Es gibt Träume, die setzt man besser nicht in die Realität um, sondern lässt sie getrost Träume bleiben. Der Besuch des Grandhotels Heiligendamm ist solch ein Traum, der besser einer geblieben wäre. Ich kannte dieses schlafende Juwel schon aus Wendezeiten, als es traurig, verheißungsvoll, begierig-geduldig auf neues Leben wartend am Ostseegestade vor sich hingammelte. 25 Jahren sind zwischenzeitlich in’s Land gegangen, deutlich neunstellige Beträge wurden investiert mit unendlich viel Leidenschaft, Geldgeilheit, Konzeptlosigkeit, Herzblut, Naivität, Idealismus, Dummheit furios in den Pommerschen Sand gesetzt, Staatschefs tagten, Geheimdienste schirmten, Gutmenschen protestierten, Medienkarawanen berichteten, allein PR-Wirkung und kritische Masse blieben aus, Investoren schwitzten, Betreiberketten gerieten in’s Gerede, dann die – unvermeidliche? – Insolvenz, schließlich der Weiße Ritter, der mit gezückter Börse wild entschlossen auf der Haloren-Kugel daher geritten kommt.
Was ist dieses – zwischenzeitlich durchaus legendäre – Grandhotel Heiligendamm eigentlich, wenn man es einmal sine ira et studio betrachtet. Lassen wir die ganze Vorgeschichte der „Weißen Stadt am Meer“ mit Zaren, Dichtern, Diktatoren, Admirälen und schließlich Werktätigen einfach mal außen vor. Heute präsentiert sich das Hotel zweifelsohne als liebevoll und aufwändig – um nicht zu sagen: protzig – renoviertes Schmuckstück der Ostsee-Bäderarchitektur. Der ganze Zinnober ist da: pompöse Halle (das obligatorische verschwenderische Blumen-Bouquet in den Hallen der Fünf-Sterne-Schuppen fehlt allerdings, das dafür vorgesehene Brünnlein sieht reichlich verwaist aus – dem geneigten Gast durchaus aufgefallen), mit Namen und Titel beim Einchecken begrüßt (kleines Rezeptionisten 1X1), allerdings waren Wagenmeister und Page abgängig („Die Kollegen sind wohl gerade unterwegs …“ – Mumpitz, es scheint sie nicht zu geben, zumindest im Winter, der Concierge musste statt dessen auf explizite Nachfrage ran und den Boliden parken), großes Zimmer, Marmor verschwenderisch im Bad, tolle Matratze, super Licht-Design, schmeichelnde Bettwäsche, der komplette Kosmetik-Krims-Krams, Blick auf die Ostsee, Flachbildschirm (in einer Größe und Auflösung, wie ich die Dinger meinen Jungs vor 5 Jahren in’s Kinderzimmergestellt habe – mäßiger Investitionszyklus, ebenfalls aufgefallen), alle Sky-Programme for free, flauschige Bademäntel, halt der gesamte Fünf-Sterne-Zinnober in Vollendung. Das Personal dazu ist zahlreich, bestens geschult, zuvorkommend, höflich, diskret, durch die Bank weg sehr jung, tadellos halt.
Aber: beim Betreten des Zimmers roch es nach Kloake, nur leicht, aber wahrnehmbar. Ich sprach die Rezeptionistin, die mich aufs Zimmer geleitet hatte, darauf direkt an, sie leugnete noch nicht einmal, ja, das sei ein Problem, sie rieche es auch, man arbeite daran, aber … sie werde sich natürlich sofort um ein neues Zimmer kümmern … Junge Frau, das kriegen Sie kaum richtig raus in alten Häusern, selbst wenn man im Haus die Rohrleitungen komplett erneuert, wenn es von unten reindrückt … Das sind so Unstimmigkeiten, die sich fortsetzen. Allein die Architektur der Hotelanlage ist wunderschön – und ziemlich doof. Das Grandhotel besteht nämlich aus drei separaten, nicht miteinander verbundenen Gebäuden. Im Sommer vielleicht kein großes Problem, im Winter schon ganz schön dämlich, bei Regen im Bademantel über den Parkplatz in’s Nachbarhaus zum SPA zu stapfen oder in das andere Gebäude zum Restaurant. Und statt die Verbindungsfläche zwischen den Gebäuden wenigstens nett als Park oder mit Laubengängen zu gestalten ist die komplette Fläche asphaltiert und dient als Parkplatz; auch die Nicht-Seeseite-Zimmer, euphemistisch „Park-Zimmer“ genannt, sind eigentlich weitgehend Park-Platz-Zimmer — ja geht’s noch? Und die „Weiße Stadt am Meer“ selber: nicht existent. Links und rechts vom renovierten Grandhotel und der im historischen Stil neu erbauten Villa Perle (wird von Engels & Völkers courtagefrei – eine nette Umschreibung für Ladenhüter – wohlfeil geboten) stehen entlang der Seepromenade vielleicht ein Dutzend alter, wunderschöner Villen im Stil der Bäderarchitektur, allesamt heruntergekommen, unrenoviert und unbewohnt, dahinter noch ein großes Sanatorium und ansonsten ist Heiligendamm ein verschlafenes Kaff mit ein paar Einfamilienhäusern im tristen DDR-Stil und Plattenbauten. Mir wäre kein anderes Restaurant aufgefallen, keine Kneipe, kein HO-Laden, kein Kiosk, kein anderes Hotel, die touristische Infrastruktur scheint sich auf das Grandhotel zu beschränken. Die Strandpromenade – naja, ein Weg am Wasser halt; die Seebrücke im Vergleich mit anderen Ostseebädern eher mickerig; der Strand selber schmal, dreckig, dunkler Sand, verbaut durch Bunen – selbst in Warnemünde vor Rostock ist der Strand schöner; kein Strandcafé, keine Buden, kein nix. Der Ort wäre sicherlich ideal, wenn sich – wie einst – die Reichen und Schönen hier abgeschieden treffen wollten – aber die wollen ja anscheinend nicht. Und dann sind da noch die mit der Molli (eine romantische Dampfeisenbahn) von Doberan angereisten Touristengruppen, die die triste Strandpromenade entlang schlendern, um Grandhotel und Grandhotel-Gäste zu gucken; und die ganz Kecken unter ihnen überwinden sogar noch den Zaun und mischen sich – empörend! – unter die illustren zahlenden Grandhotel-Gäste.
Ein kurzes Wort zum Futter: das Frühstücksbuffet ist übervoll, alles, was man erwarten kann, ist da (aber es gibt industrielle Backlinge statt frischer Bäckerbrötchen), über-reichlich, nett angerichtet, Silber, Porzellan, keinerlei Plastik. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass die paar Leutchen, die ich im Hotel wahrgenommen hatte, diese Unmengen von Lebensmitteln bei einem Frühstück essen könnten, und mich beschlich das schlechte Gefühl der Verschwendung. Zum Dinner hatte ich mich eigentlich schon lange auf Ronny Siewert in seinem hauseigenen Gourmet Restaurant Friedrich Franz gefreut, nur das ist im Winter leider geschlossen. Statt dessen sah ich dann beim Abendessen in der Nelson-Bar mit Grausen, dass die Karte ein „Clubsandwich“ anbot – mit Edamer Käse und Kochschinken; nach einigen 100 Clubsandwiches in zahllosen Hotels kann ich mit Gewissheit sagen, dass Edamer und Kochschinken aber überhaupt nichts auf einem Clubsandwich verloren haben, und da verstehe ich keinen Spaß. Das „Steak Tartar“ mit „Klassischen Beilagen“ kam daher mit gekochtem gehacktem Eigelb, ohne Sardelle und Cornichon, dafür mit Schnittlauch (?), und Ei, Zwiebel und Kapern gebettet auf einem optisch hübschen Streifen von Basilikumpesto mit zwei frechen Crème Fraîch-Tupfen links und rechts. Dieses maniristische Fooddesign hatte allerdings zur Folge, dass das gesamte Tartar nach dem Anmachen penetrant nach Basilikum schmeckte, und ich könnte mich nicht erinnern, dass dies „klassisch“ wäre. Als ich zusätzlich um Worcestershiresauce und Tabasco bat, wurde mir beides formvollendet in kleinen Porzellanschalen mit Silberlöffeln auf einem silbernen Tablett gereicht; von beiden Würzsaucen nahm ich ein Löffelchen über mein Tartar, die Reste – ich schätze 1 bis 2 cl – müssen dann wohl entsorgt worden sein. Auch hier beschlich mich wieder das Gefühl der Verschwendung: Superbia, Luxuria und Gula – drei von sieben Todsünden in einem, nicht schlecht. Aber die Martini-Cocktails sind – bis auf die Tatsache, dass es kein kaltes Bareis gibt – sehr ordentlich, die Gin-Auswahl gut und der Barkeeper versteht sein Handwerk.
Summa summarum: ein wunderschönes Ensemble am Meer, ausgestattet mit dem kompletten Fünf-Sterne-Schnickschnack in ziemlicher Perfektion, vielleicht auch im Überfluss, dazu einige architektonische Dysfunktionalitäten, keine spektakuläre Natur, kaum touristische Infrastruktur, nix los. Bei aller Vollkommenheit und Perfektion „menschelt“ es nirgends, es „geldelt“ nur überall: kalt. Würde mir jemand das Grandhotel Heiligendamm heute schenken wollen, ich wollte es nicht haben. Als wirtschaftliches Unternehmen könnte es funktionieren, wenn man die kritische Masse an Reichen und Schönen zusammen bekäme, aber dazu hat das Haus zu viele „Macken“. Als Tagungshotel liegt es zu abseits und man wäre in einem oft ruinösen Preiswettbewerb. Und Massentourismus im Drei- oder Vier-Sterne-Segment könnte – selbst bei Vollauslastung – wahrscheinlich niemals die Amortisationen zahlen. Wenn jemand das Geld hat, sich das Grandhotel als Liebhaberei zu leisten, Gratulation, ich gönne es ihm, und Danke, dass man als Gast quasi vom Besitzer gesponsert wird. Dass man mit dem Schuppen wirklich Geld verdienen kann, bezweifele ich.