Carpaccio ist heute in Mitteleuropa und den beiden Amerikas ein so allgegenwärtiges Gericht – und das längst nicht nur in italienischen und pseudo-italienischen Restaurants – wie Hamburger, Pommes oder Steak. Und eine weitere – die einhundertsiebenundachtzigtausendste – Anleitung, rohes Rinderfilet hauchdünn aufzuschneiden, nett auf einem Teller anzuordnen und sodann mit allerlei Zeugs zu bedecken, ist das Papier bzw. die Pixel nicht wert, auf denen es geschrieben stünde Auch dass Giuseppe Cipriani, zwischenzeitlich fast schon legendärer Begründer nicht nur von Harry’s Bar in Venedig, Finanzier des Herr Pickering, Mundschenk Hemingways und Erfinder des Bellinis, sondern auch Ur-Vater des Cipriani-Imperiums mit lizensierten Harry’s-Bar-Ablegern weltweit, gebrandeten Lebensmitteln und Beherbergungsbetrieben – verträumte 1.400 € kostest das Doppelzimmer im Belmond Hotel Cipriani auf Giudecca vor Venedig, allerdings mit Gartenblick, mit Balkon und Blick auf die Lagune ist es nochmals 400 € teurer, eine Junior-Suite schlägt mit wohlfeilen 3.200 € zu Buche, pro Nacht versteht sich, aber dafür ist das Frühstück inbegriffen –, die Erfindung des Carpaccios für sich beansprucht, und das wahrscheinlich sogar zu Recht, im Großen Artusi von 1891 findet sich noch kein Rezept für Carpaccio oder etwas ähnliches, also muss es irgendwann zwischen 1890 und 1950 entstanden sein, ist letztendlich heutzutage mehr oder minder ein Allgemeinplatz, obwohl man auf der Homepage der H. Köser GmbH, An der Packhalle IX 18, 27572 Bremerhaven, die industriell vorgefertigtes Carpaccio online vertreiben, allen Ernstes behauptet, Giuseppe Cipriani sei ein italienische Arzt gewesen. (Im Übrigen, Punkte werden völlig überbewertet und hemmen nur den freien Fluss des Satzes!) Wahrscheinlich ist die eigentliche Geschichte am Carpaccio heutzutage die Frage, was wir da zuweilen in den Restaurants so alles vorgesetzt bekommen, wenn wir Carpaccio bestellen. Nun gut, lassen wir den Modetrend mal außen vor, alles, was – zumeist roh – irgendwie dünn geschnitten ist, auf Speisekarten als Carpaccio zu bezeichnen – Lachs-Carpaccio, Schwertfisch-Carpaccio, Thunfisch-Carpaccio, Trüffel-Carpaccio, Rote-Bete-Carpaccio, Hirsch-Carpaccio, Carpaccio von der geräucherten Entenbrust, selbst die peruanische oder mexikanische (?) Ceviche wird heutzutage als „Carpaccio von Weißfischen mit Limette und Koriander“ verkauft – bleibt noch genügend „traditionelles“ Carpaccio vom Rinderfilet übrig, das kritisiert sein will.
Da ist ein perfekt abgehangenes, gut gekühltes und pariertes Bio-Rinderfilet, ein beherzter italienischer Koch schneidet mit einem höllisch scharfen Messer hauchdünne Scheiben vom selben herunter, gibt diese zwischen zwei dicke Plastikfolien, klopft sie sanft mit Gefühl mit einem leichten Plattiereisen, lässt die Scheiben sodann auf einen mit bestem Olivenöl eingestrichenen Teller gleiten und garniert sie „a la casa“. Soweit die Vorstellung des pifkecus ordinarius dummercus. Die – bittere – Realität mag oft so aussehen:
Interessant sind hier vielleicht auch die Einstandspreise, 1,50 € die Portion oder 18,11 € das Kilo bei der Metro, 1,73 € die Portion oder 21,66 € das Kilo bei Stroetmann, also ich zahle für ein Kilo Rinderfilet in guter Qualität – ohne Wagyu und Guru-Guru – zwischen 50 und 70 €, wahrscheinlich bin ich ein Einkaufs-Idiot. Aber 1,50 oder 1,73 € Wareneinsatz (+ Käse, Öl und Sonstiges), das nenne ich mal eine stolze Gewinnspanne in vielen Lokalen. Was dann oft auf dem Teller daher kommt, ist solch ein vorgefertigtes Ensemble dünner Kuh-Scheibchen, zuweilen rasch in der Micro aufgetaut und daher in einer bräunlich-rötlichen, lauwarmen Auftau-Flüssigkeit auf dem Teller schwimmend, daher gerne zur Ablenkung mit Bergen schlecht – wenn überhaupt – geputzten Rucolas zugedeckt, mal bereits mit Olivenöl fragwürdiger Qualität begossen, mal wird ein Fläschchen desselben zur Selbstbedienung an den Tisch gebracht, oft fehlen Zitrone und Pfeffermühle, dafür wird immer öfter „Balsamico-Creme“ gereicht, dass man mit dieser dicken, süßlichen, künstlichen Industrie-Pampe das Trauerspiel auf dem Teller gnädig überdecke, auch „Trüffel-Öl“, eine andere künstliche, streng schmeckende Industrie-Pampe wird neuerdings gerne zur Geschmacksverwirrrung und Preis-Rechtfertigung eingesetzt.
Jedem Restaurant-Gast kann ich nur an’s Herz legen, sich genau anzuschauen, was ihm als „Carpaccio“ vom Kellner vorgesetzt wird. Schwimmt das Fleisch ein einer bräunlich-rötlichen Flüssigkeit auf dem Teller und/oder ist es leicht warm und/oder an den Seiten Mikrowellen-grau und/oder kleben die Scheiben zusammen und bilden eine quasi homogene Masse, aus der man keine einzelne Scheibe Fleisch herausgabeln kann, sondern die homogene Fleischmasse zerreißen muss, auch wenn man die Frechheit besitzt, industrielle Balsamico-Creme oder Trüffelöl zu servieren, dann lassen Sie den Chef kommen, geigen ihm die Meinung, verlassen unter dem Absingen schmutziger Lieder das Lokal, und gehen Sie nie wieder dorthin – so zumindest handhabe ich solche kulinarischen Frechheiten. Natürlich, das sei auch gesagt, gibt es sehr viele Restaurants, die ein tadelloses oder zumindest ordentliches, frisch aufgeschnittenes Carpaccio anbieten, zum Glück sind längst nicht alle Convenience-Pfuscher!
Das „wahre“, wahrscheinlich zumindest das ursprüngliche Rezept für Carpaccio sowie dessen Geschichte findet sich von berufener Hand aufgeschrieben in Arrigo Ciprianis (Sohn und Nachfolger des oben erwähnten legendären Giuseppe) Büchlein „Harry’s Bar. Eine venezianische Legende. Stories, Drinks und Rezepte“, das ich jedem kulinarisch Interessierten, jedem mit Koch-Ambitionen und jeder Bar-Fly sowieso nur an’s Herz legen kann. Dort steht zu lesen, dass Guiseppe Cipriani das Gericht 1950 anlässlich der großen Ausstellung des italienischen Renaissance-Malers Vittore Carpaccio, der für seine kräftigen Rot- und Weiß-Töne bekannt ist, kreiert hat und es als erstes der Contessa Amalia Nani Mocenigo servierte, die Stammgast in Harry’s Bar war und der der Arzt den Verzehr von gekochtem Fleisch verboten hatte. (Oft ist auch bei weniger informierten Schreiberlingen zu lesen, Cipriani hätte das Gericht für eine „Contessa Carpaccio“ kreiert, aber das ist Nonsens.) Das Original-Carpaccio ist kein Rinderfilet, sondern gut pariertes und gekühltes (aber keinesfalls gefrorenes) Contrefilet (auch Lende, Roastbeef, Vorderrippe, auf Englisch sirloin) wird mit einem höllisch scharfen Messer oder der Aufschnittmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten, dekorativ auf dem Teller angerichtet, leicht gesalzen, kurz nochmals kalt gestellt und dann mit einer „Carpacciosauce“ im Gittermuster beträufelt (und jetzt sind wir wieder beim Rot-Weiß der Bilder des Namensgebers). Die „Salsa Carpaccio“ à la Cipriani ist ganz einfach eine (natürlich hausgemachte) Mayonnaise gewürzt mit Worcestershiresauce, Zitronensaft, etwas Milch, weißem Pfeffer und Salz. Am Rande sicherlich auch noch interessant, dass eine Portion Original-Cipriani-Carpaccio 110 g wiegt, während heute Convenience-Portionen gerade mal 80 g auf die Waage bringen.
Ich habe dieses Original-Rezept erst lange nachdem ich selber ein recht passables Carpaccio hinbekommen hatte, gefunden. Aber Arrigio Cipriani schreibt frei von Urheberrechts-Denken und Groll: „Vom Carpaccio gibt es mittlerweile 1001 Version – wenn nicht eine in jedem Restaurant der Welt!“ Also reihe ich mich in diese Heerschar der 1001 ein und gebe hier mein eigenes Rezept für Carpaccio zum Besten:
Zutaten (für vier Portionen):
- 500 g Rinderfilet vom dicken Ende*
- Bestes Olivenöl
- 1 Bio-Zitrone
- Bester Parmesan, nicht zu alt, 24 Monate sind optimal
- Schwarzer Pfeffer aus der Mühle, Fleur de sel nach Wahl
- Nach Geschmack Champignons, Stangensellerie, Rucola
Zubereitung:
- Rinderfilet von allem Fett, Sehnen und Häutchen befreien
- „Keinesfalls gefroren“, schreibt Altvater Cipriani, und Frank Stormann vom Augsburger Stadtmarkt sagt das Nämliche, ich gestehe, dass ich das Rinderfilet vor dem Aufschneiden halb anfrieren lassen, damit es leichter zu schneiden ist, und das, obwohl wir eine professionelle Graef unser Eigen nennen, die fast alles schneidet**
- 4 große Teller dünn mit Olivenöl einpinseln
- Angefrorenes Rinderfilet dünn (aber nicht so dünn, dass die Scheiben reißen) aufschneiden und kreisförmig auf den Tellern verteilen
- Fleisch ganz leicht salzen und nochmals 15 bis 30 Minuten kalt stellen (Kühlschrank-kalt, nicht Tiefkühler)
- Zitrone vierteln, evtl. Kerne vorsichtig entfernen
- Parmesan-Stück auf einen Gurkenhobel geben, auf einem Teller auf den Tisch stellen, dazu Fleur de sel, Mühle mit schwarzem Pfeffer, Olivenöl
- Teller mit dem Carpaccio aus der Kühlung nehmen, Zitronen-Viertel auf das Fleisch legen, servieren
- Bei Tisch richtet jeder sich sein Carpaccio mit Zitronensaft, schwarzem Pfeffer aus der Mühle. Fleur de sel, frisch gehobelten Parmesanspänen und Olivenöl selber an
- Alternativ kann man das Fleisch auch noch mit dünnen Scheiben von geputzten Champignons oder Stangensellerie oder verlesenem, gewaschenem, trockengeschleudertem Rucola garnieren; in diesem Fall sollte man das Anrichten des Fleisches mit Zitronensaft, Pfeffer und Salz vor dem Servieren in der Küche vornehmen, sodann mit dem Grünzeugs und den Parmesan toppen und zu Tisch bringen
- Oder man serviert das Fleisch ungewürzt und reicht zusätzlich zu Pfeffer, Salz, Zitrone, Olivenöl und Parmesan auch noch eine Schale Grünzeugs bei Tisch und jeder nimmt sich davon nach Belieben – dies allerdings ergibt eine für Laien-Gäste erklärungsintensive Komplexität bei Tisch.
* Pro Portion Carpaccio rechne ich +/- 100 g Fleisch, für 4 Portionen also 400 g; weitere ca. 100 g pro Fleischstück sind leider Verschnitt, d.h. das letzte Zipfelchen Fleisch, das man nicht mehr ordentlich geschnitten bekommt. Bei uns ist das in der Regel kein Problem, dünne Fetzen rohen Rindfleisches mit Pfeffer, Salz, Olivenöl und Zitrone entzücken Luc immer, auch wenn die Optik suboptimal ist.
** Außerdem habe ich immer 2, 3 Stückchen pariertes, vakuumiertes Rinderfilet in der Tiefkühltruhe; mit wenig kann man überraschende Gäste mehr verblüffen als mit den Sätzen: „Oh, wie schön, dass Ihr spontan vorbei kommt. Aber ich habe fast gar nichts im Haus. Ein Carpaccio könnte ich Euch anbieten.“
Zum Carpaccio reichen wir in der Regel eine schnell selbst gemachte Focaccia oder Pizza Pane, gutes Baguette geht natürlich auch. Und Carpaccio verträgt viele Getränke. Von einem Bier würde ich persönlich zwar Abstand nehmen, aber es gehen sowohl ein Crémant oder Champagner als auch ein kühler, gerne etwas fetterer Weißwein, vielleicht ein Lugana oder ein Gewürztraminer aus dem Elsass, von einem knochentrockenen Riesling würde ich abraten, aber ein leichter Roter, etwa ein Dornfelder (wetten, das Axel K. aus G. gerade die Nase rümpft?) oder ein Primitivo gehen hier gut, ebenfalls abraten würde ich von einer Granate (man ist ja schließlich noch bei der Vorspeise) wie einem Amarone oder Grenache-dominierten Bordeaux.