Starnberger See, da denkt ein jeder erst einmal an Starnberg, Münchner Protz-Porsche auf Wochenend-Spritztour im Stau, überteuerte Schicky-Micky-Lokale mit mehr oder minder miesem Essen und Seeblick, Familien-Schiffsfahrten mit Tante Erna, Kaffee, Kuchen und anschließendem See-Promenaden-Flanieren, Stadtverwaltungen und Landratsämter ohne Wartezeiten für den besser betuchten Bürger, festungsartig eingezäunte Seegrundstücke mit verbarrikadierten Großkopferten-Villen im Wert von vielen, vielen Millionen, chaotisch zugeparkte Straßen rund um die öffentlichen Badeplätze, und vielleicht denkt der eine oder andere noch an ersäufte Märchenkönige, das war’s in der Regel dann schon auch, zum Stichwort Starnberger See, und dass Hubert und Staller nur kitschiger Retorten-Heimat-Abklatsch sind, das weiß auch ein jeder.
Denkst‘e, der authentische, urtümliche, echte Starnberger See existiert auch noch, im Verborgen, versteckt, vielleicht nur für Verrückte zu finden, um Hermann Hesse zu zitieren. Da gibt es einen Ort namens Münsing, auf halbem Wege zwischen der A95 und dem Starnberger See über das Kreissträßchen TÖL1 erreichbar, ein hübsches, properes Bauerndörfchen, mit barockem Kirchlein, Altem Wirt, Kaufladen, Bank und Tennisverein, die Schachfiguren des großen Bodenschachs am Dorfplatz werden des Nachts nicht verschlossen, weil sie eben nicht von Vandalen verschmissen werden, idyllisches oberbayrisches Dorfleben halt, etwas abseits vom See noch immer arschteuer, aber für südliche Münchner Verhältnisse doch relativ wohlfeil, dazu noch verkehrsgünstig nahe der Autobahn gelegen, für München-Pendler, auf dem Lande leben und Miete zahlen wie auf dem Lande, in der Stadt arbeiten und Gehalt bekommen wie in der Stadt, und dazwischen im Stau stehen. Aber um Münsing selber geht es hier gar nicht, es geht um einen Ortsteil von Münsing, zwei Kilometer weiter östlich, nur über ein kleines Sträßchen erreichbar, direkt am Ufer des Starnberger Sees, Ammerland geheißen (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Landkreis in der Oldenburger Geest) und wahrlich verwunschen. Die Stadtfräcke mit ihren Münchner Autokennzeichen sind hier nicht omnipräsent-dominant, es gibt keine Großparkplätze, genau genommen gibt es noch nicht einmal Parkplätze, die Sträßelchen sind schmal, kurvig, eng, oftmals jämmerlich eng, es gibt noch echte Landwirtschaft, hübsche Bauernhöfe, ein Gasthaus direkt am See ohne Webauftritt, ein paar Fischer, die tatsächlich noch im Starnberger See fischen und ihren Fang frisch oder geräuchert feilbieten, bei einigen kann man die fischige Ware und selbst gebackene Kuchen gleich im Garten hinter dem Haus verzehren, den Gemischtwarenladen aus Hubert und Staller gibt’s hier tatsächlich, heißt Bäckerei Graf und ist eine Bäckerei, wo man noch selber bäckt und nicht nur polnische Backlinge aufgebacken werden, das prächtigste Gebäude am Ort ist das Schloss – Schlösslein wäre das bessere Wort – des Grafen Franz Ludwig Evarist Alexander von Pocci, Zeremonienmeister von Ludwig I. von Bayern, seit 1847 Hofmusikintendant und seit 1864 königlich bayerischer Oberstkämmerer, aber besser bekannt als der Kasperlgraf, denn Pocci schrieb – soweit ich weiß – 48 Kasperlstücke um seine Hauptfigur, das Kasperl Larifari, keinesfalls eine problemlose, lustige, schöne Seele, sondern ein sehr zwiespältiger Charakter, ein selbstverliebter, wortgewandter Blender, der auch schon mal einen Sultan totschlägt, vielleicht ein Vorgänger von Eddy Murphy als Beverly Hills Cops, nur düsterer, die Nachkommen dieses Larifari leben heute mannigfach in Starnberg. Aber offensichtlich nicht mehr in Ammerland, aber das preußische Urgestein Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow alias Loriot wohnte hier seit 1963 bis zu seinem Tode, und er wusste, warum. Die Häuser direkt am See sind meist einfacher, eher Düsseldorfer Wohnsiedlungs-Stil als Luxus-Villen, die Grundstücke mit uraltem Baumbestand sind nicht verbarrikadiert und vermint, dahinter geht ein Fahrweg lang, mehr Weg als Straße, nur mit schriftlicher Sondergenehmigung für Anwohner und Besucher befahrbar, und wer sich ohne diese Sondergenehmigung auf dieses Weglein traut, der löhnt richtig Strafe. Man ist unter sich.
Mit einem Male wird das Leben hier beschaulich, selbst die paar Wochenendausflügler aus München können diese Beschaulichkeit nicht stören, sie diffundieren quasi in den Eingeborenen. Und die Eingeborenen scheinen ganz tiefenentspannt im Hier und Jetzt, was wohl auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass ein jeder, der hier auch nur ein Stücklein Land sein Eigen nennt, per se Multi-Millionär ist, sowas trägt ungemein zur Entspannung bei. In Starnberg, da will man möglichst viel scheinen, ist aber meist nichts; als Ammerländer, da ist man einfach viel und hat es nicht nötig, irgendwie zu scheinen, fährt Volkswagen, trinkt Aldi-Rosé und springt vom eignen See-Grundstück in’s Wasser, bevor man nach Usbekistan zur mehrwöchigen Bike-Tour startet, kein wirklich schlechtes Konzept.
Auf dem Weg nach Ammerland fallen die selbst gemachten, großen Tafeln überall auf den Wiesen vor den Dörfern im weiten Umkreis auf: Waldfest, Trachten-Treffen, Dorfkirmes, Tanzabend, Sportler-Treffen, Schützenfest, Oldtimer-Traktoren-Rallye, Feuerwehrfest, … offensichtlich sind hier an jedem Wochenende mehrere lokale Veranstaltungen, zu denen man gehen – bzw. angesichts der ländlichen Entfernungen fahren – kann. Es gibt zwar keine Discos, Tanzpaläste und Vergnügungslokale hier, stattdessen organisieren die Eingeborenen ihre Festivitäten anscheinend selber. An diesem Wochenende war Waldfest in Ammerland, zum 52ten Male, organisiert vom Trachtenverein „Seeröserl“ Ammerland-Münsing. Keine Festzelte, keine Fahrgeschäfte, keine Medienkooperation mit Antenne Bayern zum Besucher-Anlocken, kein DJ Kötzi als Top-Act; statt dessen die mit rot-weißem Band abgesteckte Wiese eines Bauern unter einem hübschen Kirchlein in der Pampa zum Parken, ein Tisch auf der Wiese mit ein paar freundlichen Menschen in Tracht, die EURO 2,50 verlangen und dafür ein Ansteck-Fähnchen zurückgeben, dann auf dem Festplatz – vorgestern fraßen und schissen hier gewiss noch glückliche Kühe – Biertische in sechs Reihen, eine Hühnerbraterei, eine Grillstation mit Würsteln, Spießbraten, Nackensteaks, ein Kuchenzelt, in dem heimische Weibspersonen liebevoll und ziemlich gute selbst gebackene Kuchen und Torten für geradezu lächerliches Geld anbieten (meine einheimischen Begleiter belehren mich, dass es der Ehrgeiz der Landfrauen ist, hier ihre leckersten Kuchenkreationen abzuliefern; wenn ein Kuchen nicht so gut geworden sein sollte, so muss die Bäckerin für den Rest der Jahres in Schimpf und Spott gehen, hinter ihrem Rücken stets das Getuschel „Das ist die Huberin, weißt schon, die mit dem spundigen Kuchen beim Waldfest …“), natürlich eine mächtige Bierzapfstation, adjutiert von einem separaten Weißbierstand, dann ein provisorischer Tanzboden und dahinter eine leicht erhöhte Holz-Bühne mit der örtlichen Trachtenkapelle, alle in Tracht samt Seppelhut, mit ganz viel Rums- und auch –tata. Man kennt sich, begrüßt sich in bajuwarischem Idiom, fragt nach dem Befinden und so, aber wo in der Stadt Small-Talk-Langeweile und –heuchelei herrschen, da scheint es hier echte Herzlichkeit und wahres Interesse am Befinden des Anderen zu geben. Statt Videospielen und Karussell stehen Kinder in Lederhosen und Dirndl auf der Wiese brav in der Reihe, um Bälle auf eine Räuberfigur zu werfen, derweil die Alten echt bayrisch an Biertischen hocken, große Humpen Bieres trinken und plaudern. Die Speisekarte ist mehr als überschaubar – aber frisch zubereitet: Bratwurst, Grillfleisch, Rollbraten, Hendl, von EURO 4,80 bis 8,20, die Maß dazu EURO 6,80, das ist alles tatsächlich wohlfeil … und nicht einmal schlecht, ordentliche Ware halt, die Hähnchen sind saftig, die Haut resch, auf dem Oktoberfest zahlt man meist viel mehr für viel schlechteres Zeugs. Und Buger, Kebap, Flammenkuchen und anderes internationalistisches 08/15 Mainstream-Futter gibt’s hier schon gar nicht, auch Vegetarier tuen sich hier sehr, sehr schwer. Das ist Dorffest. Die örtliche Rumstata-Band mit Seppelhut spielt unablässig – fast wünschte man sich, die Pausen wären länger – heimische Rumstata-Weisen. Dann kommen die eingeborenen Kleinen – meist Mädels, ebenfalls alle in Tracht, keine zehn Jahre alt, angeleitet und reglementiert von einer Glucke – und legen einen kindlichen Trachtentanz auf’s Parkett, bejubelt und vor allem Handy-gefilmt von den elterlichen und großelterlichen Zuschauern. Später rücken dann die vielleicht +/- zwanzigjährigen Burschen an, natürlich in Tracht , hüpfen nach dem Takt der Rumstata-Musik umher und schlagen sich dabei rhythmisch und laut klatschend auf Waden und Schuhsohlen, man heißt es Schuhplattler, irgendwann stoßen dann auch Weibspersonen im heiratsfähigem Alter in Tracht dazu auf den Tanzboden und wiegen sich mit im Rhythmus des Rumstatas, allerdings ohne sich auf Waden und Schuhsohlen zu schlagen (gleichwohl die damit verbundenen Körperverrenkungen interessante Einblicke unter besagte Dirndl gewähren könnten …). Das Alles ist authentisch, ehrlich, unverfälscht, unvermarktet, hier feiert die heimische Dorfbevölkerung sich selber, der externe Gast ist willkommen, sogar herzlich willkommen, er stört nicht, solange die Einheimischen deutlich in der Überzahl sind, und – bei Gottfried – das sind sie, selbst ein Neger in Lederhose flaniert freundlich aufgenommen durch das Tableau. Den ganzen Abend ist da ein Rums und ein Tata, das Bier fließt tatsächlich in Strömen, unablässig herbeigeschleppt von freundlichen Mädeln und Jungs – natürlich in Tracht –, später am Abend gehen sie auch mit Schnapsflaschen herum und schenken Stamperl direkt am Tisch für kleines Geld aus, an den Grillen schwitzen und feuern und grillen die Griller, der Bierzapfer zapft unablässig Bier, die Landfrauen stehen im offenen Zelt hinter ihrer Torten-Phalanx. In der Dämmerung geht man dann ein paar Schritte auf einem ausgetretenen Trampelpfad – jeder Arbeitsschützer würde hier die Krise bekommen – den Berg hinauf, in den Wald, dort steht die sogenannte Schnapshütte, ein einfaches Holzhaus mit L-förmigen Tresen über zwei Wände, dahinter wieder junge Mädel in Tracht, die einheimische Schnäpse und den Münsinger Jahrgangssekt halb-trocken 2017 vom berühmten Sekthersteller Getränke- u. Gartenmarkt Münsing Graf GmbH ausschenken. Dazu stinkt es in der ganzen Hütte erbärmlich nach Käse, der hier gewürfelt auf Tellern feilgeboten wird, ein ganz ein seltsamer Ausschnitt des Lebens. Aber nach den diversen Maß Bier am Nachmittag, einem Gläschen Münsinger Jahrgangssekt, zwei Stamperln Willi und dem Stamperl Hirschkuss, den der freundliche Tischnachbar unbedingt noch ausgeben muss, zerfließt alles ohnehin in eine surreale Dali-Welt mit Käsegeruch.
Hier ist das Dorf noch Dorf, Gemeinschaft noch Gemeinschaft, die Preis-Leistungs-Verhältnisse sind mehr als reell, hier werden keine großkopferten Stadtfräcke und Legionen durchreisender Touristen gastronomisch und anderweitig abgezockt, hier wird lebendige Gemeinschaft praktiziert, fröhlich, ungezwungen, authentisch, unkommerziell, traditionsverbunden, und wenn ich hier despektierlich von Seppelhüten und Rumstata spreche, so ist das vielleicht auch ein wenig der Neid, solch eine Heimstatt nicht zu haben, sondern immer nur Gast, Fremder zu sein …