Um es vorwegzunehmen: aus meiner Sicht ist dieses Buch inhaltlich überflüssig, und das Setting ist unappetitlich. Gleich in der Einleitung heißt es:
„Das aufwendige Buchprojekt wurde durch Unterstützung des Coop-(Schweiz-)Fonds für Nachhaltigkeit und von Transgourmet Deutschland ermöglicht. Die Idee zum Buch entstand in vielen Gesprächen mit Transgourmet zu der Frage, wie sich Transgourmet über betriebliche Nachhaltigkeitsmaßnahmen hinaus sinnvoll gesellschaftlich engagieren kann. … Coop (Schweiz) gehört zu den nachhaltigsten Handelsunternehmen der Welt, Transgourmet ist eine 100-prozentige Coop-Tochter.“
Dermaßen nachhaltig unterstützt machten sich die Autoren Manuela Rehm und Jörg Reuter mit dem Koch Andreas Rieger als Rezept-Rechercheur, Caro Hoene als Reportage-Photographin und dem Essensknipser (vulgo Food-Photographen) Joerg Lehmann auf eine Rundreise durch 11 deutsche Altenheime, denn nur dort leben heutzutage Großeltern noch. In diesen Altenheimen versammelte man dann ein paar Großeltern – zumeist Großmütter, denn Großväter sterben früh und/oder kochen selten – in der Heimküche zum Behufe des gemeinsamen Kochens, des Plauderns über die gute alte Zeit – „Mayonnaise gab es früher nur Sonntags.“, „Bei wenig Geld wurde zweimal in der Woche Fisch gegessen.“, so’n Zeugs halt – und natürlich zum Reportieren mit reichlich Reportage-Photos. In jedem der besuchten Altenheime kam dann noch ein junger lokaler, ambitionierter, prominenter oder prominent-werden-wollender Koch samt Küchenhilfen hinzu, der gleich mitplauderte, mitreportiert wurde und natürlich den alten Leuten tatkräftig beim Kochen unter die geriatrischen Arme griff. Gekocht wurden dann etwa Böfflamott, Labskaus, Welfenspeise, Dippehas, Gaisburger Marsch, Elisenlebkuchen, usw. usf. Nun gut, vielleicht bin ich ja zum einen altermäßig bereits recht nah an der Großeltern-Generation und zum anderen etwas vorbelastet, was die Kenntnis traditioneller (ich schreibe hier bewusst nicht „alter“), gutbürgerlicher, deutscher Gerichte anbelangt, aber unter den rund einhundert Gerichten in dem Buch war kein halbes Dutzend wirklich unbekannt und neu für mich. Insgesamt ist da kein Gericht dabei, das man nicht auch in ordentlichen altbackenen deutschen Kochbüchern fände. Nun gut, für einen jungen Menschen, der heute aus einem Junkfood-RTL-Jogginghosen-Maggi-Elternhaus kommt, sich seine erste eigene Wohnung mit Küche einrichtet und sich von der elterlichen Fress-Tristesse frei machen will, mag dieses Buch tatsächlich eine neue Welt eröffnen und ihm seine wahren kulinarischen Wurzeln bewusst machen, das ist unbestritten. Fraglich ist dabei allerdings, ob ein Kind des dritten Jahrtausends heute noch Möpkebrot aus Rückenspeck, Schweineschwarte, Roggenschrot, reichlich Gewürzen, Schweineblut mit Pökelsalz und einen gereinigtem Schweinedarm kochen und essen mag.
Einerseits, wie dem auch sei, eingestehen muss man, dass in „Unser kulinarisches Erbe – Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern“ eine – relativ willkürliche, aber sicherlich typische – kleine Auswahl an traditionellen deutschen Gerichten gut dokumentiert wird: detaillierte Zutaten-Listen, verständliche, vollständige Kochanleitungen, von jedem Gericht ein ordentliches Photo (ohne übertriebenen Deko-Schnickschnack mit Blumen, alten Küchengeräten, umgefallenen Körnersäckchen, antiken Truhen und was Food-Photographen oft sonst noch so in ihren Bilder sinnfrei drapieren), auf dem man gut erkennen kann, wie das Gericht im Idealfall zum Schluss auszusehen hat; was hingegen fehlt, sind Bilder einzelner – komplizierter – Arbeitsschritte, schade. Dazu ist das Buch mit Hardcover sehr ordentlich und wertig hergestellt, Fadenbindug, der Titel ist leicht geprägt, schlägt man eine Seite auf, so bleibt diese aufgeschlagen, das ist beim Kochen sehr praktisch. 29,95 EURO ist für so ein Buch vergleichsweise gewiss nicht teuer, und doch, bei mir bleibt ein fader Geschmack.
Andererseits, abgesehen vom Geplauder mit den alten Leuten und den weltbewegenden Allgemeinplätzen der lokalen Köche – „Nachhaltig geben wir dem Boden mehr, als wir ihm entziehen.“ – bietet das Buch inhaltlich absolut nichts Neues, die vorgestellten Rezepte findet man ziemlich identisch in hunderten, wenn nicht tausenden anderer Standard-Kochbücher. Was bei mir nach der Lektüre von „Unser kulinarisches Erbe“ bleibt, ist ein schales Gefühl. Da sieht man immer gleiche Bilder (Mood-Bild heißt man so etwas, durfte ich mich belehren lassen) von alten Menschen in Sonntagsgewändern, meist noch behangen mit Schmuck und frisch frisiert, die in netten Küchen gemeinsam kochen und dabei offensichtlich viel Spaß haben, dazu ansprechende Bilder der jungen lokalen, ambitionierten, prominenten oder prominent-werden-wollenden Köche samt Küchenhilfen, schließlich Bilder der Autoren, offensichtlich im intensiven Gespräch mit den alten Menschen. Damit ich nicht falsch verstanden werde, ich gönne jedem alten Menschen von Herzen mit Spaß gemeinsam in hübschen Küchen zu kochen. Nur haben diese Bilder so absolut nichts gemeinsam mit der Realität in Seniorenresidenzen und Altenheimen, die ich – bedingt durch den Beruf meiner Ex-Frau zum einen, durch Dutzende alter Verwandter zum anderen – seit Jahrzehnten immer wieder erleben muss, in der Großeltern mehr oder minder abgeschoben mehr oder minder dahinvegetieren. Diese Bilder haben was von Pippi Langstrumpf „Ich mach‘ mir die Welt / wie sie mir gefällt.“ Da reist ein Team von zwei Autoren, einem Rezeptrechercheur, zwei Photographen, einem lokalen Koch plus Küchenhilfen, wahrscheinlich auch noch plus etlicher Assistenten, Beleuchter, Visagisten, Kabelträger durch die Republik, um ein paar Rezepte aufzuschreiben, die tausendmal aufgeschrieben und gedruckt sind und um mit alten Menschen über Dinge zu plaudern und dies in Text und Bild zu dokumentieren. So ein Aufwand geht nur mit der Unterstützung industrielle Geldgeber, die sich selber als gute Menschen positionieren wollen und ihren Oberen zeigen müssen, was sie mit den ihnen anvertrauten wirtschaftlichen Ressourcen für das Wohlergehen der Menschheit tuen, und so ein Buch lässt sich in der Vorstandssitzung gut vorzeigen, rumreichen, der Gattin daheim als kleines Präsent mitgeben und auch mit dem Schild „Wir sind gute Menschen!“ in Eingangsbereichen von Konzernen in Vitrinen stellen. Warum man dazu mit einer großen Truppe durch die Republik reisen muss, erschließt sich zumindest mir nicht wirklich. Ein junger Autor / eine junge Autorin, die durch die Lande fährt und alte Menschen über Rezepte und das Essen und Kochen in alten Zeiten befragt, hätte wahrscheinlich einen höheren heuristischen Wert und größere Authentizität; der teure Reportage-Auftrieb, der in „Unser kulinarisches Erbe“ betrieben wurde, ist – mit Verlaub gesagt – unappetitlich und unnütz. Für mich sieht das so aus, als hätten ein paar gewiefte Food-Unternehmensberater einem Handelskonzern eine Menge Geld abgeschwatzt für etwas, was die Welt nicht braucht, aber was man in der Vorstandssitzung gut vorzeigen, rumreichen, der Gattin daheim als kleines Präsent mitgeben und auch mit dem Schild „Wir sind gute Menschen!“ in Eingangsbereichen von Konzernen in Vitrinen stellen kann. Dieses Geld wäre – wenn man schon was für nachhaltiges Esskultur tun will – in Workshops zum gesunden, nachhaltigen, traditionellen Kochen mit Schulkindern oder in entsprechende Weiterbildungs-Veranstaltungen für Heimköche oder in der menschenwürdigen Obdachlosenspeisung weitaus besser aufgehoben gewesen, aber all diese Dinge kann man nicht in der Vorstandssitzung gut vorzeigen, rumreichen, der Gattin daheim als kleines Präsent mitgeben und auch nicht mit dem Schild „Wir sind gute Menschen!“ in Eingangsbereichen von Konzernen in Vitrinen stellen. Da ist so ein Buch schon praktischer.
Unser kulinarisches Erbe: Lieblingsrezepte der Generation unserer Großeltern – mit 94 besonders emotional verwurzelten Gerichten – regional – saisonal – traditionell. von Jörg Reuter, Manuela Rehn (Autoren), Caro Hoene, Joerg Lehmann (Photographen). Becker Joest Volk Verlag, Hilden: 2019; Gebundene Ausgabe: 300 Seiten, 29,95 EURO. ISBN-10: 3954531852, ISBN-13: 978-3954531851