Beim Aufräumen meiner Festplatten während der Feiertage fand ich ein altes Text-Fragment von mir, das ich 1998 – vor fast einem viertel Jahrhundert – geschrieben habe. Cem Özdemir sammelte damals gerade fleißig als Bundestagsabgeordneter auf Dienstflügen privat genutzte Bonus-Meilen bei der Lufthansa und musste in Folge als innenpolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion zurücktreten, Annalena Baerbock stand kurz vor dem Beginn ihrer Ausbildungs-Geisterfahrt. Einiges von dem, was ich damals schrieb, würde ich heute noch weder so sehen noch so formulieren, doch zum Tenor des Textes stehe ich bis heute, und nein, ich werde Herrn Özdemir jetzt nicht des Plagiats zeihen:
„Vielen Mitmenschen – ich wage die Schätzung, daß sie nahe an der Fünfzig-Prozent-Grenze sind – ist sowohl was sie essen als auch wie sie es essen relativ schnurzpiepegal, obwohl sie ökonomischen und logistischen Möglichkeiten hätten, sich anders zu verhalten. Ich spreche hier explizit nicht vom Bafög-Studenten, Sozialhilfeempfänger, Altersarmut-Rentner, ich spreche von dem Gros der Normal- und Besserverdiener, die nicht jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen. Es beginnt bereits beim Einkauf. Bedenkenlos und ohne Not wird von diesen Menschen nur das Billigste gekauft (und das gesparte Geld lieber in ein größeres Auto oder noch einen Urlaub investiert). Jedem Käufer von billigen Batterie-Hühner-Eiern sollten die militanten Tierschützer an den Hals gehen. Denn die Käufer sind die wahren Schuldigen für das Elend der Tiere, nicht die Erzeuger. Wenn ein Bauer monatelang auf seinen artgerecht erzeugten Eiern und Hähnchen sitzenbleibt, weil industriell produzierte Eier und Hähnchen einfach billiger sind und daher mehr gekauft werden, so habe ich Verständnis dafür, wenn der Bauer ebenfalls auf die preiswertere industrielle Produktionsmethode umsteigt und lieber Hühner-Batterien baut statt Bankrott zu machen. Würde niemand Batterie-Eier kaufen, würde sie auch niemand produzieren. (Ganz so einfach ist es leider nicht, denn was ist mit all den eierhaltigen Fertigprodukten wie Teigwaren, Gebäck oder Likör; ich würde mir auch hier eine Garantie wünschen, daß sie mit Eiern aus artgerechter Haltung hergestellt wurden.) Was für Eier und Tiefkühlhähnchen gilt, gilt natürlich auch für geschmackloses Fleisch, Treibhaustomaten, gepanschten Wein, Schaumgummibrot und so weiter; noch unübersichtlicher wird es bei Fertigprodukten aus der Tiefkühltruhe, in Dosen oder in Tüten, denen neben billigsten Lebensmitteln auch Sägemehl, Läuseeier, Schweineblut usw. sowie natürlich alle Segnungen der modernen Geschmackschemie beigemischt sind.
Die Lebensmittelindustrie, die sich dumm und dämlich verdient (Anm. 2022: die Nestlé-Aktie z.B. stieg von 1998 bis heute von 20 auf 120 EURO), ist nur Erfüllungsgehilfe jeder dumpfen Schar von Allesfressern. Niemand möge mir erzählen, eine allmächtige diktatorische Wirtschaftsmacht habe ihn gezwungen, industriell produzierte und denaturierte Lebensmittel zu kaufen; niemand von den Normal- und Besserverdienern möge sich darauf hinausreden, sein Geld habe zu nicht für Eier aus artgerechter Haltung gereicht (das gilt natürlich nicht für eine Familie, die von Sozialhilfe lebt oder für einen alten Menschen mit einer Mini-Rente, die vor der Wahl stehen industrielle Eier vs. gar keine Eier; das ist ein ganz anderes soziales Problem, sollte Bürger geben, die sich „das gute Zeugs“ leisten können und Bürger die den „industriellen Dreck“ bekommen, das kann es auch nicht sein; meine Kritik gilt hier ausschließlich denjenigen, die es sich leisten könnten und es doch nicht tun.); und niemand möge sich damit entschuldigen, es gäbe ja gar nichts anderes mehr zu kaufen (vielleicht muß man sich ein wenig anstrengen, aber es gibt (fast) immer Alternativen). Für die Allesfresser muß es billig, praktisch, viel, sättigend und vielleicht manchmal noch halbwegs gesund sein, ansonsten ist es ihnen egal, was sie fressen und wo es herkommt. Sie verrichten auch bei Tisch ihre Nothdurft, sofern sie überhaupt noch an einem Tisch essen. Nicht nur die Art, Herkunft und Zubereitung der Speisen sind den Allesfressern gänzlich egal, sondern auch die Weise, in der sie gegessen werden. Tischkultur wird mehr und mehr zum Fremdwort: der Tisch als Kommunikationszentrum für Familie und Freunde, die große Wohnküche oder das separate Eßzimmer, das gemeinsame Mahl als gemeinschaftsstiftende und –festigende Institution, Tischwäsche, Geschirr, Besteck, Tischschmuck: all dies gilt den Allesfressern nichts. Morgens eine Tasse Kaffee im Stehen, das hastige Essen in der Kantine, abends eine aufgewärmte Dose oder Tiefkühlpizza rasch runtergeschlungen, selbst die innenarchitektonische Ästhetik internationaler Bulettenbraterketten schreckt diese Leute nicht, und wenn sie essen gehen, so soll es möglichst eine „Erlebnisgastronomie“ sein, die neben dem – unwichtigen – Essen möglichst viel Ablenkung und zusätzliche Reize bietet.
Nun könnte man natürlich der Meinung sein, daß jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle und daß die Polemik eines kulinarischen Genußmenschen gegen einen anderen, der seinen Genuß eben aus anderen Quellen zieht als der Kochkunst, gänzlich unangebracht sei. (Im Übrigen glaube ich nicht daran, daß jemand, der keine Lust am Essen hat, aus irgendetwas anderem Genuß gewinnen könnte; dies gilt insbesondere für die sogenannten Asketen, die mir schon immer suspekt waren.) Man könnte der Meinung sein, daß nicht der Allesfresser zu wenig Wert auf sein Essen, sondern vielmehr der Gourmet viel zu viel Wert auf sein Essen lege. Man könnte schließlich der Meinung sein, beide Gruppen sollten sich vertragen und jeder in Ruhe sein Ding machen. All dies könnte man, wenn die Kaste der Allesfresser sich nicht ständig an der Natur versündigte und wenn sie die Genußmenschen nicht ständig einschränken würden.
Erstens: das Wesen des Allesfressers ist contra deum et contra naturam. Regenwälder, die zum Behufe der wohlfeilen Rinderzucht abgeholzt werden, gequälte Batteriehühner, überdüngte Böden, Milliarden Tonnen von Cerosin und Benzin für das weltweite Hin- und Herkarren immer billigerer Lebensmittel, all das hat nicht der Gourmet zu verantworten, sondern der Allesfresser. (Anm. 2022: Dies würde ich heute angesichts von Weinen aus Chile, frischem Maine-Hummer und Flug-Mangos für die Feinschmecker-Kaste nicht mehr so sehen.) Weil dem Allesfresser essen nichts bedeutet, sucht er immer das billigste Angebot. Und eine wildgewordene Lebensmittelindustrie befriedigt prompt und gewinnträchtig diese Nachfrage mit ihren weltweiten Aktivitäten. Wäre der Allesfresser bereit oder gezwungen, nur Lebensmittel zu kaufen, die aus halbwegs natürlicher Produktion stammen und die mit vernünftigem Aufwand hergestellt wurden, so stiegen die Preise natürlich zuerst einmal deutlich. Gleichzeitig aber würde die unersetzbare Ressource Natur entlastet und die Mitkreaturen geschont. Schließlich kämen internationale Lebensmittelmultis ziemlich ins Schleudern, und wahrscheinlich würden auch zahlreiche neue-alte Arbeitsplätze (wieder) geschaffen. Und höchstwahrscheinlich würde die Allesfresser-Kaste noch ganz erheblich ihre Gesundheit verbessern, aber das interessiert mich nur insofern, als daß ich ihre ernährungsbedingten Krankheiten mit meinen Krankenkassenbeiträgen mitfinanzieren muß.
Zweitens: der Allesfresser belästigt und behindert den Genußmenschen. Früher einmal, in der guten alten Zeit, da war das Lebensmittelangebot zwar geringer als heute, aber deutlich besser. Tomaten gab es nur im Spätsommer, aber sie schmeckten noch nach Tomaten, Fleisch schmorte beim Anbraten nicht plötzlich im eigenen Saft auf die Hälfte zusammen, und Kartoffeln waren weder süß noch voller schwarzer Stellen. Die Befriedigung der Nothdurft Essen, deren einzige Kriterien Preis und Bequemlichkeit sind, hat diese einstmals real existierende Produktionsweise radikal zerschlagen; sie hat sie nicht zurückgedrängt oder eingeschränkt, sondern nahezu gänzlich zerschlagen. Das ökonomische Überleben zwang die Erzeuger, auf industrialisierte, unnatürliche Produktionsmethoden umzusteigen, und wo das die einheimischen Erzeuger nicht taten, wurden sie durch wohlfeile, herbeigekarrte Produkte aus dem Ausland verdrängt. Die Folge ist, daß das Lebensmittelangebot trotz scheinbarer Ausdehnung – 23 Sorten von Frühstücksflocken in einem Supermarktregal – qualitativ und geschmacklich immer eintöniger und reduzierter wird; eine durchgängige Versorgung mit richtigen Lebensmitteln ist nur noch in ganz großen Städten, in unmittelbarer ländlicher Nähe zu einem Erzeuger oder durch teuren Eigenimport sicherzustellen. Der Wiederaufbau einer kompletten flächendeckenden Versorgungskette von Erzeuger, Kontrolle (!), Logistik und Distribution wird Jahrzehnte dauern.“