Bauten beim Karmelitermarkt. Als sie mit dem Studium fertig war, blieb sie dort wohnen, es war wohlfeil, gewohnt und kommod, und als junge Assistenzärztin mit dem ersten eigenen Geld auf der Tasche war sie ohnehin die meiste Zeit in der Klinik; die restliche freie Zeit verbrachte sie lieber mit Reisen als das Geld für eine teure eigene Wohnung auszugeben. Dann zog irgendwann die erste Mitbewohnerin aus ihrer WG aus, statt eine neue Mitbewohnerin zu suchen, übernahm Siegrid deren Zimmer, dann die zweite, dann die dritte Mitbewohnerin, bis Siegrid schließlich alleine in der Dachwohnung wohnte, recht groß, zentral, Dank der Wiener Mitpreisbindung im Bestand unglaublich wohlfeil, aber nicht sehr komfortabel, altes Bad, kein Balkon, kein Lift, knarzendes Stiegenhaus, hässlicher Hinterhof. Als sich dann die Gelegenheit ergab, nahm Siegrid all ihren Mut und all ihre Ersparnisse zusammen, dazu zwei namhafte Hypotheken auf das Häuschen ihrer Großmutter und auf das ihrer Eltern und kaufte den ganzen Schuppen mit sage und schreibe 20 alten Wohnungen, und das lange bevor die Bobo-Gesellschaft den 2. Bezirk für sich entdeckte und die Preise explodierten. Von nun an verfluchte sie natürlich die Mitpreisbindung, aber ihre sonstigen Einkünfte als Ärztin ließen sie die recht geringe Rendite aus der Immobilie doch verschmerzen. Als Hausbesitzerin kündigte sie die Mieter der anderen drei Dachgeschosswohnungen und ließ sich das komplette Dachgeschoss als Privatwohnung ausbauen, mit Non-Stopp-Privatlift in die Wohnung, großer Dachterrasse, Luxusbädern, einer Küche, bei der jeder Hobbykoch niederkniet (dabei kocht Siegrid so gut wie nie), großer Wohnlandschaft, und ihr altes Studentenzimmer, das hat sie zwar mit Wanddurchbrüchen in die Nachbarzimmer deutlich vergrößern lassen, aber im Prinzip schläft sie noch immer im selben Raum wie zu Studentenzeiten, das nenne ich auch mal eine Leistung. Wir fahren mit dem Lift nach oben und landen direkt in einem Vorraum, neben dem Lift eine begehbare Garderobe mit Tür zu einem Gäste-WC am Ende, wir schälen uns mal wieder aus den klammen, nach Rauch und Schweiß stinkenden Klamotten, vis à vis vom Lift führen große gläserne Flügeltüren in den Wohnbereich, an dessen anderer Seite Panoramafenster zur Dachterrasse, rechts die große offene Küche mit einem langen, blanken, schlichten, unglaublich schönen und einladenden Eichentisch von vielleicht 6 Meter Länge, dahinter klug angeordnet Hauswirtschafts- und Vorratsräume, links führen Türen zu den Schlafzimmern, Bädern und Siegrids Arbeitszimmer. „Was wollt Ihr trinken?“, fragt Siegrid mehr rhetorisch. Ohne unsere Antwort abzuwarten stellt sie Rum – einen Dictador XO –, Scotch – einen Oban –, Vodka – natürlich Grey Goose, aber eine Sonderedition, die ich nicht kenne – und Gin – ganz konservativ Tanqueray #10 – auf den großen Küchentisch, dazu reichlich Mineral (wie man in Wien Mineralwasser zu nennen pflegt). Wir setzen uns, und während Siegrid noch am Tun und Machen ist erscheint eine sichtlich verschlafene Person aus den hinteren Eingeweiden der Wohnung, ein vielleicht 20-jähriges, vielleicht auch 16- oder 24-jähriges – so genau erkennt man das heutzutage ja nicht mehr – Mädchen, nur bekleidet mit einem langen, viel zu großen Herrenhemd (Warum in Dreiteufels Namen, so frage ich mich, gibt es in einem Lesbenhaushalt lange, viel zu große Herrenhemden? – Allein für nächtliche Auftritte der Gespielinnen?). Die Person raunzt einen Gruß, schlurft an uns vorbei und schmiegt sich mit einem innigen Kuss an Siegrid, die beiden tuscheln kurz, dann setzt sich das Mädel zu uns an den Tisch, lächelt uns so freundlich an, wie es die Uhrzeit ihr erlaubt. „Das ist Laurie“, stellt Siegrid uns das Mädchen vor, „sie wohnt bei mir.“ ‚Wohnt bei mir!‘, denke ich mir, das ist hart, so wie die beiden sich gerade geknutscht haben, nichts von ‚Freundin‘, ‚Geliebte‘, von mir aus auch ‚Lebensabschnittsgefährtin‘ – ‚wohnt bei mir‘ ist alles, jeder Mann würde bei solch einer Vorstellung ja sowas mit der Chauvie- und Sexismus-Keule verprügelt, und ich habe im Laufe der Jahre schon so viele von Siegrids ‚Wohnt-bei-mirs‘ kennengelernt, aber das ist Siegrids Bier, da halte ich mich wohlweißlich raus. „Wart Ihr noch aus?“, versucht das Mädchen höflich-hilflos ein Gespräch zu beginnen. „Ja, wir waren noch in ein paar Kneipen was trinken, so wie in alten Zeiten, wir kennen uns schon ewig.“, antwortet Mona. „Und was machst Du so?“ Das Mädchen streicht sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht, zieht ein Knie an vor den Bauch, lächelt blass. „Ich studiere hier in Wien, Betriebswirtschaften und Kunstgeschichte, das Praktische mit dem Schönen verbinden.“ Jetzt erst sehe ich, dass das lange, viel zu große Herrenhemd tatsächlich das absolut einzige ist, was die junge Dame trägt, und durch das angewinkelte Bein gewährt sie An- und Einblicke, die kein Mann anständig ertragen kann, Sharon Stone war keusch dagegen. Ich stehe lieber auf und frage Siegrid, ob ich ihr helfen kann. Sie holt gerade Gläser aus dem Schrank, die universal einsetzbaren Authentis Becher von Spiegelau, die wir beide so mögen, alldieweil darin Wasser, Wein und Schnaps gleichermaßen gehen, ohne stillos zu sein. Siegrid hat Spiegelau weiland bei mir kennengelernt, sie hatte uns besucht, fand die Gläser toll, am nächsten Tag hat sie alle Planungen über den Haufen geworfen und wir sind in den Bayrischen Wald gefahren, im Werksverkauf in Spiegelau hat sie dann den halben Laden leer gekauft und ist dieser Glasmarke mit allen ihren Formen bis heute treu geblieben, obwohl in Spieglau schon lange kein Glas mehr hergestellt wird, wird jetzt alles bei dem Mutterkonzern Riedl im Österreichischen Kufstein gemacht (und selbst da bin ich mir nicht mehr sicher, ob dort wirklich noch größere Mengen Glas produziert werden oder ob zwischenzeitlich fast alles – bis auf die Schaumanufaktur – aus Fernost oder so kommt). „Komm‘ mal mit, ich hab‘ noch ganz was Schräges.“, sagt Siegrid zu mir. Während Mona und Caro mit Laurie plaudern – es sieht eher nach gequältem Smalltalk aus – gehe ich mit Siegrid in den Vorratsraum hinter der Küche, in dem zwei mächtige, fast deckenhohe Weinschränke stehen, beide proppenvoll, und wie ich Siegrid kenne, bestimmt nicht mit Billig-Wein. Wieder einmal weit gefehlt, in dem einen Schrank liegen sicherlich ein Dutzend Doppler-Flaschen, diese berühmt-berüchtigten österreichischen Zwei-Liter-Flaschen mit – in der Regel – nicht ganz so exzellenten Weinen. Siegrid drückt mir zwei von diesen Flaschen – ein Grüner Veltliner aus dem Burgenland – in die Hand, ich trage sie brav auf den Tisch, derweil Siegrid noch zwei der altertümlichen Siphone, die heutzutage beim Heurigen aufgrund irgendwelcher EU-Spinnereien verboten sind, mit Wasser und CO2 – Kapseln befüllt, damit wir unsere Doppler auch ganz gepflegt als G’spritze nehmen können. Ich trage auch diese brav raus, immer darauf achtend, dass ich mich der jungen Dame nicht von ihrer ungebührlichen Seite nähere, Siegrid stellt noch ein Brett mit Schinken, Wurst, Brot, Butter, Gurken auf den Tisch und alles ist wie früher, in diesen Nächten, wenn wir satt von einfacher Speise und trunken von billigem Weine in Freundschaft streitend wieder einmal die Welt retteten. Die arme Laurie merkt sehr bald, dass sie – ohne ihre Schuld und ohne dass jemand von uns etwas gegen sie hätte – nicht zwischen unsere alte Freundschaft passt, und so trollt sie sich Richtung Bett. Caro, Mona, Siegrid und ich schmausen, saufen und diskutieren, ganz einfach so wie früher, als wären wir nicht 30 Jahre älter und als wäre die Wohnung nicht viermal so groß wie früher. Irgendwann spendiert Siegrid noch eine Runde aus ihrem nun legalen Giftschrank, für die wir früher mit aufgestelltem Kragen hätten zur Kettenbrückengasse gehen müssen: so ändern sich dann doch die Zeiten. Monas Flug nach Chișinău geht um kurz vor 13:00 Uhr. Im Morgengrauen verlassen wir die gastliche Tafel, quälen uns wieder in ein Taxi, fahren mit Mona zum Interconti, sie holt ihre Sachen und checkt aus, während wir reichlich groggy bei einem Kaffee in der Halle warten. Mona kommt mit einem großen grünen Seesack, ihr ganzes Gepäck, echt pragmatisch die Frau, argwöhnisch blickt uns der Doorman an und hält es angesichts unseres Outfits und vor allem unseres Zustands nicht für notwendig, uns die Türe zu öffnen. die Luft ist jetzt klar, so klar, wie sie den ganzen Tag in der Stadt nicht mehr sein wird, wir winken ein Taxi heran und fahren – auch ganz wie früher – zum Frühstücken ins Café Landtmann. Um 10:00 bringen wir Mona noch raus nach Schwechat zum Flughafen, verabschieden sie, Siegrid setzt uns mit dem Taxi hinter der Oper bei unserem Hotel ab, wir können zum Glück um eine weitere Nacht bis Montag verlängern, ich schreibe meinem Büro noch eine kurze Mail, dass sie am Montag bitte nicht mit mir rechnen sollen, wir fallen in’s Bett, trunken, todmüde, glücklich und schlafen tatsächlich bis Montagmorgen durch.