Ende der Achtziger Jahre des letzten Jahrtausends (welch monströser Ausdruck, ich komme mir fast vor wie der untote Graf Dracula bei dem Schreiben solcher Zeitangaben) pflegte ich in einem Schlesischen Offiziershaushalt zu verkehren. Nun gut, der Offizier stammte aus Schlesien, ebenso seine Frau, Wehrmachtssoldat mit Leib und Seele, ich weiß nicht, ob mit Dreck am Stecken oder nicht, geflohen mit Sack und Pack nach dem Kriege, wieder Fuß gefasst in Ostwestfalen-Lippe in sehr bürgerlichen Verhältnissen, Verwaltungsbeamter, auf die alten Tage noch zwei Kinder gezeugt, Haus gebaut, korrekt bis zum Erbrechen und ebenso konservativ-borniert, aber man soll nicht schlecht sprechen über wahrscheinlich längst Tote. In diesem Haus also pflegte ich zu verkehren, nicht etwa wegen der unvermeidlichen Geschichten von der Ostfront sondern – guess what – wegen der ausgesprochen liebreizenden Tochter des Hauses, gleichwohl uns der Hausherr das Liebesleben moralinsauer so schwer als nur möglich zu machen trachtete, weitgehend erfolglos, zum Glück, aber darum geht es hier gar nicht.
Als Gast des Hauses durfte ich auch die echte schlesische Küche kennenlernen: grausame Gerichte wie muffigen Karpfen in süßer Lebkuchensauce, fetten Mohnkuchen, fettes Schweinefleisch mit Backobst gekocht (Schlesisches Himmelreich geheißen, für mich war es eher die Hölle) oder Grütz- und Blutwurst … der geneigte Leser mag ahnen, wie liebreizend die Tochter des Hauses gewesen sein mag, dass ich dies für sie ertrug.
Jedoch auch darum geht es hier nicht. Worum es hier geht ist die Tatsache, dass die Dame des Hauses in besagtem Schlesischen Haushalt stets und immer zu jeder Mahlzeit ein Gedeck mehr auflegte als Personen zu Tisch erwartet wurden, und sie kochte auch immer eine Portion mehr. Anfänglich dachte ich noch, Gäste hätten kurzfristig abgesagt und so erklärten sich das Gedeck und die Portion zu viel. Bald aber bemerkte ich, dass dies konsequent zu jeder Mahlzeit der Fall war, und so traute ich mich, nach dem Grund zu fragen. Die Schlesier waren erstaunt, ob ich das denn nicht wisse und ob dies bei mir daheim nicht ebenso gemacht werde; ich musste verneinen, was mir sehr böse Blicke einbrachte und wohl eine erneute Bestätigung war, dass ich für das Töchterlein gewiss nicht der Richtige sei. Das überzählige Gedeck und die überzählige Portion, so wurde ich belehrt, seien für Jesus gedacht, damit man vorbereitet sei, sollte er einmal überraschend zum Lunch vorbei schauen. Und sollte Jesus gerade nicht unangemeldet vorbeikommen – was meistens, im Nachhinein betrachtet eigentlich immer der Fall war – so seien überzähliges Gedeck und Portion gedacht für den verirrten Wanderer oder Bettler. Und sollten sich weder Jesus noch Wanderer noch Bettler einfinden, so könne man die Portion ja immer noch am nächsten Tag irgendwie weiter verwerten (niemals wären hier Lebensmittel weggeworfen worden, und so gab es in dem schlesischen Haushalt oft sehr kreative Vorspeisen, Eintöpfe, Pasteten und sonstige typische Resteverwertungen).
Ich weiß nicht, ob dies tatsächlich eine echte Schlesische Sitte oder nur eine singuläre Marotte in dem besagten Haushalt war, aber eigentlich eine sehr, sehr schöne, lobens- und liebenswerte Gewohnheit. Jesus ließ sich, wie gesagt, eher selten blicken, aber wenn überraschend ein Gast kam, wenn wir unangemeldet einen Schulkammeraden mitbrachten, immer war schon für ihn gedeckt und er wurde wie selbstverständlich an den Tisch gebeten; und wenn Bettler an der Tür um Essen baten (auch so etwas gab es noch in den Achtzigern, tatsächlich hungrige Menschen, die an den Haustüren demütig um Brot bettelten, und nicht wie heute Bargeld frech einfordernd, damals gab man noch gerne), so wurden diese zwar nicht an die Tafel gebeten (wo kämen wir denn da hin, als nächstes sollen wir ihnen dann vielleicht auch noch die Füße waschen?!), doch die zu viel gekochte Portion wurde ihnen gerne und auch wie selbstverständlich gegeben.
Bei allen Schwächen, Unarten, vielleicht sogar Schlimmerem, die diese Schlesier hatten, die konsequente Nummer mit Gedeck und Portion zu viel, das war echte Caritas, lange bevor sie Benedict in seiner Enzyklika „Deus caritas est“ beschrieben hat, und zweifelsohne wertvoller als jede steuerlich absetzbare, schnelle, anonyme, singuläre Geldspende heute.