Tschechei, da assoziiert der gemeine Reisende zuerst einmal Prag mit Wenzelsplatz, Hradschin, Goldenem Gässchen, Karlsbrücke und natürlich der Kleinseite mit ihren Touristen-Nepp-Lokalen, die Städte Pilsen und Budweis der Biere wegen, Karlsbad und Marienbad zwecks Kuren und Huren, Franzensbad kennen fast nur Insider, dann die hübschen, aber touristisch vollkommen verlausten Orte Krumau, Reichenberg oder Ostrava und vielleicht noch das Riesengebirge mit Spindlermühle zum Skifahren. Das war’s dann auch meist schon, mit den touristischen Kenntnissen über die Tschechei, wenn überhaupt. Einerseits gibt es noch viel mehr Orte in Tschechien, die in Sachen Tourismus, Geschichte, Relaxen, Wellness, Wandern, Ruhe, Party interessant (und noch bezahlbar) sind; einschlägige tschechische Tourismus-Seiten geben in meist holprigem Deutsch darüber Auskunft. Andererseits, es gibt noch weite Regionen und Landstriche, die noch nicht touristisch erschlossen sind, und ich bin mir oft nicht sicher, ob hier noch kein findiger Regionalmanager zusammen mit ungleich findigeren Hoteliers und Finanziers bereits aktiv geworden ist … oder ob sich die Regionen dem Tourismus, dem Fremden, dem flüchtigen, lukrativen, unpersönlichen Besuch des Anderen schlichtweg verweigern.
Will man zum Beispiel von München mit dem Wagen nach Dresden fahren, so führen einen die gängigen Navigationssysteme wie selbstverständlich in 4 ½ Stunden auf der A9 bis Nürnberg und Hof, dann auf der A72nach Chemnitz, danach auf der A4 weiter nach Dresden. Versucht man, die Navigationssysteme auszutricksen und stellt „Ohne Autobahn, Kürzeste Route“ ein, so wird man in gut 7 Stunden über den Bayrischen Wald und dann auf den bestens ausgebauten Bundesstraßen 26 und 27 über Pilsen und Most zum Grenzübergang Zinnwald und dann nach Dresden geschleust. Ich aber wollte Tschechei abseits der Touristenhochburgen und Durchmarsch-Straßen kennenlernen, also habe ich mir ganze zweieinhalb Tage Zeit genommen für die knapp 500 km von München nach Dresden. Genau genommen bin ich am Vortrag bereits die 200 km nach Cham im Bayrischen Wald gefahren, nächtigte dort und hatte dann zwei volle Tage Zeit, die 300 km nach Dresden quer durch die unerschlossene Tschechei zu fahren.
Bei Furth im Wald überquerte ich die Grenze, die frierenden Nutten in ihren kurzen Röckchen sind verschwunden, Spielcasinos gibt es noch zu Hauf, aber selbst die Vietnamesen-Märkte und Puffs sind weniger geworden. Ich fuhr noch ein Stückchen auf der ausgebauten Bundesstraße 26, durch eine Ortschaft mit dem beunruhigenden Namen Babylon, bei Horšovský Týn verließ ich die Hauptstraße, aß grottenschlecht zu Mittag (direkt neben der Burg, die auch nicht sonderlich spektakulär ist) und fuhr auf der Landstraße 193 Richtung Norden. Bei Stříbro querte ich die Mže, der Marktplatz ist das, was Paul Celan vielleicht abweissagend genannt hätte, ich fühle mich nicht bedroht, aber auch nicht willkommen. Bedrückend hier die Bunkeranlagen mitten auf altem Tschechischen Staatsgebiet, gebaut an der Grenze zum Deutschen Protektorat, angeblich Wunderwerke der Bunkerbaukunst, von denen selbst die Deutschen noch lernen konnten, und dennoch vergebens, als Hácha und Chvalkovský am 15. März 1939 von Berlin aus nach Prag kabelten, keinen Widerstand zu leisten. Und ich wundere mich, dass mir hier keine Herzlichkeit entgegen schlägt. Ich fahre weiter nach Norden nach Konstantinbad, wegen seiner Schwefelquellen im Volksmund Stinkerbad genannt. Vier Bäder hatte das Sudentendeutschland, Karlsbad, das mondäne, heute weitgehend in Russischer Hand, Marienbad, das schöne, hier sind die Speisekarten noch in Deutsch, Franzensbad, das versteckte, das gesucht werden will und sich nicht wie die beiden anderen prostituiert, und dann schließlich Konstantinbad, das vergessene, das schlafende, das verwunschene. Nichts ist mondän hier oder einladend, sich öffnend, und doch – oder deshalb – ist es eine ganz eigene Atmosphäre hier, die man spürt und die man kaum beschreiben kann, fast wie ein Fiebertraum, eine elfengleiche Jungfer in Tücher gekleidet, die durch das Kurpark geheißene Wäldchen schwebt, gefilmt mit Weichzeichner und Zeitlupe. Ein blödes Bild, mir fällt kein besseres ein; eines Tages werde ich mit einem professionellen Photographen hierher kommen. Tepl und Marienbad ließ ich links liegen, auf kleinen Landsträßchen fuhr ich nach Norden über Bezdružice nach Úterý im Tepler Hochland. Die Landschaft ist hügelig, bewaldet, unberührt. Die mit EU-Geldern gut und meistens schnurgerade B20 benutzte ich kurz und lustlos nach Norden, bei Bezvěrov schlug ich mich wieder nord-östlich in die Büsche, bei Žlutice fand ich meine 193 wieder. In Kadaň überquerte ich die Eger, vorbei an riesigen Löchern in der Erde, am Horizont dampfende Kohlekraftwerke, alte kommunistische Blockarchitektur, Industrie-Revier, zum Teil noch in Betrieb, zum Teil schon aufgegeben, noch rasch durch Komotau, Most, Teplitz, das Erzgebirge hoch, bei Zinnwald über die verwaiste Grenze und die paar Kilometer den Berg runter nach Dresden.
Was ich auf dieser Fahrt gesehen habe, war unglaublich fremd, trotz der Nähe. Tiefrote Erde, für mitteleuropäische Verhältnisse sehr große, frei laufende Kuhherden, alle Gewässer fremdartig, metallig-braune Bach-und Flussläufe, schlammige Teichlandschaften, vollgelaufene Tagebaue, angestaute Flüsse, kein irgendwie einladendes natürliches Gewässer, riesige Hopfenfelder, ein paar renovierte Häuser, unglaublich viel Verfall, viel unverbauter Charme auch, alte kommunistische Läden, die einfach vergessen haben, zu schließen und noch immer wie früher weiter machen, misstrauisch äugende, verschlossene Menschen, mehrfach unglaublich schlechtes Essen, traumhafte, alte, verfallende Anwesen, verrostete Bahntrassen, von der Natur fast schon zurück eroberte Seitensträßchen und dann wieder schnurgerade, bestens ausgebaute, funkelnagelneue Asphalttrassen, mühsam am Leben gehaltene, ehemals reiche Klöster, vernagelte Kirchenbauten, hübsche alte Marktplätze, dann wieder bewohnte Häuserfluchten, wo jeder Sinn für Schönheit, auch nur Gepflegtheit gänzlich abgeht, bewohnte Ruinen, ruiniert von den Bewohnern, alte, verrostete Lautsprecher an den ebenso verrosteten Straßenlaternen, mit denen die kommunistischen Machthaber ihre Sicht der Dinge unter’s Volk brachten, daneben moderne Parabol- und Funkantennen, fast schon surreale Kompositionen. Die üblichen Reise-Journalismus-Paraphrasen „unberührt“, „zünftig“, „charakteristisch“, „mit morbidem Charme“, „landestypisch“, „unverfälscht“, „arm aber herzlich“, „authentisch“ … you name it, sie greifen hier alle nicht; teils landschaftlich reizvoll, teils verrottete Industrielandschaft, teils Agro-Industrie-Land, teils schön renovierte historische Bausubstanz, teils sozialistische Zweckbauten, größtenteils verlotterte, ungepflegte, ruinierte, heruntergekommene, auch verfallende Bauten, teils state-of-the-art Infrastruktur, größtenteils infrastruktureller Schrott. Dazu Menschen, über die ich nichts zu sagen vermag, alldieweil sie den Kontakt mit mir weitgehend mieden. Auch hier würde die Sprache gewiss nicht versagen, all dies zu beschreiben, doch diesmal ausnahmsweise ein paar simple, plumpe Bilder (ich bin kein Photograph) dieser surrealen Welt. Verbunden mit der Einladung an einen richtigen Photographen / eine richtige Photographin, mich zwecks optischer Dokumentation nochmals auf dieser Strecke zu begleiten.