Tim Cole, der Internet-Publizist, hat ein kleines Essay auf Linkedin veröffentlicht; darin schreibt er, dass er selber ganz gemäß Wolfram Siebeck ein Einfamilienhaus in Restaurants verfressen hat und dass die Qualität der Restaurant-Kritiken auf tripadvisor einem „Prosa-Rülpser“ gleich käme. Ersteres muss Tim Cole selber wissen, bei Zweiterem kann ich ihm nur zustimmen. Auf dieses Essay antwortet ebenfalls auf Linkedin ein gewisser Daniel Tunys, nach eigener Aussage (copy and paste, daher die Schreibweise) „dt hospitality – Hotelexperte – Owner & Managing Director – Dienstleistungen und Trainings“: „Ja, nicht nur ein Haus bauen, sondern sich einfach aus der Sache raus halten. Wenn man über die Gastronomie/Hotellerie berichten will, muss man selber auf einem gewissen Level auch dort gearbeitet haben. Das haben die wenigsten… Ich bekomme jedesmal einen Hals, wenn ich Berichte von Amateurjournalisten lese und einen größeren, wenn ich die Zahl der Follower sehe – da ist dann einfach nur Kopfschütteln angesagt.“ Das hat mich geärgert, nicht nur, weil hier jemand offensichtlich der Zensur das Wort redet und – als Nicht-Journalist – einen gestandenen, langjährigen Journalisten „Amateurjournalist“ schimpft, sondern auch, weil hier jemand 250 Jahre deutsche Geistesgeschichte komplett verpennt hat. Darüber hinaus sitze ich in der tiefsten Oberpfalz, in einem Dorfgasthaus mit Metzgerei, das von Slow Food über den Grünen Klee gehypt wurde, und das Essen ist echt lausig (mehr dazu an anderer Stelle). Entsprechend gereizt ist meine Gemütsverfassung, und da habe ich folgendes geschrieben:
Der freie Diskurs ist zweifelsohne gut, aber wenn jemand, der sich selber marketingkräftig und/oder profilneurotisch als „Hotelexperte“ bezeichnet, intellektuell in Zeiten lange vor der deutschen Aufklärung zurück fällt, so wäre das einfache Heraushalten aus einer Sache sicherlich die klügere Wahl. Ich zitiere aus Lessings Hamburgischen Dramaturgie (entstanden 1767 – 1769, kurz vor Erfindung des Internets): „Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt: Tadeln heißt überhaupt, sein Mißfallen zu erkennen geben. Man kann sich bei diesem Mißfallen entweder auf die bloße Empfindung berufen, oder seine Empfindung mit Gründen unterstützen. Jenes tut der Mann von Geschmack: dieses der Kunstrichter. Welcher von ihnen muß das, was er tadelt, besser zu machen verstehn? Man ist nicht Herr von seinen Empfindungen; aber man ist Herr, was man empfindet, zu sagen. Wenn einem Manne von Geschmack in einem Gedichte oder Gemälde etwas nicht gefällt: muß er erst hingehen, und selbst Dichter oder Maler werden, ehe er es heraussagen darf: das gefällt mir nicht? Ich finde meine Suppe versalzen: darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen kann?“ Übersetzt in heutige Verhältnisse ist der Mann von Geschmack der gemeine Tripadvisor-User, der Kunstrichter aber der schreibende Einfamilienhaus-Fresser. Keiner von beiden muss dazu jemals in der Gastronomie gearbeitet haben, beide sind Kunden, zahlende Kunden, für die die Küchen- und Service-Brigaden und lohnabhängige „Hotelexperten“ ihre Dienste anbieten, gegen Geld, weder aus Philanthropie noch aus künstlerischen Ambitionen. Und als zahlende Kunden können wir eine – mehr oder weniger fundierte oder bauchgesteuerte, objektive oder subjektive – Meinung zu Qualität von Speisen und Service haben, und solange Trump, Erdogan oder der Islamische Staat in Deutschland nicht das Sagen haben, sollten wir diese auch Kund tun dürfen, ohne uns von selbst ernannten „Hotelexperten“ den Mund verbieten lassen zu müssen. Zugegeben, jede Kritik sollte nicht nur Fakten-basiert sein und ein Mindestmaß an Sachverstand mitbringen (denn sonst sind wir im Kalauerbereich wie z.B. mit dem Manne, der zum ersten Male in seinem Leben echten Kaviar isst: „Alles gut, nur die Brombeermarmelade schmeckt ein wenig nach Fisch.“), sondern auch liebevoll, beseelt (ein großes Wort gelassen ausgesprochen) von der Liebe zu guter Gastronomie, mit Verständnis für zeihliche, singuläre Patzer, mit einem gewissen Wissen um die Mechanismen und Zwänge des Kochbetriebes, mit dem Verständnis für Stress, Leistungsdruck, Enge und unzureichenden Ressourcen in vielen Restaurant-Küchen (in welche wir – für alle, die Escoffiers Guide Culinaire nicht oder nicht richtig gelesen haben sollten – spätestens seit Anthony Bourdain ernüchternde Einblicke haben), aber sie sollte eben auch ehrlich sein. Und „ehrlich“, das ist wieder so eine Sache. „Riesige Schnitzel, Bedienung mit dicken Möpsen und eine grad lustige Musik“, das ist sicherlich ehrlich, sofern die Schnitzel nicht winzig, die Bedienung nicht flachbrüstig und die Musik keine Trauermärsche sind, aber gleichzeitig sind das für mich nicht gerade die Kriterien, nach denen ich meine Restaurants aussuche (eher die Kriterien, nach denen ich Restaurants meide, aber immerhin: ehrlich!). „Der Kaviar von der Körnung her etwas zu groß, nicht wirklich knackig im Biss, mit ganz leicht fischelnder Geruchsnote und deutlich zu warm serviert“, das wiederum sind Kategorien, die den Groß-Schnitzel-Esser gänzlich einen feuchten Kehricht scheren, nach denen andere Leser aber ihre Reiserouten planen und um-planen würden. Um des lieben Friedens willen würde ich hier sagen, dass beide Ansätze – nicht aber die selbsternannter Hotelexperten – ihre intrinsische Berechtigung haben. Der Leser muss halt nur erkennen können, mit welchem Erwartungs- und Kenntnis-Horizont hier kritisiert wird. Und das eben ist heutzutage genau das Problem. Tripadvisor, das ist sicherlich – abgesehen von den imperial-amerikanischen Zensoren – vox populi, vox dei, und nun mag man trefflich streiten über Schwarm-Klug- und –dummheit, ich tendiere hier eher zu letzterem. Dem entgegen bzw. dem lange voraus gab es einmal einen kulinarischen Journalismus, die furiosen Attacken von Altvater Siebeck, dem Häuserverfresser, der heute distinguiert, zornig und literarisch ausgebrannt mit Barbara und der Katze (wie hieß sie doch gleich?) auf Schloss Mahlberg im Breisgau residiert, gegen die mehlschwitzende Soßen-Seligkeit der Wirtschaftswunderrepublik. Schon 1964 kam der Guide Michelin mit seinen unbegründeten, diktatorischen, Gastwirt-Existenzen vergoldenden und vernichtenden Sternen nach Deutschland, 1983 folgte der Gault Millau, wenigstens mit kurzen textlichen Erläuterungen seiner Urteile; daneben – oder gerade in diesem Fahrwasser – war die Restaurant-Kritik ein hoch angesehenes Genre in jeder besseren Zeitung und jedem besseren Magazin. In dieser Zunft tummelten sich die buntesten Paradiesfische, zugegeben, ausgewiesene Kenner und Liebhaber der kulinarischen Künste ebenso wie inkompetente dreiste Schnorrer, Wichtigtuer und Dummschwätzer vor dem Herren (als Student war ich einer von den Letzteren, habe aber trefflich und wohlfeil dabei geschmaust und eine Menge gelernt, aber heute bin ich just ein Kritiker der Elche), denen die Chefredakteure mangels eigener Kenntnis auf diesem Gebiete niemals auf die Schliche kamen und den Schund regelmäßig abdrucken ließen; ich nenne jetzt mal in dieser und in jener Richtung keine Namen, aber ein jeder gehe hier mal in sich und denke nach, welche der ihm bekannten Restaurant-Kritiker er in dieses, welche er in jenes Töpfchen werfen würde. Damals, in den letzten Dekaden des letzten Jahrtausends, waren allein Anbieter-finanzierte Magazine wie Falstaff oder A LA CARTE auf Hurenjournalismus abonniert mit wohlwollenden, scheinbar redaktionellen Artikel gegen – zeitversetzte – Werbeschaltungen oder Budle-Abnahmen; angesichts schwindender Verkaufserlöse prostituieren sich in den letzten Jahren anscheinend auch etablierte Titel wie essen&trinken oder der Der Feinschmecker redaktionell gegen Werbe-Euros. Selbst Kulinarik-Ikonen wie der Guide Michelin kommen heute um Lessing nicht herum; ganz mit dem Hofmaler Conti „Die Kunst geht nach Brot.“, geht heutzutage auch die Restaurantkritik nach Brot. Nicht nur, dass das – unsägliche! – Vapiano Eingang in den Online-Guide Michelin gefunden hat, der Rote Reifen Führer bietet zwischenzeitlich auch bezahlpflichtige PR-Lösungen für Restaurantbesitzer an. Das alles bedeutet nichts weniger, als dass die wahre Restaurantkritik heute am Arsche ist. Jeder kann in diesem liberalen Internet schreiben, was er will, auch wenn er es gar nicht kann, das ist nun mal so. Aber Foren für den gepflegten kulinarisch-literarischen Diskurs gibt es heute kaum noch, wie Cotta’s Kulinarischer Almanach (Diskurs im Diskurs: heutzutage ist es Mode geworden, sich über falsch gesetzte Apostrophe aufzuregen, „Willy’s Würstelstand“, gepostet in einem sozialen Medium mit Photo und bissigem Kommentar kann heute regelrechte Scheißestürme auslösen, aber bei Klett-Cotta, da sagt niemand etwas) oder früher der Feinschmecker, der heute nur noch eine Werbeplattform ist. Und wenn Jan Spiegelhagen, der Chefredakteur von essen&trinken, im Editorial (im Editorial, die Perle und die Quintessenz jeden Magazins!) der Mai-Ausgabe bedeutungsschwer schreibt, dass er anlässlich seines 45ten Geburtstages in München in einem Zwei-Sterne-Restaurant gespeist und auf dem Viktualienmarkt eine Leberkäs-Semmel gegessen hat und dass beides ein Genuss war, dann muss ich doch sehr an die Dame, die durch wiederholte Beischläfe mit Dieter Bohlen und große Brüste eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, denken, die weiland mit dem „Blubb“ für ein Tiefkühlprodukt warb: dieses Editorial ist wahrlich nicht mehr als ein Blubb. Und so steht es heutzutage wohl auch um die literarische Restaurantkritik, generell um den kulinarischen Journalismus. Es gibt sie nicht mehr in Deutschland und wenn doch, so höchstens noch als versteckte Randerscheinung, selbst das ehrbare Liebhaberprojekt Effilee glänzt nun nicht wirklich mit Restaurantkritiken als gehobene journalistische Form. Und das in einer Zeit, in der wohl mehr über Essen und Kochen geschrieben und vor allem gesendet wird als jemals zuvor. Die Zeitschriften-Regale der Supermärkte sind brechend voll mit Koch-Zeitschriften jeder Couleur, die Deppen- ebenso wie die Zwangsgebühren-System-Sender sind voll mit Sendungen mit besternten und unbesternten Popanzen, die sich und ihre Zunft vor laufender Kamera dummschwätzender-dings prostituieren (statt zu kochen), noch nie wurden so viele Kochbücher angeboten, verkauft, recycelt, umgeschrieben, mit einem neuen Einband versehen, wieder angeboten, wieder verkauft wie heute, und im Internet tuen der gemeine Mann und das gemeine Weib auf billion-dollar-things wie tripadvisor und chefkoch ihre unwesentliche Meinungen zum Brühwürfel als solches in grammatikalisch, orthographisch und vor allem stilistisch durchaus bodenständiger Form mit sehr überschaubarer Fachkompetenz millionenfach geklickt werbeträchtig öffentlich kund. Wahrscheinlich wurde noch niemals mehr über Futter generell publiziert, und noch niemals wurde weniger gesagt. Der große Blubb, das war ein Menetekel, das mehr als wahr geworden ist.
Von daher, lieber Tim Cole, ich freue mich, wenn heutzutage jemand wortgewandt, kompetent, launisch, bissig, intelligent, neckend, mahnend, lobend, provozierend, polarisierend – aber immer liebend über den kulinarischen Betrieb und die kulinarischen Genüsse schreibt. Schreibverbote, die sollten wir Erdogan, Trump, dem Islamischen Staat und Hotelexperten überlassen.